Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als die Sonne am Himmel höher stieg, kam eine große Dschunke seiner eigenen Flotte, um Seine Exzellenz abzuholen. In einem kleinen Boot wurden alle an Bord gebracht, Kang mit seinen Töchtern und seinem ganzen Gefolge, eine Handvoll jämmerlich weinender Frauen, der junge Kane und Griggsby Doane. Dann wurden die Trossen losgeworfen, und die Dschunke arbeitete sich den Strom hinauf, dem alten Stammsitz Seiner Exzellenz entgegen.
Enggedrängt in den wenig einladenden Kabinen, suchten die müden Reisenden noch einige Stunden zu schlafen. Nur Rocky Kane ging mit blassem Gesicht und ins Weite starrenden Augen auf dem Deck hin und her, bis ihm einfiel – ein vollkommen neuer Gedanke im Leben dieses ungestümen Jünglings –, er könnte damit die Schlafenden unter sich stören. Da ging er auf die überhangende Galerie, setzte sich auf das Geländer aus Bambusstäben und schaute sinnend in das fließende Wasser hinunter.
Alles, was gut war in dem jungen Mann, drängte sich jetzt in ihm nach oben, und was er dabei empfand, war äußerst schmerzlich. Er kam sich jetzt wie ein unglaubliches Ungeheuer vor. Zu Hause hatte er wilde Dinge gemacht, hatte Ausschweifungen begangen, die nun plötzlich in hellem Lichte vor ihm standen; ebenso achtlos begangene Untaten in Japan und Schanghai; der beständige Kampf mit seinem Vater, wobei ihm jegliche Ausflucht recht erschienen war; aber heller als alle diese Erinnerungen, die in rasender Eile an seinem überhell wachen Geist vorbeizogen, stand vor ihm sein unverzeihliches Benehmen auf dem Schiff. In diesem Augenblick war ihm nicht möglich, sich klarzumachen, daß er mit der Prinzessin Hui Fei jetzt auf gutem Fuße stand; er konnte sie nur in dem farbigen Mandschu-Gewand vor sich sehen, das sie getragen hatte, als er sie so roh anfiel. Und dann die häßlichen Erlebnisse mit dem seltsamen Mädchen, das als Dixie Carmichael bekannt war! Dieser Teil seiner Erinnerungen war ihm jetzt ein drückender Alp …
Eine fröhliche Stimme rief ihn, und im nächsten Augenblick kletterte ihm die kleine Prinzessin mit der gelben Fuchskopfhaube auf den Schoß. Sie kam zu ihm wie Genesung. Zusammen beobachteten sie die tauchenden Scharben und die watenden Wasserbüffel. Dann suchte er, bis er ein Brettchen und einen Knäuel Bindfaden fand. Aus dem Brettchen schnitzte er ein flaches Boot, steckte einen kleinen Mast in die Mitte mit einem weißen Segel aus einem Stück Papier und ließ es hinten ins Wasser hinunter. Nebeneinander hingen sie über die Reling, sahen zu, wie ihr Fahrzeug über die Wellchen hüpfte, und lachten, als es kenterte und sein Segel einbüßte.
Nachher kletterte sie wieder auf seinen Schoß und schalt ihn aus wegen der unverständlichen englischen Laute, die aus seinem Munde kamen und machte ihm Zeichen, er solle rauchen; da zeigte er ihr seine von Wasser ganz durchtränkten Zigaretten.
* * *
Ein halblauter Ruf in seiner Nähe machte, daß er erschreckt herumfuhr. Der große Eunuch kam rasch daher, um das Kind abzuholen. Und neben ihm kam Hui Fei, die natürlich noch immer das chinesische Kleid trug, in dem sie von dem Dampfer gerettet worden war; jetzt in der warmen Sonne hatte sie den sonderbar modernen Theatermantel abgelegt. Sie kam ihm vor wie eine Fee, ein unirdisches Geschöpf, ihm weltenfern entrückt.
»Wir suchen meine kleine Schwester«, erklärte sie und kehrte halb wieder um. Der Eunuch war mit dem Kind bereits verschwunden.
»Wollen Sie nicht bleiben – hier bei mir?« begann er zögernd. »Das heißt, wenn Sie nicht zu müde sind zum Plaudern.«
»Ich konnte nicht schlafen«, bemerkte sie und trat langsam zu ihm auf die Galerie hinaus.
»Hier sind keine Stühle«, sagte er. »Vielleicht kann ich einen finden –«
»Es ist mir einerlei«, erwiderte sie, ließ sich langsam auf den Boden sinken und lehnte sich müde ans Geländer. Er setzte sich in einer Ecke zurecht.
»Ich konnte auch nicht schlafen«, fing er an. »Sehen Sie, Miß Hui – Miß Fei –« er brach in ein verlegenes Lachen aus – »Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie ich Sie anreden soll.«
Über den Zug von Jungenhaftigkeit, den er da verriet, mußte sie beinahe lächeln. Wie ein Junge sah er aus, als er hier errötend mit untergeschlagenen Beinen – ohne Rock und ohne Kragen, mit verwirrten Haaren dasaß und sein Taschenmesser immer wieder in die Planken stieß.
»Meine Freunde nennen mich Hui«, sagte sie einfach.
»O wirklich! Darf ich – wenn Sie erlaubten – ich weiß natürlich, daß – aber meine Freunde nennen mich Rocky. Rockingham Bruce Kane ist mein ganzer Name. Aber …«
»Ich werde Sie Herr Kane nennen«, sagte sie.
Er machte ein etwas langes Gesicht, faßte sich aber rasch wieder.
»Sie müssen sich sicherlich gewundert haben – es sah gewiß ganz verrückt aus – daß ich mich Ihnen aufgedrängt habe – in so schwerer Zeit. Ich weiß, ich habe in der Eingebung des Augenblicks gehandelt, aber …«
»Wir wissen, daß Sie uns helfen würden, wo Sie könnten. Und Sie waren so wundervoll!«
»Wenn ich nur helfen könnte! Sehen Sie, als ich Ihnen sagte, daß ich Sie liebe –«
»Bitte, davon wollen wir lieber nicht sprechen.«
»Nein, nur dies eine. Ich war außer mir. Aber damals schon, oder doch bald darauf wußte ich, daß es nichts als die reine Selbstsucht war.«
»Auch dies sollen Sie nicht sagen. Bitte!«
»Nein – nur dies. Sie kennen mich ja nicht – alles, was Sie von mir wissen, ist zu meinen Ungunsten –«
»Ich habe es vergessen.«
»Das können Sie niemals vergessen. Ich muß zuerst versuchen, das Recht zu erwerben, wirklich Ihr Freund zu sein. Ich habe – heute – ein neues Leben angefangen. Aber bitte, glauben Sie doch, daß ein wenig gesunder Menschenverstand in mir steckt.«
»Oh, ich bin überzeugt –«
»Daß ich über Bord gesprungen und zu Ihnen zurückgeschwommen bin, das war nicht nur so ein verrückter Einfall, wie so vieles, was ich getan habe. Sehen Sie, mein Vater kennt Sie und Ihren Vater – ich meine die große Not, in der Sie jetzt sind. Mein Vater erfährt alles, früher oder später. Ich meine die Tatsachen. Er – nun, er wollte, ich sollte nicht mehr an Sie denken. Er hatte Angst, ich könnte an Sie schreiben oder so. Er hatte gesehen, daß wir am Feuer miteinander sprachen, und er hat mir diese – diese schreckliche Sache mitgeteilt. Und dann mußte ich zurückkommen – das sehen Sie doch ein? Ich konnte Sie doch nicht so im Stich lassen! Es ist natürlich sehr wahrscheinlich, daß ich hier nur im Weg bin.«
Ein müdes Lächeln lag ergreifend um ihren Mund.
»O nein –« fing sie an.
»Die Sache ist so«, fuhr er ungestüm fort. »Vielleicht kann ich doch helfen. Jedenfalls werde ich es versuchen. Wenn Ihr Vater – wirklich –« Er sah den Schauder, der ihren zarten Körper schüttelte, und brach ab. »Wir müssen für Sie sorgen«, sagte er mit überraschendem Ernst und großer Sanftmut. »Sie müssen mit den Weißen zurückkehren; sie dürfen nicht bei den Gelben bleiben.«
»Ich weiß«, sagte sie und ihre Stimme hatte alle Kraft verloren. »Ich meine immer, ich sei eine Amerikanerin, aber dann werde ich wieder verwirrt. Es ist so schwer!«
»Ich ermüde Sie, und das darf ich nicht. Nur noch dies: Denken Sie daran, daß ich alles weiß. Zur Zeit habe ich mit meinem Vater gebrochen, und ich freue mich darüber. Ich habe eigenes Vermögen – nicht viel. Ich habe sogar einen nassen Kreditbrief hier in der Tasche; ich habe gestern nacht gerade noch Verstand genug gehabt, ihn aus meinem Rock zu nehmen. Ich will helfen. Und ich möchte die Überzeugung haben, daß Sie sich an mich wenden, wenn Sie etwas brauchen – irgend etwas – und was das andere betrifft –«
Er hatte gemeint, er spreche ungewöhnlich klar und kühl, allein jetzt versagte ihm die Stimme. Er blickte schüchtern zu ihr hinüber und sah, daß ihre Augen voll Tränen standen. Er mußte wegsehen, und eine Weile saßen sie einander schweigend gegenüber.
Dann kam ihm der Gedanke: ich bin hier, um zu helfen. Es war ein aufregender Gedanke; noch niemals in seinem Leben, soweit er sich erinnerte, hatte er je geholfen. Und doch waren die Kanes tätige Menschen; sie waren stark und kräftig.
Nachdenklich schnickte er das Messer in die Höhe und versuchte das so zu machen, daß die Spitze in dem weichen Holz des Fußbodens steckenblieb. Plötzlich sah er mit einem überraschenden Lächeln auf und fragte: »Haben Sie je Messerwerfen gespielt?«
Ihre sorgenvollen Blicke trafen in die seinen, und er kicherte wieder ganz jungenhaft. Da brach auch sie in ein nervöses Kichern aus, und das tat ihr gut.
»Es ist nicht ganz leicht fertigzubringen, daß die Klinge in diesem Holz steckenbleibt«, erklärte er eifrig. »Aber das werden wir jetzt üben.«
* * *
Auch Griggsby Doane vermochte nicht zu schlafen; allein er gehörte zu den starken Naturen, die wenig Bedürfnisse haben und lange Arbeit und große Anstrengung ertragen können, ohne schwach zu werden. Als er dem Hinterdeck zuschritt, sah er die beiden spielen wie die Kinder und trat leise hinter den Mast. Die beiden boten ein reizendes Bild, wie sie leise lachend das Messer warfen. Noch nie war ihm eingefallen, daß der junge Kane Reiz haben könne, und doch war es offenbar der Fall. Und dies war gut für Hui Fei in dieser Stunde trüber Erwartung. Die Jugend hielt sich ganz natürlich zu der Jugend. Er wollte sich zwingen, es in diesem Lichte zu betrachten, aber das Herz war ihm schwer, als er wieder nach vorne ging.
Unablässig erkämpfte sich die Dschunke ihren Weg gegen den Strom. In Gruppen lagen die Schiffbrüchigen auf Deck und schlummerten. Aber Doane wußte, daß in der Kabine des Laopans Seine Exzellenz wachte, denn er hatte ihn mehrmals sich bewegen hören. Das bedeutete, daß Kang seine letzten Aufzeichnungen fertigmachte, unzweifelhaft auf die allersorgfältigste Weise. Es waren vermutlich Denkschriften an den Thron, an seine Kinder und an seine Freunde, abgefaßt in klassischer Sprache und reich an literarischen Anspielungen und Zitaten, die dem Herzen des Gelehrten – Mandschu wie Chinesen – so teuer sind.
Doane fand einen Platz auf einer Taurolle. In dem seltsamen Drama, das ihnen bevorstand, wollte er helfen, soviel er konnte. Sein kleiner Traum von persönlichem Glück mit einer Frau, die er lieben konnte und von neuer, kraftvoller Tätigkeit, war vollständig vorbei.
Langsam, Fuß um Fuß, arbeitete sich das schwerfällige Fahrzeug den Fluß hinauf. Überall, als ob keine Revolution wäre, als ob der alte Fluß niemals Zerstörung und Blutvergießen gesehen hätte, waren die Landleute bei ihrer Arbeit auf den Feldern. Dschunken fuhren vorbei; Pumpenräder drehten sich unaufhörlich; Fischer saßen geduldig wartend und hoben und senkten ihre Netze. Ein großer englischer Dampfer brauste vorbei mit weißen Reisenden aus dem blutigen Hankau an Bord. Sie lagen auf Deckstühlen, diese Weißen oder – zweifellos – spielten Bridge im Rauchzimmer. Und Doanes Gedanken, wie so oft in seinem langen Leben, wandten sich ab von diesen trägen, sich so wichtig dünkenden Weißen, hin zu dem ältesten aller lebenden Völker.
China mußte, so hofften die Herzen derer, die die alten Überlieferungen kannten und liebten – modernisiert werden. Früher oder später mußte die überlebte Herrschaft der Mandschu fallen, und dann mußte die riesige geduldige Menge entweder lernen, selbst zu denken und moderne Organisationen zu schaffen, oder in noch tiefere Erniedrigung versinken. Die europäischen Handelsvölker würden schwer und hart zuschlagen in gemeinsamem Ringen um den noch vorhandenen Reichtum des Volkes; der Japaner würde mit seinem Ränkespiel und seiner eisernen Politik alle ihre Einrichtungen zerstören und sie in eine jammervolle wirtschaftliche und militärische Sklaverei bringen.
Doane überlegte, er müsse sein eigenes Leben der Aufgabe weihen, diesem Volke irgendwie zu helfen. Da er keine Krämerseele hatte und nicht hoffen konnte, mit der weißen Generation, die ihn hinter sich gelassen hatte, wieder in Schritt und Tritt zu kommen, so blieb ihm nichts anderes übrig, als hier außen mit Hand anzulegen. Der Ruf, den der als Märtyrer gestorbene Sun Schi-pi an ihn hatte ergehen lassen, wies ihm den Weg.
Noch einmal wollte er seine Kraft einer großen Sache weihen, aber diesmal ohne die Hoffnungen der Jugend und ohne daß die Liebe an seiner Seite ging. Und nun nahm lockend und winkend das Bild Hui Feis vor seinem geistigen Auge Gestalt an. Seine rasche Einbildungskraft wob wie die eines Jünglings um ihre strahlende Jugend, ihre eigenartige neu-alte Zugehörigkeit zu zwei Welten schimmernde Zauberschleier. So sollte es also sein, daß er weiterleben mußte in Trauer, mit einem lockenden Traum, der nicht sterben wollte … Und er beugte sein Haupt.
* * *
Ihr Spiel entspannte die überreizten Nerven der beiden jungen Menschen. Nach einer Stunde lehnten sie sich behaglich ans Geländer zurück und kamen in ein langes Gespräch. Endlich sagte Hui Fei:
»Ich glaube, jetzt könnte ich schlafen.«
»Das freut mich!« rief er, zog eine Taurolle als Kopfkissen für sie herbei und verließ sie, als sie bald darauf eingeschlafen war.
Doane hörte Rocky kommen, vermochte aber nicht gleich, den Kopf zu heben. Endlich redete ihn der junge Kane in achtungsvollem Tone an: »Herr Doane!«
»Ja?«
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
»Gewiß. Bitte!«
»Ich muß mit irgend jemand reden. Es ist so sonderbar. Sehen Sie, sie und ich – Miß Hui Fei – es war alles wie im Wirbel, ich konnte nicht nachdenken, aber –«
Dieser halbe Satz wurde nie vollendet. Der junge Mann ließ sich aufs Deck sinken und umarmte seine Knie. Doane dachte ernsthaft über ihn nach. Er war jung und schlank und frisch, und es war eine entschiedene Änderung mit ihm vorgegangen; eine gewisse Ruhe war über ihn gekommen, und das unirdische Licht in seinen Augen war nicht zu verkennen. Die Liebe, die Farbe und Sonnenschein und herrlicher Gesang ist, hatte ihn angerührt und verwandelt.
Doane konnte nicht sprechen; er wartete. Der junge Kane kehrte endlich – offenbar mit erheblicher Anstrengung – einigermaßen auf die Erde zurück.
»Herr Doane, glauben Sie an Wunder?« fragte er.
Nachdenklich senkte Doane den Kopf. »Ich bin gezwungen, daran zu glauben«, erwiderte er.
»Sie haben mitangesehen, daß sich Leute geändert haben – ich meine, aus gemeinen, selbstsüchtigen Ungeheuern etwas Anständiges, Brauchbares geworden sind?«
»Das habe ich oftmals erlebt.«
Wieder senkte Doane den Kopf, und lange Zeit schwiegen beide. Es war Rocky, der wieder zu sprechen anhub.
»Würden Sie mir nicht genau sagen, wie Sie über die Heiraten zwischen verschiedener Rasse denken.«
»Nun, – wirklich –«
»Sie müssen doch in all diesen Jahren hier draußen viel beobachtet haben. Mein Vater sagt, Sie seien ein sehr fähiger Mann, nur daß sich Ihnen der Standpunkt etwas verrückt habe. Er hat mir gesagt, daß er Sie gerne mitnehmen möchte, wenn Sie sich nur unserer Art und Weise anbequemen wollten.« Selbst jetzt noch vermochte Rocky dies nur als äußerst schmeichelhaft für Doane zu betrachten. Eifrig fuhr er fort: »Mißverstehen Sie mich nicht. Sie kann mich jetzt noch gar nicht lieben. Ich muß mir erst das Recht erwerben, überhaupt noch einmal davon zu ihr zu sprechen. Aber wenn ich – mit der Zeit – dieses Recht erworben habe, kann ein Amerikaner sie glücklich machen?«
»Ich fürchte, diese allgemeine Frage kann ich nicht beantworten.«
Aber Rocky fühlte, daß Doane ihm gütig gesinnt war. »Mein Vater sagt, ich würde mein Leben vernichten. Er sagt, sie würde sich immer nach zwei Seiten gezogen fühlen. Lieber Gott! Er schien zu denken, ich brauche ihr nur zu winken, und sie würde gleich kommen. Er begreift gar nicht.«
»Nein«, sagte Doane. »Ich glaube auch, er könnte das nicht begreifen.«
»Das fühlen Sie auch? Es ist sehr verwirrend. Ich weiß, ich habe gedankenlos über die Chinesen und Mandschu gesprochen, habe auf sie heruntergesehen. Aber oh, wenn ich es Ihnen nur klarmachen könnte, wie ich jetzt fühle! Wir haben ein langes Gespräch miteinander gehabt, sie und ich. Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß ich dabei eine recht bittere Pille geschluckt habe. Sie weiß so viel. Sie hat so – so hohe Ideale –«
»Gewiß!«
»Oh, Sie haben das auch bemerkt? … Ich komme mir daneben so roh und ungebildet vor, und ich bin es natürlich auch.«
»Ja, das sind Sie – sogar noch mehr, als Sie jetzt fassen können.«
Der junge Mann zuckte, aber er nahm es hin. »Ich will einen neuen Anfang machen«, sagte er. »Ich will es durchfechten. Aber vorausgesetzt, daß ich mich eines Tages würdig erweise, sie zu bitten, mein Weib zu werden – und vorausgesetzt, daß ich sie gewinne … Wenn ich daran denke, daß ich … Ich will so sagen – jedermann in New York, all meinen Bekannten wäre sie eine Sonderbarkeit. Nur eben etwas Neues. Entweder sie würden – teilweise um meinetwillen – eine Ausnahme machen, oder sie würden auf sie heruntersehen. Sie wissen ja, wie sie sind gegen Leute – von anderer Farbe. Wahrscheinlich könnte ich nicht meinen Wohnsitz hier draußen aufschlagen. Das Hauptgeschäft ist natürlich in New York. Und sie selbst ist solch eine begeisterte Amerikanerin. Sie würde – wenigstens zeitweise – in Amerika leben wollen. Und sie soll glücklich sein.«
»Mein lieber Junge, das geht nicht«, sagte Doane gelassen, aber mit einem Übergewicht, das Rocky wohl fühlte. »Sie können nur eines tun.«
»Was denn?«
»Leben Sie erst ein Jahr hier in China, ehe Sie diesem reizenden Mädchen einen Heiratsantrag machen. Studieren Sie die Chinesen, ihre Sprache, ihre Philosophie, ihre Kunst. Ein Jahr ist dafür sehr kurz, aber es könnte immerhin lang genug sein, Ihnen zu zeigen, auf welcher Kulturstufe Sie selbst stehen.«
»Ein Jahr …!«
»Hören Sie mir aufmerksam zu. Die chinesische Kultur war – und in gewissen Hinsichten ist sie es noch – die feinste, die die Welt je hervorgebracht hat – mit einer einzigen Ausnahme.«
»Und diese ist?«
»Die griechische. Sie sehen, ich habe Sie in Erstaunen versetzt.«
»Ja. Ich bin ganz verwirrt.«
»Natürlich. Aber suchen Sie mir nachzukommen. Die Chinesen haben schon vor langer Zeit ihre soziale Philosophie fertig ausgearbeitet. Sie haben einen großen Teil von dem, womit wir erst angefangen haben, schon durchgelebt.
»Jahrhunderte, bevor Europa auf den Plan trat, hat sich bei ihnen eine der herrlichsten Malerschulen, die die Welt je gesehen hat, entwickelt. Es gibt auch keine Schule besinnlicher philosophischer Dichtkunst, die so reif und fein wäre, wie die chinesische.
»Die Chinesen werden vielfach mit den Japanern verwechselt, mit denen sie nur sehr entfernte Ähnlichkeit haben. Alles Beste in Japan – in Kunst und Literatur – ist ursprünglich aus China gekommen.«
»Sie versetzen mir den Atem«, sagte Rocky langsam. Aber er nahm es demütig hin, und das war gut.
»Bitte, hören Sie zu. Was ich mich bemühe, Ihnen klarzumachen, ist dies, daß im alten Zentralchina die Gedanken und die Kunst, die Menschlichkeit und der Glaube, die der halben Welt durch Tausende von Jahren die Quelle der Kultur waren, aufgekeimt sind.
»Aber wenn Sie diese Kultur mit westlichen Augen betrachten, können Sie sie niemals begreifen. Man darf ein chinesisches Landschaftsgemälde oder Bildnis nicht mit Augen betrachten, die nur an europäische Malerei gewöhnt sind. Hinter aller europäischen Malerei steht der Grundgedanke, irgendwie die Natur nachzuahmen, Aber der chinesische Meister hat niemals eine Landschaft nach der Natur gemalt. Er hat sie studiert, sie empfunden, hat ihr seine Seele hingegeben und hat dann die feinen Empfindungen gemalt, die in ihm ausgelöst worden sind. Und vergessen Sie nicht, er malte mit bewußtem technischem Können, das hinter dem der besten europäischen Meister durchaus nicht zurücksteht.«
Der junge Mann pfiff leise. »Halten Sie ein, Herr Doane, bitte. Das geht vollständig über meinen Horizont. Ich verstehe nichts von unserer Malerei, von der chinesischen ganz zu schweigen. Ich habe nicht viel Zeit darauf verwendet, zu –« Er stockte und runzelte die Brauen vor Anstrengung, seine Gedanken in solch neue Kanäle zu leiten. »Aber sie würde es verstehen«, fügte er leise und aufrichtig hinzu.
»Ganz richtig, sie würde es verstehen. Das ist es, was ich Ihnen klarzumachen suche.«
»Aber Sie – Sie überwältigen mich.«
»Mein lieber Junge«, sagte Doane sehr freundlich, »Sie könnten nach Hause gehen, ins Geschäft eintreten, ein hübsches junges Mädchen Ihres eigenen Blutes heiraten, das nicht tiefer denkt als Sie selbst und dessen Kultur ein ebenso dünner Firnis ist, wie die Ihrige – verzeihen Sie. Ich stelle nur die nackte Tatsache fest.«
»Bitte, fahren Sie fort. Ich versuche, Sie zu verstehen.«
»Und Sie könnten glücklich dabei sein in dem Sinn, wie dieses Wort so häufig oberflächlich benützt wird. Aber jetzt sind Sie hier in China und wollen einer Mandschu-Prinzessin ein Leben an Ihrer Seite anbieten. Sie scheinen sich ja darüber klar zu sein, daß dies seine Schwierigkeiten hätte. Es ist wahr, daß unsere Leute sich in roher Weise über diese feine alte Rasse hoch erhaben dünken. Ich sage Ihnen, studieren Sie China, öffnen Sie Seele und Herz der Schönheit, die sich hier jedem bietet, der sie in sich aufnehmen will. Versuchen Sie, unter der im Verfall begriffenen Oberfläche dieser müden alten Rasse den Genius zu erkennen, der hier noch immer schlummert. Wenn Sie dann zu der Überzeugung gelangen, daß ihre alte Kultur in gewissen Beziehungen besser ist als die unsrige – welche Überzeugung sich mir hier aufgedrängt hat – wenn Sie bescheiden vor Hui Fei treten können – dann fragen Sie sie, ob sie, ob sie Ihre Frau werden will. Dann ist eine Möglichkeit vorhanden, daß Sie sie glücklich machen können. Sonst nicht.«
Doane hielt plötzlich inne. Seine tiefe Stimme klang sehr bewegt, was dem jungen Mann zu Herzen ging, und als er im nächsten Augenblick eine große Hand auf seiner Schulter fühlte, mußte er die Tränen zurückhalten. Der Mann kam ihm wie ein Vater vor, eine Art von Vater, die er nie gekannt hatte.
»Fragen Sie sie nicht, solange in Ihnen noch ein Zweifel zurückgeblieben ist. Sonst kann ich das Leben dieses Mädchens nicht Ihrer Hut anvertrauen.«
Der sonderbare Nachdruck, mit dem diese Worte gesagt waren, ging dem in seine eigenen Gedanken versunkenen jungen Mann verloren.
»Sie haben recht«, sagte er mit gebrochener Stimme. »Ich muß warten. Alles, was Sie sagen, ist wahr – ich habe ihr wirklich nichts auf der Welt zu bieten. Ich bin neben ihr ein unwissender Barbar.«
»Sie haben den großen Reichtum: Jugend!« sagte Doane sanft.
Aber im nächsten Augenblick brach Rocky heftig los mit den Worten: »Wie kann ich denn warten, Herr Doane! Sie – wenn ihr Vater – sie soll doch weggeschleppt werden – soll gezwungen werden, jemand in Peking zu heiraten – jemand, den sie nicht einmal kennt –«
»Ich glaube, nicht, daß dieser Plan gelingen wird«, sagte Doane sehr ernst.
»Warum nicht? Was kann sie tun? Ein Mädchen – allein –«
»Zehntausende von chinesischen Mädchen haben diese Frage schon gelöst. Hier treten sie auf einen unserer Rasse unbekannten Boden. Der Tod – der Gedanke an den Tod – ist ihnen eine ganz andere Sache –«
»Oh!« rief er, scharf den Atem einziehend. »Sie meinen doch nicht, daß sie das tun werde!«
»Aber sie ist doch nicht einer feigen Handlung fähig!«
Mit großer Anstrengung vermochte es Doane über sich, das nackte Wort auszusprechen. »Selbstmord ist in China nicht immer Feigheit. Oftmals ist er das größte Heldentum – bedeutet das Festhalten eines hohen Standpunktes.«
»O nein! Niemals kann –«
»Bitte! Sie stammen aus dem Westen. Ihre Gefühle sind die der jüngeren und – ja, der roheren Hälfte der Welt. Ich muß Sie aufs neue auffordern zu glauben, daß man auch anders fühlen kann. Sie sind aus innerem Antrieb in ein Drama der Alten Welt hineingeraten«, fuhr Doane ruhig fort. »Ja, in ein Trauerspiel. Niemand vermag zu sagen, was sich jetzt weiter entwickeln wird. Sie können es nur mit durchmachen, wenn Sie selbst zum Fatalisten werden. Sie müssen sich von den Ereignissen treiben lassen. Sie können sie jedenfalls nicht zwingen.«
»Aber ich kann sie von hier wegbringen!« rief der junge Mann hitzig und fügte dann lahm hinzu: »irgendwie.«
»Gegen ihren Willen?«
»Nun, sicherlich –«
»Sie will ihren Vater nicht verlassen.«
»Aber – oh, Herr Doane …«
Er schwieg. Lange Zeit saßen sie nebeneinander, ohne ein Wort zu sprechen. Da und dort erwachten die Schläfer auf der Dschunke und gingen hin und her. Einige von den Frauen fingen wieder – etwas gefaßter – zu weinen an. Das Fahrzeug näherte sich jetzt dem rechten Ufer, fuhr an einer gelben Dschunke vorbei, die am Lande vertäut lag, und fuhr noch ein Stück flußaufwärts. In kleiner Entfernung lehnte sich ein braungraues Dörflein an einen Hügel.
»Diese Dschunke ist an uns vorbeigefahren, ehe wir die Insel verließen«, bemerkte Rocky, nur um etwas zu sagen.
Doane schaute mit ihm flußabwärts und horchte dann bei einem Ton wie fernem Donner hoch auf.
»Was ist das?« fragte der junge Mann.
Doane schaute in den wolkenlosen, strahlenden Himmel hinauf.
»Das müssen die Kanonen in Hankau sein«, erwiderte er.
* * *
Die Diener wurden zuerst an Land gesetzt, um in dem Dorf Wagen zu besorgen. Dann fuhren in dem kleinen Boot allmählich alle nacheinander an Land. Seine Exzellenz unterhielt sich lächelnd, mit unerschütterlicher Haltung, mit Doane über die Schönheiten des Flusses und zitierte selbst seinen Lieblingsdichter Li Po, als seine Blicke die Hügel streiften, die den breiten Fluß umsäumten.
Die Vögel alle sind zu ihren Bäumen entflohen,
Das letzte, letzte liebe Wölkchen ist verzogen,
Doch nie ermüden wir in unserer Freundschaft –
Die Berge und ich.
Die Reihe von unbemalten federlosen Karren mit ihren gewölbten Decken aus Matten, gelb vom feinen Staub der Landstraße, bewegte sich quietschend zwischen den Hügeln hin. Dicht dahinter folgten die Frauen und die Diener zu Fuß. Die Dschunke drehte langsam und fuhr wieder den Fluß hinab.
Doane, der einen Sitz im Wagen abgelehnt hatte, schritt neben dem Seiner Exzellenz her; Rocky Kane, totenblaß, mit zusammengebissenen Zähnen neben dem von Hui Fei. Und so gelangten sie durch den friedlichen Landstrich an eine Mauer und an das Torhaus aus schweren Balken, und als sie hier hielten, vernahmen sie ganz schwach das leise Klingeln der Glöckchen drinnen im Park. Es war spät am Nachmittag. Die Schatten waren lang geworden, und die Vöglein zwitscherten in den Baumzweigen dicht hinter der Mauer ihr Abendlied.