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Eine halbe Stunde, ehe der »Yen Hsin« in Kiu Kiang fällig war, traf Doane auf dem unteren Deck eine Gruppe Soldaten Seiner Exzellenz – braune, breitschulterige Männer, malerisch gekleidet in ihre weiten blauen Hosen, die an den Knöcheln zusammengebunden waren, blaue Turbane und graue Patronengürtel; sie standen in der Nähe des Hecks bei einem Stapel Särge beisammen und flüsterten erregt. Als sie ihn erblickten, zerstreuten sie sich.
Im nächsten Augenblick hörte er sich englisch angeredet: »Herr Doane! Bitte!«
Er wandte sich um. Unter der Türöffnung einer der billigeren Kabinen stand ein Wanderhändler, den er auf den unteren Decks schon mehrfach wahrgenommen hatte; ein magerer Chinese mit einem breiten, von einer enganliegenden Haube bedeckten Kopf gleich einem Totenschädel, ohne Fleisch. Die Augen waren hinter einer schwarzen Brille versteckt.
»Kann ich ein paar Worte mit Ihnen sprechen, Herr Doane?«
Der Steuermann überlegte, dann bückte er sich und trat in die winzige Kabine ein. Der Händler schloß die Tür und stieß gelassen den Riegel vor. Dann nahm er die Haube ab und mit ihr auch den Zopf; die Brille folgte, und hinter ihr kamen ein Paar offene, lebhafte Augen zum Vorschein. Und jetzt sah der Kopf ohne die Haube trotz der kurzgeschnittenen schwarzen Haare und des ernsten, gescheiten Gesichts mehr als je wie ein Totenschädel aus.
»Sie werden wohl nichts von mir wissen, Herr Doane. Ich bin Sun Schi-pi aus Schanghai. Ich gehörte als Dolmetscher dem Yamen des Tao-tai an; diesen Dienst habe ich vor einigen Monaten aufgegeben, um mich der republikanischen revolutionären Partei anzuschließen. Bald darauf wurde ich in Nanking verhaftet und zum Tode verurteilt, aber Seine Exzellenz der Vizekönig …«
»Kang?«
»Ja. Er ist hier auf dem Schiff. Er ließ mich frei unter der Bedingung, daß ich nach Japan gehe. Dem Wortlaut nach hielt ich mein Versprechen – ich ging nach Japan –, aber dem Sinn nach konnte ich es nicht halten. Mein Leben ist der Sache der chinesischen Republik geweiht. Daneben ist alles andere gleichgültig. Ich kehrte nach Schanghai zurück und wurde der Befehlshaber derer ›Die den Tod nicht scheuen‹. Wissen Sie etwas von dieser Organisation? Nun, ehe der Winter herum ist, wird sie Ihnen nicht mehr unbekannt sein. In allen größeren Städten ist sie vertreten. Wir werden schon noch von uns reden machen.«
Doane setzte sich auf das niedrige Lager und betrachtete den in Eifer geratenen jungen Mann mit scharfen Blicken.
»Sie sprechen ein merkwürdig flüssiges Englisch«, bemerkte er.
»O ja. Ich habe in Chicago studiert und habe in Tokio meine Examina gemacht.«
»Sie sind sehr offenherzig.«
»Sie sind uns bekannt, Herr Doane. Wu Ting Fang vertraut Ihnen, und Sun Yat Sen, unser Anführer, kennt Sie und schenkt Ihnen ebenfalls sein Vertrauen.«
»Ich habe Sun Yat Sen gekannt, als er Medizin studierte.«
»Er kennt Sie gut und hat uns Ihren Namen genannt. Amerika ist mit uns.«
Rasch überdachte Doane die ganze Sachlage. »Sie bringen sich in Gefahr«, bemerkte er.
Sun Schi-pi zuckte die Achseln. »Ich werde die Revolution kaum überleben«, sagte er. »Das erwarten ›Die den Tod nicht scheuen‹ gar nicht.
»Wenn die Soldaten Seiner Exzellenz Sie hier entdecken, werden sie Sie töten.«
»Die Offiziere natürlich. Von den Soldaten sind viele auf unserer Seite. Jedenfalls ist das völlig gleichgültig.«
»Was ist Ihre Aufgabe?«
»Das will ich Ihnen sagen. Die Revolution, wie Sie sicherlich wissen, ist fertig geplant.«
»Das habe ich angenommen. Es wird so unendlich viel geredet. Und dann der Aufstand in Szetschuen.«
»Der war verfrüht. Es sollte erst im Frühjahr losgeschlagen werden. Unser Führer ist in Amerika und geht noch nach England; er kann frühestens in zwei Monaten wieder in China sein und bringt Geld für jeglichen Bedarf mit. Er ist der Organisator, der führende Genius der neuen Republik. Aber dieser Aufstand in Szetschuen hat viel Verwirrung gestiftet und alle Hitzköpfe in Brand gesteckt.«
»Ich habe sagen hören, der Thron habe Tuan Fang gegen den Aufstand ins Feld geschickt. Aber es fehlen uns die neuesten Nachrichten.«
»Die Telegraphendrähte sind durchgeschnitten. Tuan Fang wird niemals zurückkehren. Wir bezahlen fünftausend Taels für seinen Kopf … Die Mandschu müssen vernichtet werden; so weit ist es jetzt gekommen. Das ist der einzige Ausweg. Aber wir müssen Hand in Hand arbeiten. Ist Ihnen bekannt, daß die Republikaner in Wu Tschang beabsichtigen, sofort loszuschlagen?«
»Nein.«
»Ich bin beauftragt, ihnen zu sagen, sie sollten noch warten. Das ist jetzt unsere ernsteste Gefahr. Schlagen wir zusammen los, dann werden wir gewinnen. Wenn aber unser Eifer mit unserem Verstand durchgeht –«
»Der Thron wird eure Streitkräfte einzeln vernichten und den Geist eurer Anhänger wankend machen.«
»Sehr richtig. Meine einzige Sorge ist, ich könnte Wu Tschang nicht mehr zu rechter Zeit erreichen. Aber« – mit einer sorglosen Handbewegung – »das gehe, wie es geht! Ich will Ihnen sagen, warum ich Sie angeredet habe. Wir brauchen Sie. Unsere Organisation ist selbstverständlich noch lange nicht vollkommen. Ein Punkt von allergrößter Wichtigkeit ist es, daß der Geist, der uns beseelt, vom ersten Anfang an in den fremden Ländern richtig verstanden werde. Das zu vermitteln ist eine Aufgabe, die Sie, Herr Doane, zu erfüllen besonders geeignet sind. Sie kennen sowohl China wie den Westen genau. Sie sind ein Mann von reifem Urteil. Sie hätten gemeinsam mit Doktor Wu Ting Fang in Schanghai zu arbeiten. An Geld fehlt es nicht. Wollen Sie sich das überlegen?«
»Das ist mir ein ganz neuer Gedanke«, sprach Doane langsam. »Das müßte ich sehr ernsthaft erwägen.«
»Aber unsere Ziele haben Ihren Beifall?«
»Im allgemeinen gewiß. Auch wenn ich Ihre Hoffnungsfreudigkeit nicht teilen kann.«
»Sind Sie bereit, sobald Sie nach Schanghai zurückkehren, bei Doktor Wu vorzusprechen und die Sache mit ihm zu überlegen?«
»Ja … ja, das will ich tun. Jetzt muß ich Sie verlassen. Wir sind beinahe in Kiu Kiang.«
Sun blickte zum Fenster hinaus und hob die Hand. Doane sah hinaus; zwei kleine deutsche Kreuzer dampften den Fluß hinauf.
»Sie wissen es schon!« murmelte Sun bedeutungsvoll. »Wollte Gott, ich könnte ergründen, woher sie immer alles wissen! Besonders den Japanern scheint nichts verborgen zu sein. Zwei oder drei amerikanische Kriegsschiffe sind auch schon hier oben, und die Engländer natürlich mit ihrer gesamten Macht.«
»Die Mächte müssen doch die Fremdenkolonie in Hankau schützen. Der Aufruhr in Szetschuen gibt dazu ein Recht.«
Aber Sun schüttelte den Kopf. »Sie wissen mehr!« sagte er. Dann ergriff er Doanes Hand. »Aber das ist Nebensache. Jetzt haben wir Krieg. Und die Ereignisse werden rasch aufeinanderfolgen – rascher, fürchte ich, als wir Republikaner wünschen. Leben Sie wohl! Und nicht wahr, Sie suchen gewiß Doktor Wu auf!«
* * *
Langsam legte der Dampfer an der Landestelle an. Während Doane mechanisch seine Pflichten erfüllte, wanderten seine Gedanken über die Mauern und Türme der alten Stadt ins Land hinein zu Tausenden von andern Städten und Dörfern und Gehöften. Und er fragte sich, ob die vielen Millionen dieser Bevölkerung wirklich aus ihrem sechshundertjährigen Schlaf erweckt und zum Handeln aufgestachelt werden könnten.
Konnte eine Republik diesen Menschen irgend etwas bedeuten? Die Gewohnheit zu dulden, nur so hinzuleben, war allzu tief eingewurzelt. Sun Schi-pi und die seiner Art waren halb westliche Produkte. Sie waren die begeisterten, abenteuerlustigen Jungen, und sie waren eine winzige Minderheit.
Die Trossen waren festgemacht. Plötzlich kletterte ein blaugekleideter Soldat unten über die Reling, lief balancierend über die Trosse am Heck, sprang auf die Hände und war eben im Begriff, unter den Kulis dort zu verschwinden, als ein Schuß ertönte und er zu Boden stürzte. Ein zweiter Soldat, der dicht hinter ihm war, lief ebenso über die Trosse, als auch ihn ein Schuß traf. Er fiel kopfüber ins Wasser, wo sich die Schraube immer noch langsam drehte.
Als sich Doane einige Minuten später unter den Fahrgästen bewegte, wurde ihm klar, daß sie nichts von dem Trauerspiel hinten am Heck wahrgenommen hatten. Alle drängten nur an Land, um in die Eingeborenenstadt zu gelangen und von den Silberarbeiten einzukaufen, für die sie berühmt war. Das schlanke Mädchen in der Matrosenbluse hatte sich augenscheinlich Rocky Kane eingefangen, denn sie schritten zusammen über den Kai. Dawley Kane jedoch blieb behaglich auf seinem Deckstuhl an Bord liegen und horchte nachdenklich auf das, was ihm der kleine Japaner, ein gewisser Kato, zu sagen hatte, der, wie allmählich jedermann wußte, sein Alter ego war, wenn es sich darum handelte, asiatische Kunstschätze einzukaufen.
Von all diesen Leuten wußte niemand etwas von China und kümmerte sich auch nicht darum, dieser Kato ausgenommen. Seine Tätigkeit hier den Fluß entlang erstreckte sich über ein viel weiteres Gebiet, als sein jetziger Auftraggeber jemals erfahren würde. Doane traf ihn beständig unter Deck, wie er lächelnd und immer lächelnd auf chinesisch mit den gutmütigen Soldaten verhandelte. Was er ihnen wohl mit seinem ewigen Lächeln zu sagen hatte? Nach einer Weile fiel dem Steuermann auch Rocky Kane ein. Der Junge, wenn er es auch etwas wild trieb, hatte doch anziehende Eigenschaften. Es war nicht angenehm mit anzusehen, daß dieses Geschöpf Gewalt über ihn bekam. Noch ein schlechter Einfluß mehr! –
Kapitän Benjamin fand seinen Ersten Steuermann in Gedanken. »Jetzt ist's so weit!« sagte er, mit einem verzweiflungsvollen Versuch, gelassen zu erscheinen. »Depesche von der Gesellschaft: In Wu Tschang wird gekämpft. Was halten Sie davon?«
Doane schwieg. Es war sehr schwer, vor dieser ruhigen alten Stadt an einem sonnigen Nachmittag zu glauben, daß, wie Sun sagte, Krieg sei.
»Wir sollen liegenbleiben bis auf weiteren Befehl«, fuhr der Kapitän fort.
»Ob sie uns wohl weiterschicken?«
»Was macht es für einen Unterschied?« Der Kapitän erhob seine Stimme. »Sie wissen so gut wie ich, daß in Nanking der Kampf losgeht, ehe wir wieder dorthin zurückgelangen können. Und hier ebenso. Ich sage Ihnen, bis morgen geht der Aufstand am ganzen Fluß los. Dieser blutige alte Fluß! Und wir auf einem Schiff, das den Mandschu gehört! Schöne Aussichten!«
* * *
Nach ihrer Rückkehr aus der Eingeborenenstadt wurde den Reisenden mitgeteilt, das Schiff müsse möglicherweise bis zur Nacht hier liegenbleiben. Es sickerte durch, daß weiter oben am Fluß kleine Unruhen ausgebrochen seien, und die weißen Reisenden suchten sich mit dem verlängerten Aufenthalt abzufinden, so gut es ging.
Rocky Kane schlich sich mit etwas geröteten Wangen den Korridor entlang. Das schlanke, sehr jugendlich gekleidete Mädchen in der blauen Matrosenbluse, mit dem er den Spaziergang durch die Eingeborenenstadt gemeinsam gemacht hatte, erregte ihn. Die Männer machten zwar Bemerkungen, weil sie allein reiste, aber augenscheinlich war sie ein guter Reisekamerad. Sie hatte ihm die Nummer ihrer Kabine verraten und ihm etwas zu trinken versprochen. Der alte Kane hatte ihm ja den Alkohol völlig entzogen. Jetzt blieb er vor Nummer vier stehen und schaute sich verstohlen um; dann schob er die nicht eingeklinkte Tür auf und machte sie leise hinter sich zu. Das eigentümliche magere Fräulein Carmichael kämmte sich eben die schwarzen Haare aus. Mit einem erregten kurzen Lachen öffnete er seine Arme; aber sie schüttelte den Kopf.
»Setzen Sie sich und seien Sie vernünftig«, sagte sie. »Hier ist der Saké.«
Sie brachte eine Flasche zum Vorschein und schenkte in ein großes Glas ein klein wenig von dem starken Trank ein. Kane goß ihn hinunter.
»Trinken Sie nicht auch mit?« fragte er.
»Ich trinke niemals etwas Geistiges.«
»Sie sind ein komisches Ding. Wie kommen Sie denn dann zu dem Getränke?«
»Die Flasche ist mir geschenkt worden. Jetzt sehen Sie zu, daß Sie weiterkommen, ich kann Sie nicht hierbehalten.«
»Aber wann kann ich Sie einmal für länger sprechen?«
»Oh, dazu gibt's Gelegenheit genug. Wir sitzen hier fest.«
»Jawohl. Sieht aus, als ob es länger dauern könnte. In Wu Tschang und Hankau wird gekämpft. Große Sache. Wir erfahren alles durch Kato, den Japaner, den mein Vater bei sich hat. Die Revolutionäre haben Wu Tschang eingenommen und sind im Begriff, über den Fluß zu setzen. Die kaiserliche Armee eilt herbei, um Hankau zu verteidigen. Heute morgen sind Granaten in das Fremdenviertel gefallen. Es ist eine große Frage, ob wir überhaupt weiterfahren können. Dies Schiff gehört den Mandschu, und die Republikaner würden uns sicherlich nachsetzen. Aber natürlich sind genügend fremde Kriegsschiffe dort oben, um uns zu schützen. Komisch, daß Sie auch gar nichts überrascht! Haben Sie gewußt, daß dort oben gekämpft wird?«
»Nein.«
»Hätten Sie sich nicht ein wenig gefürchtet, wenn wir mitten in eine Schlacht hineingedampft wären?«
»Es wäre mir nicht unbedingt angenehm gewesen. Aber jetzt müssen Sie wirklich gehen! Nein, still! Man hört uns. Wir können uns heute nacht auf Deck treffen. Warten Sie, ich will Umschau halten, ehe Sie gehen … Jetzt ist die Bahn frei.« –
Nach dem Abendessen saßen die beiden lange auf Deck beisammen. Rocky Kane war voll von den neuesten Nachrichten über das, was weiter oben am Fluß vorging. Fräulein Carmichael hörte meistens schweigend zu und studierte ihn mit ihrem Geist, einem Geist der schärfer, rascher und verschlagener in seiner gemeinen Niedertracht war, als Rocky wohl jemals begreifen würde.
Alles, was Kato ihm und seinem Vater mitgeteilt hatte, übermittelte er ihr wieder im größten Eifer. Jetzt war er ein Mann und machte einen gewaltigen Eindruck – er, der Besitzer der wichtigsten Nachrichten. Er wußte von des Vizekönigs unschätzbaren Sammlungen, von Schmuck und Edelsteinen, Nephriten, Porzellanen und alten Gemälden, die Kato seinem Vater riet, um einen Pfifferling an sich zu bringen, während die Revolution gegen die alten Mandschu tobte. Kato kannte sogar ihre Embleme und wußte ihr Paßwort – »Schui-li« – Einigkeit macht stark. (Kato wußte alles.) Von den Soldaten unter Deck hatten zwei desertieren wollen und waren erschossen worden. Kane berichtete darüber sehr dramatisch.
Dixie Carmichael, in ihrem Deckstuhl liegend, hörte ihm anscheinend ohne besondere Teilnahme zu, während ihr Geist alles begierig auffaßte und die vermutlichen Tatsachen hinter seinen Worten zueinander in Beziehung setzte. Sie zog seine hervorstechendste Eigenschaft – unbeherrschte heißblütige Jugend – sehr in Betracht. Besonnenheit und Überlegung fehlten ihm augenscheinlich vollständig, welche Tatsache, von ihrem Standpunkt aus betrachtet, ebenso wichtig wie gefährlich war. Die Mitteilungen, die er ihr so wortreich übermittelt hatte, konnte sie sofort nützlich verwenden. Das stand fest, wenn ihr auch die Einzelheiten der Verwendung noch nebelhaft waren. Aber die weitere Frage, ob es rätlich sei, den jungen Mann persönlich an sich festzuketten, mußte sie sich noch überlegen. Zwei Möglichkeiten boten sich ihr hier dar, von denen jede zu einem reichen Erfolg führen konnte. Ließen sich beide vereinen, um so besser; aber es war nicht leicht, sich eine Verbindung auszudenken. Der nächstliegende erste Gedanke war, freien Herzens dem größeren Preise nachzujagen und der andern Möglichkeit keinen Gedanken mehr zu schenken. Wie meistens in solchen Fällen, war jedoch der kleinere Preis leichter zu erlangen. Aber vielleicht, wenn sie sehr rasch »arbeitete«, konnte sie den Fall mit diesem wilden Jungen erledigen und ihn so rechtzeitig wieder abschütteln, daß sie auch den größeren Preis noch erlangen konnte.
Jedenfalls war er der Sperling in der Hand, und darum duldete sie es schweigend, als er ihr unter der Decke die Hand drückte. Es mußte zum mindesten ein Genuß sein, diesen erregbaren, verzogenen jungen Mann zappeln und ihre Macht fühlen zu lassen.
Jene andere, größere Sache, ja, die war wirklich eine Frage, eine gewaltige Aufgabe für ihren regen, seltsam veranlagten Geist. Sie stellte zu gleicher Zeit ihre Einbildungskraft, ihren Instinkt für gefährliche Unternehmungen, ihr Geschick, den schwerfälligen Geist anderer sich dienstbar zu machen, auf die Probe. Sie auszuführen, verlangte gefährliche und angespannteste Tätigkeit.
In gleichgültigster Weise fragte sie, wo der Vizekönig seine berühmten Schätze aufbewahre; und sie prägte ihrem Gedächtnis den Namen, den er nannte – Huang Tschau – fest ein.
Wieder drückte ihr der Narr die Hand; als er aber einen Versuch machte, sie zu küssen, lief sie ihm davon, jedoch nicht so eilig, daß sie nicht noch seinen Vorschlag gehört hätte, sie solle mit ihm in seine Kabine kommen. Mit einem rätselhaften Lächeln und leise ein Liedchen summend, ging sie weiter; dann machte sie kehrt, um ihm nachzusehen, wie er seiner Kabine zulief.
* * *
Nun trieb sie sich auf Deck herum, wo sich augenscheinlich sonst niemand aufhielt. Die beiden Lehrerinnen und die jungen Herren brachten, wie sie wußte, mit Dawley Kane den Abend auf dem Konsulat zu. Rocky hatte sich dem entzogen. Tex Connor war in seiner Kabine und las vermutlich mit seinem einen Auge; denn rauh wie er war, schwelgte dieser Spieler und Schwindler in der Stille in Liebes- und Abenteuergeschichten. Ein recht fähiger Mann, dieser Tex; brauchbar bei gewissen Unternehmungen und jedenfalls jetzt sehr brauchbar. Aber dieser sonderbare romantische Zug – der war wirklich eine Schwäche. Und ein schwieriger Mann war er, stark, anmaßend, auf rohe Körperkraft pochend, wo sie sich auf ein feines Ränkespiel verließ. Hätte Tex besser verstanden, seine Spuren zu verwischen, so könnte er jetzt in New York oder London sein und brauchte sich nicht hier an der Küste auf der Jagd nach kleinen Gewinnen herumzutreiben. Ihm jetzt mit einem Vorschlag zu kommen, war eine etwas bedenkliche Sache. Seit mehr als einem Jahre hatten sich ihre Pfade nicht mehr gekreuzt, und hier auf dem Schiff wußte niemand, daß sie sich überhaupt kannten. Sie grüßten einander höflich bei Tisch, das war alles.
Manila Kid befand sich im Gesellschaftssaal und untersuchte die zerkratzten Platten des Grammophons. Ein sonderbarer Heiliger, dieser Kid; schwach, unbrauchbar, ganz närrisch auf eine gewisse einfache Art von Musik versessen, ohne Unternehmungsgeist. Aber – jetzt arbeitete die feingebaute stählerne Maschinerie ihres Geistes klar und bestimmt – aber jetzt würde sie ihn brauchen können, wenn auch nur als Hilfsmittel, um die erste kleine Frage, diesen eigenartigen Tex betreffend, zu lösen.
Unter der Türöffnung blieb sie stehen; sie fing seinen Blick auf und trat nach einer kleinen auffordernden Kopfbewegung wieder in die Dunkelheit draußen zurück. Langsam kam er heraus.
»Jim!« sagte sie. »Wie wär's mit ein wenig Geld für dich und Tex? Wollt Ihr?«
»Wofür hältst du uns?« erwiderte er mit unterdrückter Verdrießlichkeit. »Tex hat bei dem Wettkampf dreitausend verloren. Mit dem ist kein Auskommen, so wild ist er.
Nachdenklich betrachtete sie sich den Mann, der vor ihr stand: seine schlappe Haltung, sein charakterloses Gesicht. »Jim, schicke Tex zu mir,« sagte sie.
»Wozu, Dix? Sag' es mir!«
»Stell' dich nicht an, Jim! Ich kenne dich doch, ich weiß alles von dir, alles! Das ist eine große Sache, die ich im Sinne habe, und du sollst deinen Teil davon bekommen, wenn du mitmachst und zu mir hältst. Was meinst du zu Juwelen im Wert von einer halben Million?«
»Ich weiß nicht, ob sich Tex auf so was einläßt,« meinte Jim. »Wenn es –«
»Eil' dich und hole Tex! Es kann sein, daß wir sehr rasch handeln müssen.«
Mürrisch machte sich Manila Kid davon; er kam aber bald wieder zurück.
»Nun« – nach einer kleinen Pause – »was hat er gesagt? Kommt er?«
»Du sollst zu ihm kommen – in seine Wohnkabine.«
»Das tu' ich nicht. Er muß herkommen.«
Dieser Bescheid erhellte einigermaßen die Düsterheit auf Manila Kids störrischem Gesicht. Er ging noch einmal, und diesmal etwas geschwinder.
Dixie schlüpfte rasch in ihre eigene Kabine und betrachtete sich dort ihre Karte von China. Huang Tschau – sie maß die Entfernungen ungefähr mit dem Daumen ab – lag siebzig bis achtzig Meilen den Fluß hinauf über Kiu Kiang, wo sie jetzt waren; und etwa fünfunddreißig Meilen unterhalb von Hankau. –
Tex stand an der Reling und kaute an einer Zigarre. Als er ihren Tritt vernahm, wandte er ihr sein rundes, unbewegtes Gesicht zu. »Was ist das für ein Unternehmen?« fragte er.
»Hör' Tex, hast du Mut zu einer großen Sache?«
»Wozu?«
»In Hankau ist die Revolution ausgebrochen – oder richtiger gesagt, gegenüber in Wu Tschang –«
»Weiß ich.«
»Bei Hankau steht eine Schlacht bevor. Die Republikaner sind im Begriff überzusetzen. Sicherlich gibt es ein Gefecht.«
»Man wird plündern –«
»Ach so – o –«
»Warte doch! Ich weiß, wo sich eine Sammlung von Edelsteinen – Diamanten, Perlen, Rubinen, Smaragden, kurz, aller Art – befindet.«
»Weißt du, wie man da 'rankommt?«
»Ja. Es ist eine wirklich große Sache. Wir könnten jahrelang in Europa und Amerika Steine verkaufen. Machst du mit? Halbpart!«
»Gewagte Sache?«
»Nicht sehr – jetzt, bei dem allgemeinen Durcheinander. Dünkt mich eine Chance, wie sie sich nur einmal in hundert Jahren bietet. Verlangt Mut und etwas Vorstellungsvermögen.«
»Wo ist die Sore?«
»Das sag' ich dir, wenn wir dort sind. Soweit mußt du mir vertrauen. Ich habe dich noch niemals angelogen, wohl aber du mich!«
»Aber –«
»Hör' zu! Ich denke mir so: Hier auf dem Schiff befinden sich eine Menge Soldaten, die gewiß nichts gegen eine kleine Plünderung einzuwenden haben werden. Und weiter ist da dein Boxer – wie heißt er gleich?«
»Tom Sung.« Connor schaute ihr unverwandt in die Augen, und ihr Blick zuckte keinen Augenblick.
»Für diese Soldaten ist er der stärkste Mann auf Erden, und er nimmt auch gerne etwas mit. Und es ist viel da, Tex – eine Unmenge! Du begreifst, was ich vorhabe. Mit Hilfe deines Toms kannst du dich mit einem Teil der Soldaten ins Benehmen setzen –«
»Ja, zwei haben sie totgeschossen. Vierzig würden ihnen schon Mühe machen. Schick' Tom an die Arbeit, sofort, gleich heut nacht, während wir hier stilliegen. Ihm werden sie folgen, und du brauchst nicht zu ihm zu stehen, wenn er gefangen wird. Dann ist er eben auch einer von den Rebellen … Bring' das in Gang, Tex! Es ist wirklich eine Chance, wie sich dir nie mehr eine bieten wird. Mit Hilfe der Soldaten können wir uns eine Barkasse verschaffen – können sogar eine heuern, wenn du ganz sicher gehen willst – und das Zeug holen. Niemand wird auf einen andern Gedanken kommen, als es seien einfach plündernde Soldaten gewesen.«
»Wie sollen wir von hier wegkommen? Es spräche später gegen uns, daß wir nicht mehr auf dem Schiff waren.«
»Mach' mir doch nicht weis, daß du meinst, wir könnten nicht aus China hinauskommen, wenn es notwendig würde! Wir sind hier nicht in England oder Amerika. Und es wird gar nicht notwendig werden. Wir müssen nur richtig spielen und mit Verstand.«
»Wo ist der Ort?«
»Er ist vorhanden – und ich bringe dich hin.«
»Du mußt es mir sagen!«
Gelassen schüttelte sie den Kopf. Tex wußte wohl kaum, daß der Vizekönig nicht nach Hankau und Peking weiterreisen wollte; sie selbst hatte das nur von Rocky Kane erfahren. Und die Lage des Ahnenschlosses Seiner Exzellenz war Tex wohl schwerlich bekannt. Es war darum kaum anzunehmen, daß er an den Vizekönig überhaupt dächte.
»Es ist jedenfalls zwischen ein und zwei Millionen, Tex«, sagte sie kühl. »Und ich weiß alles aus bester Quelle. Das will ich damit beweisen, daß ich mit dir gleiche Gefahr laufe.«
Er schüttelte den Kopf und machte halb kehrt. »Wo also?«
Sie lächelte.
Da ließ er sie einfach stehen, sie aber schaute ihm kühl lächelnd nach. Tex' Einbildungskraft würde einige Zeit brauchen, um sich zu der Sache zu erheben, und bis zum letzten Augenblick würde er versuchen, sie zu bluffen. Es war das reine Pokerspiel, und das spielten sie nicht zum erstenmal zusammen, sie und Tex. Einmal hatte er sie dabei ausgeplündert, aber diesmal sollte es ihm nicht gelingen.
Manila Kid kam aus dem Gesellschaftssaal herausgeschlichen. »Will er?« fragte er heiser.
»Er behauptet, nein!« erwiderte Dixie.
»Hör' mal, das ist dumm! Hätte nicht gedacht, Tex würde an so was vorbeigehen. Was ist los?«
Dixie überlegte sich noch einmal diesen Mann, den sie seither für völlig unnütz gehalten hatte. Jetzt war sie dessen doch nicht mehr ganz sicher. »Tex stellt die Bedingung, daß ich ihm sage, wo die Sachen sind.«
»Nun, Dix, das sagst du ihm doch jedenfalls – wenn du es wirklich selbst weißt.«
»Selbstverständlich sag' ichs ihm nicht , Jim. Jetzt noch nicht.«
Sie sah ihn an, und er senkte den Blick. Dann suchte er in einer Tasche und brachte eine kleine Armbanduhr von Platin zum Vorschein. »Sieh her, Dix«, sagte er unbeholfen. »Wir standen nicht immer so zueinander, wie es hätte sein können. Vielleicht nimmst du aber doch dies von mir an, zur Erinnerung an alte Zeiten.«
Sie nahm sein Geschenk entgegen und hielt es in der Hand. »Ich danke dir, Jim«, sagte sie. »Das ist sehr lieb von dir. Aber vielleicht ist es besser, wenn ich sie hier auf dem Schiff nicht trage.«
»Wohl damit der junge Kane keine Fragen stellt?«
»Keineswegs. Ich will sie tragen. Da, mach' das Schloß zu, Jim.«
»Sag' mal, Dix, du machst dir doch nichts daraus, daß da die kleine Stelle auf der Rückseite ist, wo die Buchstaben ausgekratzt sind? Das sieht doch niemand.«
»Durchaus nicht,« sagte Dixie.
* * *
Kurz nach Mitternacht stieg Griggsby Doane auf Deck und ging rasch nach achtern. Der meilenbreite Fluß schimmerte im Lichte des halben Mondes in Tausenden von silbernen Wellchen.
Eine schlanke Gestalt erhob sich von ihrem Sitz.
Hui Fei trug die schwarze Kleidung – Hosen und Jacke – gleich den Chinesenfrauen der unteren Klassen hier auf dem Schiff. Der Kopf war unbedeckt, und das Haar wogte hübsch um die breite Stirne.
Doane hielt ihre schmale Hand in der seinen und schaute ernsthaft auf sie nieder. Er schüttelte sogar langsam den Kopf. »Sie müssen mir rasch sagen, was Sie mir mitzuteilen haben,« sagte er. »Sie müssen so schnell als möglich wieder zurückgehen, Hui Fei. Wir sind keinen Augenblick sicher.«
»O ja,« erwiderte sie. »Ich will mich nicht lange aufhalten. Es ist schwer zu sagen. Ich bin allein. Niemand ist da, der mir sagen kann, was ich tun soll.«
Mit tapferem Mut fing sie an zu berichten. Was sie wußte, hatte sie von der einen oder anderen ihrer Dienerinnen erfahren. Außerdem hatte sie einiges mit angehört, was die Mandarine zu schwatzen hatten. Der Thron hatte ihrem Vater die seidene Schnur geschickt; aus welchem Grunde, hatte sie nicht entdecken können. Sie nannten ihn allerdings einen Unterteufel, das bedeutet einen, der es mit den Fremden hält. Die Eunuchen, die stets die Sturmvögel von Chinas dunkelsten Tagen gewesen waren, hatten wieder im Palast die Macht in Händen; die große Kaiserinwitwe (sie, die ganz China halb liebevoll ›den Alten Buddha‹ nannte), hatte ihnen die Zügel gelassen, und unter dieser neuen, jungen Kaiserin, die die ganze Anmaßung und nichts von dem Herrschertalent und der Erfahrung des ›Alten Buddha‹ hatte, hörte jegliche Ordnung auf. Und als eine Folge davon kehrte Kang Yu, der Staatsmann, der mehr als jeder andere fähig gewesen wäre, ihr in diesen stürmischen Zeiten mit weisem Rat zur Seite zu stehen, in den Palast seiner Vorfahren zurück, um dort von seiner eigenen Hand zu sterben. In der verbotenen Stadt würde gesagt werden, die gnädige Kaiserinwitwe habe ihm ›erlaubt‹ zu gehen … Doanes aufgerührte Gedanken schweiften über die blutige jüngste Geschichte der Mandschu-Bürokratie hin. Der ›Alte Buddha‹ hatte Tsch'i Ying, dem letzten Vizekönig von Kanton ›erlaubt‹, sich selbst umzubringen, und hatte nach dem Boxeraufstand im Jahre 1910 dieses Vorrecht auch noch auf viele andere ausgedehnt. Wieder andere hatte sie enthaupten lassen, unter anderen Hsu Tsching Tsch'eng, der gleich Kang Gesandter in mehr als einer Hauptstadt Europas gewesen war. Die einzige bekanntgewordene Anklage gegen diesen Hsu war die, daß er fremde Sitten und Gebräuche bewundere.
Während Hui Fei erzählte, sprach sie nur englisch. Sie hatte eine tiefe Stimme, klangvoll, wie die meisten Stimmen der besseren Kreise im Mittleren Königreich, sowohl bei den Mandschu wie bei den Chinesen. Und jetzt in dieser tiefen Bewegung klang daraus ein Flehen, dem Doane keinen Widerstand entgegenzusetzen vermochte.
»All sein Eigentum wollen sie ihm wegnehmen. Sagen Sie mir, Herr Doane, können Sie das – all sein Eigentum?«
Er überlegte, und endlich nickte er. »Ich fürchte, sie können es. Es wäre allerdings ein Gewaltakt, aber die Herrschaft liegt leider zur Zeit in gewalttätigen Händen. Wenn die Kaiserin, wie es scheint, fest entschlossen ist, so gibt es Wege genug, an seinen ganzen Besitz zu gelangen. Sogar durch die Banken.« Sein Herz war übervoll, und seine Stimme klang äußerst freundlich; aber täuschen durfte er sie nicht. Er fügte eine Frage hinzu: »Weiß Seine Exzellenz, Ihr Herr Vater, dies alles?«
Sie nickte. »Ich habe es ihm gesagt. Aber ich bringe ihn nicht dazu, die Sache anzusehen wie ich. Oh, wir sind so verschieden! Ich bin ein amerikanisches Mädchen, ich bin frei – hier!« Sie preßte ihre reizende Hand auf die Brust. »Wenn ich versuche, an all diese entsetzlichen Dinge zu denken – an diese boshaften Eunuchen und an diese Kaiserin, die tausend Jahre hinter der Welt zurück ist – blind, kindisch! Und an das Volk, das den Unterschied noch nicht erkennt, da werde ich ganz verwirrt. Sie verstehen; Sie sind auch Amerikaner. Mit Ihnen kann ich frei reden. Das ist gut, denn ich habe sonst niemand, mit dem ich sprechen kann. Und mein Vater bewundert Sie. Sprechen Sie doch mit ihm; versuchen Sie, ihn dahin zu bringen, daß er die Sache anders ansieht.«
Doane begriff nicht recht, was sie sich vorstellte, daß er ohne Geld und ohne Einfluß tun könnte. Er vergaß ganz, seinen persönlichen Einfluß in Betracht zu ziehen, die Bedeutung, die in der ausgesuchten Höflichkeit des Vizekönigs und in Sun Schi-pis Antrag an ihn lag. Sehr sanft fragte er sie, was sie wünsche, daß er tue.
»Mein Vater hört nicht auf mich. Er ist sehr freundlich, sehr gütig. Er hat mich ein amerikanisches Mädchen werden lassen. Das ist eines von den Dingen, woraus ihm jetzt ein Unrecht gemacht wird. Darum wird jetzt sein guter Name angegriffen. Aber wenn ich ihn bitte, dies nicht zu tun, nicht auf so unrechte Weise zu sterben, dann erzählt er mir nur von den alten Mandschu.«
»Er steht zwischen zwei Welten.«
»Ja, das ist es. Und ich stehe vielleicht auch zwischen zwei Welten.«
»Und ich ebenfalls.«
»Aber er darf das nicht tun! Es ist doch so einfach! Der Thron hat doch keinen Bestand mehr, nicht mehr ein Jahr! Das weiß ich. Jetzt schon wird in Wu Tschang gekämpft.«
Doane nickte. »Ich weiß das, Hui Fei; aber die Revolution ist noch nicht so weit gediehen, daß ihr Erfolg sicher wäre.«
»Aber er ist sicher! Überall steht das Volk auf. Ich weiß es – hier!«
»Das ist auch meine Hoffnung. Aber ehe ein so großes Land in Bewegung kommt, braucht es großer Anstrengung, und das Volk muß dazu erzogen sein. Mit Ihnen ist eine Veränderung vorgegangen und mit Ihrem Vater auch. Sun Yat Sen hat Medizin studiert und ist in Amerika und England gewesen. Auch er hat sich verändert. Aber das ganze China – ich möchte Ihre Hoffnungen nicht dämpfen, aber ich fürchte, China ist noch nicht so weit vorangeschritten, als Sie und ich hoffen.«
»Dann muß also – mein Vater – sterben, weil eine böse Kaiserin keinen Verstand hat? Das ist nicht recht! Bitte, hören Sie! Wenn Sie, Herr Doane, versuchen wollten, meinen Vater zu überreden! Auf Sie wird er hören, das weiß ich. Er sagt, Sie haben den Geist der alten Philosophen – von Laotse selbst. Und Sie haben die Kraft des Westens, die er bewundert. Und er sagt, Sie verstehen China. Wollen Sie mit ihm reden?«
Doane starrte in die sternenhelle Nacht hinaus. Sein tiefes Mitgefühl mit dem Eifer ihrer Jugend erschreckte ihn. Er hatte in der letzten Zeit die Empfindung gehabt, daß das Leben nicht wichtig zu nehmen sei – sein eigenes einmal gewiß nicht. Aber Jugend und Hoffnung und Glauben an die Zukunft – die waren wichtig.
Er nahm ihre schmale Hand in die seine, und sein Herz schlug ihm hoch in der Brust. Seine Stimme zu beherrschen, wurde ihm schwer. Er war also nach all diesen Jahren des Kampfes, des Unterliegens immer noch hoffnungslos romantisch … Immer noch regten sich in ihm die klopfenden Pulse der Jugend, die in vielen Menschen niemals aufhören zu schlagen. Wo war die Gelassenheit seiner letzten Jahre geblieben? Alles zuckte an ihm vor Leben, er war ein Mann voll Kraft und Stolz, des Geist und Herz sich regen und bewegen wollten …
»Ich will es versuchen,« sagte er.
Sie klammerte sich an seine Hand. »Ich habe Ihr Versprechen?«
Er verneigte sich. »Ich muß darüber nachdenken. Ich möchte nicht gerne, daß mir der Versuch mißlingt. Es ist auch noch Zeit. Er wird« – es wurde ihm schwer, die richtigen Worte zu finden – »er wird sicherlich damit warten, bis er zu Hause ist. Aber Sie dürfen nicht länger hierbleiben, und wir dürfen in dieser Weise nicht mehr zusammenkommen. Ich werde mein Bestes tun, Ihnen zu helfen.«
Seine Rede kam ihm selbst sehr wenig der Lage angemessen vor. Aber in ihm war eine wilde Regung, sie in seine Arme zu pressen – sie für sich zu begehren, für sie zu kämpfen, durch und für sie wieder das wahre Leben eines Mannes zu leben. Es war, wie er sich klarmachte, beinahe Wahnsinn von ihm. Ein Mann, der nichts zu bieten hatte, nicht einmal Jugend, und hatte mit einer Erregung, einem Lebenshunger zu kämpfen, denen nachzugeben ungeheuerlich gewesen wäre. Fest preßte er seine Lippen zusammen.
Sie schien beinahe atemlos zu sein. Einen Augenblick drückte sie die Hände auf Wangen und Augen; dann winkte sie ihm noch zu und kletterte leichtfüßig die steile Leiter hinunter.