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Die wenigen Stunden, die nun folgten, hafteten in Rocky Kanes Erinnerung als eine wirre Folge lebhafter, bunter Szenen; einige davon mit Schrecken gemischt, andere von blitzartig aufleuchtender exotischer Schönheit; und während dem allem brannte fast unerträglich in seiner Brust das Feuer heißer, unvernünftiger junger Liebe.
Fest in seiner Erinnerung haften blieb das Bild der dichtgedrängten Wagenreihe auf der ausgefahrenen schmalen Straße; die unruhigen Maultiere, die ausschlugen und ihr Zaumzeug in Unordnung brachten; die Frauen, die sich auf einen Haufen zusammendrängten; der gelbe Staub, der sich dicht auf die bunten Seidengewänder der Mandarine gelegt hatte; das Durcheinander am Tor und die Handvoll Soldaten, die nach vorne eilten; die Reihe anderer Wagen, die in dem engen Paß vorbeizukommen sich mühten, während zerlumpte Maultiertreiber einen Schwall von Schmährufen ausstießen.
In seiner Erinnerung haften blieb das traurige Gesicht Hui Feis im Schatten des Wagens und das schwache Lächeln, das sich hie und da darauf zeigte und sofort wieder verschwunden war; und die Anstrengungen, die er zuerst machte, um sie mit jugendlich-fröhlichem Gespräch aufzuheitern.
In seiner Erinnerung haften blieb, wie er sich mühte, nach vorne zu kommen; wie er an dem Vizekönig vorbeikam, wie die Soldaten sonderbar haltlose Gestalten herbeitrugen und mit ihnen in den Torhäusern verschwanden.
In seiner Erinnerung haften blieb das Bild, das sich ihm bot, als er um die gemauerte Schranke herumkam; wie Doane, ein Offizier und einige Soldaten nachdenklich herumstanden um einen fetten Körper in blutigen seidenen Gewändern, der – entsetzlich – keinen Kopf hatte; wie Herr Doane in der zunehmenden Dämmerung sich über den Körper beugte und der Offizier niederkniete, um die Stickerei auf der Brust zu untersuchen; wie zwei Soldaten dann eine Stange brachten, auf deren Spitze der fehlende Kopf grinste. Wie dann vier Soldaten noch einen Körper herbeitrugen, und zwar den eines kräftigen Mannes in Hemd und grauen Flanellhosen, den er schon irgendwo gesehen haben mußte.
In seiner Erinnerung haften blieb – nachdem der letzte schreckliche Überrest von dem Blutvergießen, das hier stattgefunden hatte, hinweggeschafft war – wie ein leichtes Abendlüftchen in den Bäumen flüsterte und die Glöckchen leise zum Klingeln brachte; und wie in diesem Augenblick der Ruhe mit leichtem Schritt, ihre Ledertasche schwingend, das blasse Mädchen, Dixie Carmichael, von dem Pavillon rechts die Marmorstufen herunterkam, Herrn Doane einen achtungsvollen Blick zuwarf und zu ihm selbst gewandt mit ihren dünnen Lippen das eine Wort bildete: »Sie?« Und wie dann nach wenigen Worten – das Mädchen behauptete, Tex Connor und Manila Kid hätten sie genötigt, mitzukommen; es sei ein schreckliches Erlebnis gewesen; sie denke, die beiden müßten getötet worden sein; ihr selbst sei es gelungen, sich zu verstecken – wie Herr Doane ihn aufforderte, sie zu den andern Frauen zu geleiten; und wie sie dann, er und sie, unter heißem Klopfen seines Herzens durch das finstere Tor gingen, wo jetzt bunte Papierlaternen hin und her schwankten.
Seine Erinnerung hielt nicht fest, was sie sagten, er und dieses unerklärliche, kühle Mädchen, als er es draußen verließ und rasch zurückeilte; aber die Erinnerung an das Bild haftete, das er bei seiner Rückkehr antraf – wie Herr Doane entschlossen in die Finsternis jenseits der weißen Brückchen hineinschritt, begleitet von dem Offizier mit einer Laterne, und wie die wenigen Soldaten, ebenfalls mit Laternen, hinterher liefen. In seiner Erinnerung haftete, wie er sich an ihnen allen vorbeidrängte, im Laufen eine der Laternen an sich riß und endlich mit dem großen entschlossenen Mann Schritt haltend, neben ihm herging.
Sie kamen nun durch weite Höfe und an Gebäuden vorbei mit schweren geschweiften Dächern, geschnitzten und bunt bemalten Säulen und schwach erleuchteten Fenstern aus Papier. Sie trafen betrunkene Soldaten, die davonliefen, und laut schreiende Frauen und andere Frauen, die nie mehr schreien oder lächeln würden. Da und dort fanden sie Haufen von zersplitterten Möbeln und die eine oder andere eingeschlagene Tür. Da war ein bekannt aussehender riesiger Soldat, der mit blitzender Klinge in der Hand sich auf Herrn Doane stürzte. Und dann folgte ein schwerer Kampf, der beim Rückblick anscheinend nur einen Augenblick gedauert hatte, während Rockys klarere Erinnerung ihn nachher sich selbst zeigte, wie er mit seinem Taschentuch eine kleine Schnittwunde in Herrn Doanes Unterarm verband, während die Soldaten einen um sich schlagenden verwundeten Riesen hinaustrugen; dann im Hof Schreien und Schießen, als der Riese sich losriß. Und in seiner Erinnerung haftet, wie er einen ungefaßten Rubin aufhob und ihn Herrn Doane überreichte. Und dann folgte das Bild eines traurigen Zuges, der sich langsam mit auf und ab hüpfenden Laternen durch das Wäldchen wand …
Er mußte dann eingeschlummert sein. Vor Schläfrigkeit taumelnde Soldaten gingen über den Hof, das Gewehr in der Hand. Zwei Offiziere und ein Mandarin in prächtigem Gewand studierten ein Schriftstück beim Schein einer Laterne. Dann kam Herr Doane heraus und las das Schriftstück durch. Sie sprachen chinesisch miteinander, Herr Doane ebenso fließend wie die Eingeborenen.
Herr Doane schien gewissermaßen das Kommando zu übernehmen. Mit vollendeter Höflichkeit, aber ebenso fester Entschlossenheit schien er ein Verhalten vorzuschlagen, dem der Mandarin endlich zustimmte. Die Offiziere verneigten sich und gingen zum Tore hinaus, und als der Mandarin und Doane sich umwandten und in das größte der Gebäude eintraten, war es der Weiße, der das Schriftstück in der Hand hielt.
Wieder schlummerte Rocky ein und schlief, bis ihn Herr Doane wachrüttelte.
»Kommen Sie. Sie können helfen!« Also sprach der große, ernste Mann mit den tiefen Schatten im Gesicht.
Ein Diener mit einer Laterne gab ihnen das Geleite durch Gänge und Höfe, und Rocky konnte in der schwachen Beleuchtung hie und da einen Blick erhaschen auf massive Pfeiler und Wandverkleidungen in Rosenholz und weicher roter Seide und in herrlichen Mustern ausgehauene Geländer aus Marmor.
Mit dem Schriftstück in der Hand suchte Doane Seine Exzellenz auf. Der Überlegenheit des weißen Mannes gehorchend, klopfte der diensttuende Mandarin an die innere Tür und öffnete sie dann zögernd; Doane allein trat ein.
Das Zimmer war lang und schmal, soviel sich bei dem matten Schein der einen Glühbirne über dem herkömmlichen Kang oder Podium am entgegengesetzten Ende des Zimmers erkennen ließ. Doane hatte nicht erwartet, hier elektrische Beleuchtung zu finden und war darum sehr überrascht. Die Wände waren mit Seide bespannt; die Decke bestand aus schweren Balken. An jeder Seitenwand, mathematisch genau in der Mitte, stand ein quadratischer kleiner Tisch und ein reich geschnitzter quadratischer Sessel davor. Auf dem Kang, Schriftstücke um ihn her verstreut, Pinsel und Farbschale genau unter dem Licht, saß Kang Yu, in einem kurzen wattierten Rock und mit einem einfachen schwarzen Käppchen auf dem Kopf, gelassen an der Arbeit. Er hatte nur aufgesehen, ein hinfälliger alter Mann, der von keiner irdischen Plage mehr erreicht werden konnte, dessen Augen furchtlos über die Grenze des bloßen persönlichen Seins zu der ewigen, unerschöpflichen Kraft hinüberschauten, in der bald sein ganzes Selbst aufgegangen sein würde. Dann, als er die kräftige Gestalt erkannte, die in den Lichtschein trat, legte er die Hände grüßend zusammen und lächelte Doane entgegen.
»Nur eine unerwartete bedenkliche Wendung konnte mich veranlassen, in dieser Weise einzudringen«, begann Doane auf chinesisch, indem er sich in höfischer Weise verneigte und die Hände vor der Brust zusammenlegte.
»Kein Besuch von Griggsby Doane könnte jemals in meinem Hause als ein Eindringen angesehen werden«, erwiderte Seine Exzellenz.
»Ich muß in der Art des Westens rasch zur Sache kommen«, fuhr Doane fort. »Seine Exzellenz, der General Herzog Ma Tsch'un, der vor Hankau das Kommando führt, schreibt hier, er bedauere tief den gewaltsamen Tod des Eunuchen Tschang Yuan-fu auf dem Grund und Boden Euerer Exzellenz, wo er sich, einem Befehl Ihrer kaiserlichen Majestät gehorchend, befand, und ersucht Euere Exzellenz herzlich, sofort als sein persönlicher Gast ins Hauptquartier zu kommen und ihm bei der Untersuchung des traurigen Ereignisses Beistand zu leisten. Er ergänzt diese Einladung durch die Abschrift eines Telegramms Seiner Exzellenz Yuan Schih-kai, das ihm befiehlt, sofort Sie und Ihr gesamtes Eigentum in seine Obhut zu nehmen.«
Der einfache alte Mann, der ein Gesandter, ein großer Ratgeber und ein Vizekönig gewesen war, schien leicht zurückzuweichen, als sein Blick auf die umhergestreuten Schriftstücke fiel; dann streckte er eine zitternde Greisenhand aus nach diesem neuen Schriftstück und las es sehr langsam durch.
»Seine Exzellenz, der Herzog Ma Tsch'un hat eine Kompagnie Soldaten geschickt, die Sie, wie es sich gebührt, ins Hauptquartier geleiten sollen. Sie warten vor dem äußersten Tor. Ich habe mir herausgenommen, in dieser Stunde des Kummers und der Verwirrung sie durch den Mund der Ihnen treuen Offiziere darauf aufmerksam zu machen, daß Euere Exzellenz nicht vor Tagesanbruch gestört werden dürften.«
Langsam, mit ausdruckslosem Gesicht faltete der Vizekönig das Schriftstück zusammen und legte es auf den Kang. Dann sank er daneben hin und winkte – offenbar mit Anstrengung – seinem Besucher, sich ebenfalls zu setzen. Allein Doane blieb stehen – groß und breit und stark; ein Befehlshaber ohne Rang und Auftrag; ein Mann, der sich der stillen Übermacht seiner Persönlichkeit augenscheinlich kaum bewußt war.
»Euere Exzellenz weiß«, – also sprach Doane weiter – »daß diesem Befehl zu folgen sowohl Sie selbst als auch Ihre Tochter einem vollständig unverdienten Schicksal ausliefern hieße – ein Schicksal, das ich – wenn ich mich den Freund von Ihnen beiden nennen darf – nicht ohne den Wunsch, stärksten Widerstand zu leisten, in Betracht ziehen kann. Es ist gesagt worden: ›Der wahrhaft große Mensch wird jederzeit über sein Handeln erst nach sorgfältigster Erwägung der Erfordernisse des Augenblicks bestimmen und wird sein Segel stets nach dem günstigsten Winde stellen.‹ Ich bitte Euere Exzellenz mir zu verzeihen, wenn ich darauf hindeute, daß wir, welchen Wert auch Sie selbst auf Ihr eigenes Leben legen mögen, nicht in dieser Weise Ihre Tochter Hui Fei ihrem Schicksal überlassen können.«
Als der Vizekönig wieder sprach, hatte seine Stimme viel von ihrem Klang verloren; es war jetzt wirklich die Stimme eines müden alten Mannes. Und dennoch wurden seine Worte mit der alten gütigen Würde gesprochen.
»Ich habe Sie gebeten, Griggsby Doane, mich auf dieser schmerzlichen Reise nach meinem alten Stammsitz zu begleiten. Damals wußten wir noch nicht, daß wir von einem traurigen Ereignis einem noch traurigeren entgegengingen. In Asien als Asiaten weiterzuleben, muß für meine andern Kinder nicht unbedingt ein hartes Schicksal sein; als das sind sie geboren, und sie kennen kein anderes Leben. Es kann ihnen hier so viel Glück beschert sein wie den meisten Menschen. Aber mit Hui Fei liegt die Sache anders; sie darf nicht von jeder Berührung mit der Zivilisation der Weißen abgeschnitten werden. Nicht darum habe ich ihr diese moderne Erziehung gegeben. Hui Fei ist ein Versuch, der noch nicht bis zu Ende geführt ist. Sie muß die Möglichkeit haben, sich zu entwickeln. Das ist der Grund, aus dem ich Sie mit hierhergenommen habe, Griggsby Doane. Meine Tochter muß nach Schanghai gebracht werden; dort hat sie Freunde und Bekannte. Ich habe gewagt, auf Ihre Erfahrung und Ihren guten Willen zu rechnen, sie sicher nach Schanghai zu geleiten. Wollen Sie das tun – jetzt? Heute nacht? Ich hatte beabsichtigt, ihr die Juwelen und die Malereien von Ming, Sung und Tang mitzugeben. Beide Sammlungen haben einen unschätzbaren Wert. Aber die Juwelen sind dahin, die Malereien jedoch sind noch vorhanden. Wollen Sie sich mit diesen und mit meiner Tochter und zwei Dienern – mehr sind wohl kaum vorhanden, denen ich wirklich trauen kann – zum oberen Tor hinausschleichen und sie irgendwie sicher nach Schanghai bringen.
»Sie würde nicht wollen. Nicht, solange Eure Exzellenz noch am Leben ist oder Ihr toter Körper sich noch über der Erde befindet.«
Der Vizekönig sah erst zögernd auf zu dem kräftigen Mann, der so entschieden sprach, und dann zu den zerstreuten Schriftstücken auf dem Kang. Gerade in der Ruhe dieses ernsten Gesichts empfand er die unerklärliche Gewalt der weißen Rasse, und er wußte in seinem Innersten, daß diesem Mann nicht widersprochen werden könne. Er schwankte innerlich; vielleicht zum erstenmal in seinem mit Überlegung und geduldiger Feinheit geführten Leben fühlte er die schwere Last seiner Jahre.
»Ich will sie herkommen lassen«, sagte er jetzt langsam. »Ich will sie Ihrer Hut übergeben. Auf meinen Befehl hin wird sie gehen.«
»Nein, Euer Exzellenz. Ich habe ihr bereits Botschaft geschickt, sie möge für die Reise ihre Vorbereitungen treffen. Ich muß noch einmal um Verzeihung bitten. Die Zeit drängt. Es müssen nur noch die Gemälde zusammengepackt werden; diese wenigstens müssen Ihnen bleiben. Wir brechen jetzt in wenigen Minuten auf. Ich habe hier in dem Palast als Gefangenen den Befehlshaber der Dschunke drunten am Ufer gefunden und habe es auf mich genommen, ihn noch weiterhin festzuhalten. Er wird uns nach Schanghai führen. Es sind jetzt nur noch wenige Stunden bis zum Tagesanbruch, und feindliche Soldaten warten ungeduldig am äußeren Tor, voll Gier, Schande auf Sie und alles, was zu Ihnen gehört, zu häufen. Sie müssen Ihre Kleidung wechseln – die eines Dieners wäre am besten.«
»Sie werden einem Mann von meinen Jahren seine Unentschlossenheit verzeihen«, fing der Vizekönig an. Nach einer Weile fuhr er fort: »Die Welt hat sich auf den Kopf gestellt, Griggsby Doane.«
»Sie kommen mit?«
Der Vizekönig seufzte. Zitternde Hände streckten sich aus, um die Schriftstücke zusammenzuraffen.
»Ich komme«, sagte er.
* * *
Mit dem Gefühl, in einem wirren Traum befangen zu sein, fand sich Rocky an der Arbeit in einem schwach erhellten Raum; so viel seine Hände fassen konnten, nahm er Rollen von Seidezeug, auf Elfenbeinstäbe aufgewickelt, und packte sie in lackierte Kisten. Herr Doane war dabei und der Diener, und ein zweiter Diener von niederer Klasse in zerrissenen Hosen, der den Zopf um den Kopf gewickelt hatte. Und dann erschien noch ein dritter Chinese im blauen Gewand und der ärmellosen kurzen Jacke; ein alter Mann, der in dem schwachen, flackernden Licht der einen Laterne dem Vizekönig merkwürdig ähnlich sah. Der erste Diener verschwand und kam mit den kurzen Bambusstangen wieder, wie sie überall in China zum Lastentragen auf den Schultern verwendet werden, und mit Stricken und viereckigen Stücken von schwerem Baumwollzeug.
Sie packten die Kisten zusammen, hüllten die schweren Würfel in die Tücher ein und verschnürten sie so, daß sie an die Bambusstangen gehängt werden konnten. Vier von ihnen, Herr Doane, Rocky selbst und die beiden Diener legten sich dann je eine solche Stange über die Schulter, so, daß die Lasten vorne und hinten im Gleichgewicht waren. Der alte Mann, der, wie Rocky jetzt erkannte, unzweifelhaft der Vizekönig selbst war, trug eine europäische Handtasche. Da waren auch noch andere Pakete … Sie gingen durch einen beinahe dunkeln Gang und dann hinaus in den Mondschein. Hier unter einem Torweg standen vier dunkle Gestalten. – Dixie Carmichael erkannte er zuerst, dann Hui Fei, die eine kurze Jacke und chinesische Frauenhosen und darüber einen losen Mantel trug. Ihre Haare waren gescheitelt und legten sich glatt an ihren hübschen Kopf an und glänzten im Mondlicht … und die kleine Prinzessin war da, klammerte sich an die Hand ihrer Schwester und rieb sich die Augen. Schweigend machten sie sich auf den Weg, alle miteinander, auf einem gewundenen Pfad durchs Gebüsch und über eine hochgewölbte Brücke; endlich kamen sie an ein Tor.
Rocky konnte in dem schwachen Licht eben noch die schwarzen Torflügel mit den eisernen Spitzen auf dem oberen Rand und die großen Türangeln von Bronze erkennen. Der eine Diener schloß mit einem großen Schlüssel auf, und hinter ihnen fiel das Tor wieder leise zu.
Der Bambus mit seinen zwei Lasten ruhte schwer auf Rockys Schulter. Es gibt da eine Art und Weise, seine Schritte dem Schwingen des Gepäcks anzupassen, was er nach ein wenig Stolpern herausfand. Unverwischbar haftete dies in seiner Erinnerung – der kleine Zug von Menschen, von beiden Enden der Welt zusammengewürfelt, die ohne einen gesprochenen Laut dem Yangtsekiang zuschritten.
Eine halbe Stunde darauf wurden sie alle zu jener großen Dschunke hinübergefahren, die sie in den letzten vierundzwanzig Stunden zweimal gesehen hatten, deren glatte gelbe Seiten sich im Mondschein vor ihren Augen wölbten und deren Decks jetzt wieder reingescheuert waren; blühende Pflanzen in Porzellantöpfen umsäumten das geschnitzte Geländer einer reizenden Galerie, die achtern hoch über das Wasser vorstand. Die Schiffsmannschaft, aus dem Schlaf geweckt, eilte von allen Seiten aus den Hängematten herbei. Der Laopan begab sich eiligst auf seinen Posten auf der Achterhütte. Die schweren Trossen wurden an Bord geholt, und das Fahrzeug drehte langsam in die Strömung hinein.
Doane, mit einer Laterne in der Hand, geleitete Seine Exzellenz, Hui Fei und die weinerliche kleine Prinzessin in die unteren Räume; dann kehrte er zurück und führte mit derselben unpersönlichen Höflichkeit Fräulein Carmichael hinunter. An der Tür, auf die er deutete, stutzte sie plötzlich und wiegte sich einen Augenblick auf den Ballen ihrer Füße. Dann ließ sie sich von ihm die Laterne einhändigen, biß die Lippen zusammen und ließ den Türvorhang hinter sich fallen ohne Antwort auf seinen guten Rat, sie solle doch zu schlafen versuchen.
Als sie allein war, hielt sie die Laterne in die Höhe. Der Fußboden war gescheuert worden, aber trotzdem war ein großer Flecken im Holz nicht zu verkennen. Und ein Lager aus Matten war aufgeschichtet, wo sie jenen grausigen Haufen hatte liegen sehen.
* * *
Eine Weile stand Dixie an dem kleinen viereckigen Fenster und schaute über den schimmernden Fluß hinüber zu dem undeutlich sichtbaren nördlichen Ufer mit seinen Bergen. Ihrem raschen lebhaften Geist war der Schlaf nie ferner gewesen. Ihre schmalen Hände tasteten durch die Bluse nach den Perlenschnüren, die um ihre Mitte gewunden waren. Fest preßte sie die Lippen zusammen. Diese Perlen stellten ein Vermögen dar, das ihre kühnsten Träume weit überstieg. Sie erfolgreich versteckt zu halten während der Tage und vielleicht Wochen, die diese Fahrt dauern konnte, mit diesen zwei scharf beobachtenden Männern und einem halbverrückten amerikanischen Jungen und listigen chinesischen Frauen an Bord, war eine Aufgabe, die starke Nerven und die Fähigkeit, stets wieder einen Ausweg zu finden, erforderte. Das traute sie sich aber zu.
Jetzt, wo die wirren Ereignisse des letzten Tages und der letzten Nacht hinter ihr lagen, durchrieselte sie ein Wonneschauer, wenn sie sich diese Aufgabe überlegte und dabei mit ihren fein empfindenden Fingern immer wieder die harten Kügelchen drückte. Tex Connor war nicht mehr da, und Manila Kid war nicht mehr da; niemand hatte eine Stimme dabei oder konnte einen Anteil verlangen. Ihr war alles erreichbar – Reichtum, Macht, vielleicht mit der Zeit sogar etwas wie Ehrbarkeit. Denn Geld, genügend Geld, das wußte sie, bringt sogar dies zustande. Wenn sie sich jetzt ihrer Aufgabe nicht gewachsen zeigte, lag nichts vor ihr als ein Abenteurerleben an der chinesischen Küste, ohne ein Ziel, ohne eine rechte Hoffnung; nichts hatte sie dann vor Augen als erbarmungslose Jahre, die sie nur älter und älter machten.
Mit der Laterne in der Hand schlich sie auf den Zehen umher, um ein Versteck für ihren Schatz zu finden. Dann aber überlegte sie noch einmal. Sie mußte irgendwie die Perlen an ihrer eigenen Person verstecken, aber nicht wie jetzt unter ihrer Bluse. Eine ganz zufällige Berührung konnte da unangenehme Fragen veranlassen.
Sie stellte die Laterne beiseite und stand dann lange Zeit horchend hinter ihrem Türvorhang. Von rechts und links im Gang drang nur das schwere Atmen erschöpfter Menschen an ihr Ohr … Sie schaute sich um. Die Laterne brannte noch, aber die Kerze darin war nur noch ein kleines Stümpfchen. Jetzt sah sie jedoch eine eiserne Lampe stehen, ein offenes Schälchen voll Öl, darin ein Docht schwamm; diesen zündete sie mit dem Kerzenstümpfchen an. Danach befestigte sie den flatternden Türvorhang mit Schließnadeln. Schnell schlüpfte sie aus Bluse und Rock; dann setzte sie sich auf das Lager von Matten, mit dem Rücken gegen die Tür und fing geduldig an, die Perlenschnüre auf ihrer Unterkleidung festzunähen. Es war eine Riesenarbeit. Lange vor Tagesanbruch war das Lämpchen ausgebrannt, und aus Angst, sie könnte einschlafen und mit dem erstaunlichen Schatz um sie her ertappt werden, stellte sie sich ans Fenster und ließ sich den Wind ins Gesicht wehen, bis der grauende Tag ihre Arbeit wieder möglich machte. Die Schläfrigkeit, die sie jetzt überwältigen wollte, verscheuchte sie mit eiserner Willenskraft. Nur einmal erlag sie einen Augenblick der Versuchung, die wundervollen Kügelchen in der Hand zu wägen, sie nahe ans Licht zu halten und sich dieser köstlichen Erregung hinzugeben. Dann nahm sie ihre Arbeit wieder auf. Als nützliche geistige Beschäftigung zählte sie die Perlen, – eintausend – zweitausend, dann – die Sonne war rot aufgegangen und es wurde lebhaft an Deck – dreitausend. Im ganzen waren es etwas mehr als dreitausendsiebenhundert Perlen, die sie an ihrer Unterkleidung festnähte; dann schlüpfte sie wieder in Rock und Bluse, ehe sie sich einige Stunden Schlaf gönnte. Die Diamantenschließen wickelte sie in ein Stück Stoff und steckte sie in ihre Ledertasche.
Von der chinesischen Dienerin wurde sie geweckt, als diese ihr das Frühstück brachte. Dixie konnte jedoch nur wenig genießen; aber dabei fiel ihr etwas ein. Sie verstand zu kochen, und im Lauf des Tages machte sie Herrn Doane auf diese ihre Geschicklichkeit aufmerksam. Es wurde eine kleine Notküche eingerichtet, und Fräulein Carmichael machte sich mit kühler Freundlichkeit an ihre Arbeit. Sie hatte nicht im Sinn sich aufzudrängen; sich selbst immer gleichzubleiben, erschien ihr als das beste. Damit, wußte sie, konnte sie ihren Weg machen; man würde sie achten und selbst schätzen. So konnte sie völlig zurückhaltend bleiben und damit die andern zu der gleichen Zurückhaltung nötigen. Das war alles, was sie brauchte.
* * *
Woran sich Rocky Kane von dieser ereignisvollen Nacht am wenigsten mehr genau erinnern konnte, das war an eine Unterredung, die er mit Hui Fei hatte. Sie war an Deck heraufgekommen und müde auf einen Liegestuhl gesunken. Zuweilen sah er sich selbst in der Erinnerung, wie er, getrieben von tiefster Erregung, vor ihr stand und leidenschaftlich auf sie einsprach.
Keine von seinen glühenden Liebesbeteuerungen, die bald demütig bittend, bald kühn und entschlossen fordernd ausklangen, hatte sein Geist mit vollem Bewußtsein gebildet; aber sie waren der leidenschaftliche Ausdruck eines entflammten Herzens.
Was sie ihm mit ruhiger Überlegung antwortete, verwirrte ihn ganz.
»Ich will nicht haben, daß Sie so zu mir reden.«
»Aber wie könnte ich es lassen? Sie sind so wundervoll, Sie erregen mir das Herz. Mein ganzes Sein ist in Sie gegründet – ich kann nur noch mit Ihnen leben – oder gar nicht mehr.«
Sie jedoch – auch in dem hellen Morgenlicht eigenartig, reizvoll, anbetungswürdig – nahm die Sache mehr praktisch.
»Sie sind ein sehr romantischer Junge«, sagte sie.
»Nein, das bin ich nicht! Es ist mein voller Ernst! Können Sie denn nicht begreifen, daß dies Liebe ist – für immer und ewig!«
»Bitte! Sie sollen nicht meinen, ich verstehe Sie nicht. Es ist sehr lieb und großmütig von Ihnen –«
»Ich bin nicht großmütig! Ich muß Sie haben!«
»Ich weiß das wohl zu schätzen. Sie bieten mir so viel –«
»Liebstes Mädchen, ich biete Ihnen alles, alles was ich bin und habe! Nur noch an Ihrer Seite will ich künftig leben!«
»Aber ich glaube nicht – Bitte! Ich möchte Ihnen durchaus nicht schaden. Sie haben so geholfen – geholfen, mir und meinem Vater das Leben zu retten. Es ist wunderbar, aber, so ist das Leben nicht. Man muß so viel Gemeinsames haben, um zu heiraten, wie die im Westen. Man muß einander lieben – ja. Und Herz und Geist müssen so viel zu teilen haben – den ganzen Hintergrund …«
»Hören Sie!« rief er, ganz trocken im Hals. »Wir wollen in Schanghai sofort heiraten. Wir müssen! Ich nehme kein Nein an! Und dann gehen wir nicht nach Amerika zurück; wir bleiben hier in China. Ich habe Geld genug, auch ohne den Vater. Wir wollen zusammen diesen Osten studieren; mein ganzes künftiges Leben will ich dem weihen. Damit haben wir dann, was uns gemeinsam wichtig ist. Nie mehr werde ich etwas anderes nötig haben!«
»Wie wollen Sie das wissen?«
»Zweifeln Sie daran?« Er hielt ihre beiden Hände fest und küßte diese. Er schien so jung, so voll Eifer. Er wollte kämpfen um das, was er so brennend wünschte, wie sein Vater vor ihm sich alles erkämpft hatte, was er haben wollte.
»Nein –« ihre Stimme klang überraschenderweise etwas unsicher – »Natürlich bezweifle ich nicht, was Sie sagen. Aber wie können Sie wissen, was Sie wünschen werden – in vielen Jahren? Das verstehe ich nicht. Das kommt mir sehr romantisch vor. Das wüßte ich von mir nicht. Das könnte ich nicht sagen.«
Dies, oder vielleicht die Tatsache, daß sie sich nicht zu seiner Begeisterung aufschwingen konnte, schmetterte ihn in alle Tiefen hinunter.
»Sie oder nichts! heißt es jedenfalls jetzt!« rief er und wiederholte: »Sie oder nichts!«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich muß Sie haben! Wenn ich Sie nicht bekommen kann, dann – oh, ich glaube, dann lasse ich mich in aller Stille über Bord fallen. Was hilft's denn?«
»Ist das recht, daß Sie so reden?«
»Vielleicht nicht, aber ich glaube, ich bin außer mir.«
»Hören Sie mir zu«, sagte sie jetzt und drückte ihm freundschaftlich die bebenden Hände. »Ich meine, das Richtige für Sie wäre, wieder ins College zurückzugehen.«
Das gab ihm einen Stich. »Wie können Sie so reden, wenn ich –« rief er.
»Ich will Sie nicht verletzen. Aber bitte, überlegen Sie sich das.«
»Haben Sie denn gar kein Gefühl für mich?«
»Natürlich bin ich sehr dankbar.«
»Um Gottes willen, reden Sie nicht so!«
Es entstand eine Pause. Er zog seine Hände zurück und schlug sie vor sein brennendes Gesicht.
Sie erhob sich müde von ihrem Sitz und sagte: »Ich möchte versuchen zu schlafen.«
»Und Sie können gehen! Mich so verlassen?«
»Bitte! Ich muß –«
»Oh, ich begreife –« Er stand vor ihr und packte ihre Arme mit starken jungen Händen. – »Wir Kanes geben niemals nach, und ich gebe Sie nicht auf. Ich werde Sie doch noch gewinnen! Ich kann doch sonst nicht leben .. Hören Sie! Sie sind das lieblichste, reizendste Mädchen auf der Welt. Sie sind unvergleichlich. Ihre Stimme ist Musik in meinen Ohren. Diese Musik muß mein Leben begleiten. Das wird wunderbar werden! Sehen Sie das denn nicht ein? Es ist mir einerlei, wie lange Zeit bis dahin vergeht. Ich mache das zu meiner Lebensaufgabe. Aber ich will Sie gewinnen. Und wir heiraten in Schanghai.«
Er war jetzt beinahe unwiderstehlich; es war wahre Kraft in ihm. Sie brach auf, und dann – zu ihrer eigenen Überraschung – stockte ihr Fuß. Es war ihr selbst merkwürdig, aber dieser feurige, immer noch etwas unmögliche junge Mann mit seiner lebensvollen westlichen Kraft hatte wahrhaftig eine Atmosphäre der Romantik geschaffen, die sie einhüllte. Sie war sich ganz klar, daß sie sich dieser entziehen müsse, und dennoch zögerte sie.
Wieder ergriff er ihre Hände und bedeckte sie mit Küssen; er hielt sie fest, während seine plötzlich strahlend gewordenen Blicke in die ihren tauchten und sie einen Augenblick gefangen hielten. Dann ging Hui Fei hinunter in die Kabine. Und Rocky sank auf den Deckstuhl, und mit einem Lächeln auf dem Gesicht schlummerte er ein.
* * *
Während dieses sonnigen, träumerischen Nachmittags hörte Doane die beiden verschiedentlich sich unterhalten. Sie nahmen die angenehme Galerie hinten im Schiff beinahe vollständig für sich in Beschlag.
Die beiden trieben augenscheinlich immer tiefer in ihre Liebesgeschichte hinein. Er konnte sich nicht enthalten, sie zu beobachten. Trotzdem sein eigener Glückstraum vorüber war, fühlte er doch wie ein Jüngling; wenn er Hui Fei nur sah, so schlugen seine Pulse höher, und seine Gedanken umschwebten sie beständig. Erinnerungsbilder standen vor seinem geistigen Auge, die sein Herz, wenn auch nie seinen Verstand in Verwirrung setzten – wie sie die Leiter heraufgeklettert war und ihm zuerst ihr trauriges Geschick anvertraut hatte, der Tanz, während dessen sie bei ihm saß … Er schalt sich oft genug einen Narren und lebte einfach im Krieg mit sich selbst. Derartiges geschah natürlich oft genug im Leben; jeder Mann mußte solche Zeiten durchmachen, besonders die Männer mittleren Alters … So machte sich seine Vernunft immer wieder geltend; es war dies alles, was er zu tun vermochte.
Zu erwarten, Hui Feis rasche Jugend werde Rockys Jugendfeuer widerstehen, wäre natürlich zu viel verlangt gewesen. Die jungen Leute waren jedenfalls hilflos ihren durch die letzten Ereignisse erregten Gefühlen gegenüber; und nun waren sie noch auf diese romantische Weise hier auf der Dschunke beieinander.
Gegen Abend sangen sie leise allerlei, selbst fröhliche Lieder, miteinander. Daß sie zufällig dieselben Lieder kannten, das mußte ein hübsches Band zwischen ihnen sein; die Jugend ist einmal so einfach … Ohne sich dessen irgendwie zu schämen, hing Rocky an jedem Wort, das sie sprach, an jeder Bewegung, die sie machte; hilflos stand er herum, wenn sie in ihre Kabine ging, fuhr bei jedem Ton auf, befand sich in der düstersten Stimmung und strahlte, wenn sie wieder erschien. Er hatte sogar sanfte Augenblicke … Welches Mädchen könnte dem allen gegenüber gefühllos bleiben? Doane selbst ging den beiden natürlich aus dem Wege. In diesem Entwicklungszustand ihrer Liebesgeschichte war nichts anderes möglich.
Am zweiten Nachmittag erschien auch Seine Exzellenz an Deck und grüßte Doane freundlich; der alte Mann sah in seinem Dienergewand – blaues Kleid, glatte Tuchschuhe und ein Hauskäppchen mit einem Knopf aus roter Seide – sehr einfach aus. Sie gingen zusammen auf dem Deck auf und ab; später setzten sie sich auf eine Taurolle.
»Bald werden wir uns trennen, Griggsby Doane«, bemerkte er. »Ich werde viel an Sie denken. Wissen Sie schon, wohin Sie gehen und was Sie tun wollen?«
»Nein«, erwiderte Doane. »Alles, was ich tun kann, ist dies: immer das Nächste, was notwendig wird, zu erledigen, was dies auch sein mag.«
»Sie wollen China helfen?«
»Ich hoffe, Gelegenheit dazu zu finden.«
»Sie sind aber, zuerst und zuletzt, dennoch ein Kind des Westens.«
»Das ist wohl richtig.«
»Ich hielt Sie für einen Philosophen, Griggsby Doane, wie unsere demütigen Großen, beinahe wie Tschuang Tzü selbst. Aber im kritischen Augenblick war Ihr ganzes Wesen nur Handlung. In solchen Augenblicken sind wir Kinder des Ostens stets geneigt, negativ zu sein. Wir sind ein statisches Volk, aber Sie sind, wie Ihr Volk, dynamisch.«
Diese scharfsinnige Bemerkung gab Doane sehr zu denken. Wenn er genau überlegte, war sie richtig.
»Im kritischen Augenblick haben Sie keinen Gedanken an Betrachtungen verschwendet. Sie haben das Kommando übernommen, Sie haben gehandelt. Infolge davon – sind wir hier … Ich glaube, Sie haben recht gehabt. Jedenfalls habe ich Ihrem Urteil, das zur Tat drängte, nachgegeben. Das hat meine Tochter gerettet.«
»Und ebenso Euere Exzellenz, wenn es erlaubt ist, das zu sagen.«
»Sehr gut – auch mich … Ich werde jetzt immer an Sie denken, wie ich Sie zweimal gesehen habe – das erstemal in jenem sonderbaren Boxkampf auf dem Dampfer; und dann wieder, als Sie das Kommando über mich und mein Haus übernahmen. Ich bedauere, daß ich als Mandschu, wenn auch noch so fortschrittlich gesinnt, Ihnen bei den Republikanern nicht von Nutzen sein kann. In ihrem Lager wird Ihr Rat wertvoll sein. Nur dort. Beabsichtigen Sie, zu ihnen zu gehen?«
Doane fand es unmöglich, die Aufforderung Sun-Schi-pis zu erwähnen. Das war eine heilige Vertrauenssache; darum war seine Antwort mehr allgemein gehalten:
»Ich würde gerne mit in Ihrem Rate sitzen; sie scheinen zur Zeit die einzige wirkliche Hoffnung für China darzustellen. Allerdings bin ich, was den Erfolg der Revolution betrifft, nicht sehr vertrauensvoll. China ist so unendlich groß und so in seine Überlieferungen versunken, daß die wahre Revolution nur betrübend langsam voranschreiten kann. Aber ich liebe China und ich möchte ihm gerne helfen.«
»Sie sind ein großer Mann, Griggsby Doane. Sie haben Kummer und Armut kennengelernt. Von einem stets erfolgreichen Amerikaner würde ich keine wahre Führung erwarten. Aber China braucht Sie, und ich hoffe, es wird dies zur richtigen Zeit erkennen.«
Ihre Unterredung ging noch weiter und berührte eine Menge Gegenstände. Seine Exzellenz stellte dabei sanfte, gelegentlich auch recht seltsame Betrachtungen an. Endlich kam er auch, zuerst nur beiläufig, auf Rocky Kane zu sprechen, und nach einer Weile fragte er etwas offener, was wohl des jungen Mannes Stellung in New York sein werde.
Darüber dachte Doane erst sehr sorgfältig nach. Es war sonderbar, wie sich verwirrende Gefühle hier vordrängen wollten. Aber endlich setzte er auseinander, Rocky Kane sei zwar jung und habe eine wilde Zeit hinter sich; sein Vater jedoch sei ein ungeheuer einflußreicher Mann sowohl in der Gesellschaft wie in der Finanzwelt. Der junge Mann habe gute Eigenschaften. Richtige Beeinflussung vorausgesetzt und dazu mit dem Reichtum, der ihm mit der Zeit zur Verfügung stehen werde, könne er, wie sein Vater, eine große Macht im amerikanischen Leben werden.
»Ich weiß mir nicht recht zu raten«, bemerkte darauf Seine Exzellenz. »Er scheint von meiner Tochter sehr hingenommen zu sein. Ihren Gemütszustand kann ich nicht recht ergründen. Aber ich möchte nicht gerne über ihr Leben die Entscheidung treffen, wie es notwendig würde, wenn sie einfach als ein Mandschu-Mädchen erzogen wäre. Meinen Sie, sie sei, wie Sie diesen Ausdruck verstehen, in ihn verliebt? Ihre jetzigen Beziehungen finde ich sehr beunruhigend.«
»Das ist wohl sehr schwer zu sagen, Euer Exzellenz«, erwiderte Doane einfach und ernsthaft. »Der junge Mann jedenfalls ist sehr verliebt in sie.«
»Ah! – Sind Sie dessen sicher?« fragte Seine Exzellenz.
»Ja. Sie ist augenscheinlich an den spielerischen Verkehr mit angenehmen jungen Männern gewöhnt, wie ihn die jungen Mädchen in Amerika im Gebrauch haben. Es kann ihr sicherlich mit Ruhe überlassen werden, sich selbst ihre Neigungen zu bilden. Sie ist nicht nur ein schönes, sie ist auch ein edeldenkendes Mädchen.«
»Denken Sie wirklich so von ihr, Griggsby Doane? Das klingt angenehm in meinen Ohren. An der Wendung, die ich ihrem Leben gegeben habe, sind meine Träume von dem neuen China und der Neuen Welt schuld. Ich möchte nicht, daß sie jetzt eine verkehrte Wahl träfe. Aber ich verstehe sie nicht, und es ist schwierig für mich, frei mit ihr zu reden.«
»Ich bin überzeugt, wenn Sie sich dazu überwinden könnten, würden Sie sie sehr glücklich machen«, sprach Doane langsam; wie schon ein oder zweimal in Augenblicken tiefen Gefühls vergaß er dabei die indirekte orientalische Art der Anrede.
»Das glauben Sie, Griggsby Doane?« Seine Exzellenz überlegte. »Ich will den Versuch machen.«
»Wenn ich einen Vorschlag wagen darf – reden Sie mit ihr nicht als Vater mit der Tochter, sondern auf dem Fuße der Gleichberechtigung, als Freund zum Freunde.«
Langsam erhob sich Seine Exzellenz, und Doane, der ebenfalls aufstand, fand zum erstenmal, daß der feine alte Staatsmann wirklich so alt aussah, als er war. Er machte, wie er so dastand mit einem etwas ernsten Lächeln auf den Lippen, den Eindruck eines alten, ja fast gar eines gebrochenen Mannes. Und nun griff seine magere, dünne Hand nach Doanes großer Tatze und drückte sie in der Art des Westens. Das war eine Überraschung und augenscheinlich für Kang ebenso ergreifend wie für Doane. Einen Augenblick standen sie Hand in Hand schweigend da.
»In der letzten Zeit ist es meine innigste Hoffnung gewesen –« sagte der große Mandschu, und die glatte Kruste des Formenzwangs gab für einmal der inneren Bewegung Raum – »das Herz meiner Tochter könnte Ihnen anvertraut werden, Griggsby Doane.«
Wieder Schweigen. Dann sagte Doane:
»Das war auch meine Hoffnung.«
»Dann –«
»Nein. Es ist offenbar unmöglich. Das ganze Leben liegt noch vor ihr. Dieser Gedanke ist ihr noch gar nicht gekommen und wird es auch nicht. Ich sehe jetzt ein, daß sie mit mir nicht glücklich werden könnte. Ich muß Sie bitten, davon nicht mehr zu reden. Jugend will zu Jugend. Lassen Sie mich ihr Freund sein.«