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Der schmale, tief ausgefahrene Weg führte um den Fuß eines Hügels herum und stieg dann bergan in ein lehmgraues Dorf, wo sich einige Kinder mit den Hunden herumtrieben, und träge Bettler, Kuchenverkäufer und runzelige alte Weiber dem schlanken weißen Mädchen nachstarrten, das rasch und ganz allein hier vorbeikam. Dann schlängelte sich der Weg weiter an Feldern vorbei und führte bald zu einer Mauer aus grauen Backsteinen, die mit glänzend gelb glasierten Ziegeln gedeckt und mit einer grünen Firstreihe versehen war, und endlich an ein Torhaus mit einem reich ornamentierten Dach aus Holz und Ziegeln. Dahinter tauchten noch andere Dächer auf und dazwischen Baumkuppen, die schon hie und da das Rot und Gelb und Braun der Herbstfärbung zeigten.
Die großen Torflügel aus dicken Planken waren mit eisernen Spitzen versehen; sie standen offen und waren augenscheinlich nicht bewacht. Dixie Carmichael blieb stehen und verzog den Mund. Dies konnte der richtige Ort sein. Während sie in den mit Fliesen belegten Hof hineinschaute, zog sie zwei von den grünen Tabletten aus der Tasche ihrer Bluse; dann trat sie mit diesen in der Hand ein und horchte. Sie vernahm das Rauschen der Blätter in einem leichten Lüftchen und ein leises harmonisches Klingen; dann ein Murmeln, das von einem Durcheinander von Menschenstimmen in der Ferne herrühren konnte; und schließlich einen fast nicht mehr irdisch klingenden Angstschrei einer hellen Mädchenstimme … Ja, dies mußte der Ort sein.
In den Gebäuden rechts und links vom Tore blieb alles still. Die Türen standen offen. Da und dort waren die Papierfenster zerrissen und das hölzerne Gitterwerk eingeschlagen; aber die Blumen und die Zwergbäume aus Japan in Töpfen aus der Ming-Zeit waren unversehrt.
Sie kam durch ein inneres Tor, ging um eine gemauerte Schranke herum und befand sich nun in einem Park. Da war ein kleiner Wasserfall, der über eine Gruppe von künstlich aufgehäuften Felsblöcken rann, und ein Bächlein und ein winziger See. Ein Pfad führte über eine Reihe hochgewölbter Marmorbrückchen in das Gehölz dahinter, und durch die Blätter schimmerten hie und da reichgeschmückte gelbe Dächer. An beiden Seiten standen Pailows, in der prunkenden chinesischen Art geschmückte Zierpforten, und hinter jeder solchen erhob sich auf einem Brückchen ein gedeckter Pavillon … Überlegend schaute Dixie dies alles an; im nächsten Augenblick schlenderte sie unter der Pforte zu ihrer Rechten durch, stieg die dort beginnenden Stufen zu einem der Pavillons hinan und ließ sich darin auf einen reichgeschmückten Sitz hinter einer blätterreichen Schlingpflanze sinken. Hier konnte sie nicht gesehen werden, und doch beherrschte sie mit ihren Blicken das Haupttor und den Weg über die Marmorbrückchen in das Wäldchen dahinter.
Mit einem Gefühl stillen Vergnügens schaute sie um sich und betrachtete das vergoldete Gitterwerk unter den geschweiften Dachrinnen des Pavillons, die buntbemalten Ornamente darüber und die glatten runden Säulen von altem Nanmuholz, das die Farbe welker Eichenblätter hatte und immer noch einen leisen Wohlgeruch ausströmte. Mit einem neuen Lufthauch setzte auch das harmonische Klingen wieder ein, und als sie aufblickte, sah sie vier kleine Bronzeglöckchen an der Dachrinne hängen … Horchend, spähend, nachdenkend, blieb sie ganz still sitzen und sog in tiefen Zügen den köstlichen Wohlgeruch des Nanmuholzes ein. Sie meinte, es könnte eine recht angenehme Sache sein, sich eines Tages ein solches Heim zu mieten oder gar zu kaufen. In solchen Bahnen liefen ihre geschäftigen Gedanken.
Von den Gebäuden in dem Gehölz drang immer noch das Stimmengewirr herüber, das zuweilen anschwoll und dann wieder abflaute. Es wäre an sich kein beängstigendes Geräusch gewesen, wenn nicht von Zeit zu Zeit ein Schuß sich eingemischt hätte. Dixies schnelle Vorstellungskraft malte sich jedoch die Szene aus – wie sie dort umherliefen, einander zuriefen, Türen einschlugen und alles durchstöberten. Wahrscheinlich waren sie auch bereits teilweise betrunken. Viele unvorbereitete, aber ausgesuchte Grausamkeiten wurden wohl verübt, sie schwelgten in jedem denkbaren aufs äußerste gesteigerten Sinnenkitzel. Es verlockte sie, das mit anzusehen. Sie überlegte sich sogar, und ihre Nerven spannten sich bei dem Gedanken, über die Brückchen nach hinten zu gehen; zuletzt blieb sie aber doch bei ihrem ersten Entschluß und wartete weiter.
Es verging eine lange Zeit, eine halbe Stunde oder noch mehr; da erblickte sie Gestalten, die langsam durch das Wäldchen daherkamen. Auf dem hintersten Marmorbrückchen kamen sie dann ganz zum Vorschein. Der eine war Tex Connor, der andere vielleicht – nein, gewiß – Tom Sung. Sie hatten die Arme voll von Kistchen, bei deren Anblick Dixies Pulse leicht zu klopfen begannen; gewiß waren darin die Edelsteine. Es sah aus, als ob Tom lebhaft spräche; als sie das mittlere Brückchen überschritten, fing er gar an zu singen; er taumelte vergnüglich hin und her.
An der Torschranke hielten sie an. Tex Connor sah sich vorsichtig um; dann trat er zur Seite in einen mit Fliesen gepflasterten Raum, der gegen das Tor und den Pfad durch ein Gebüsch von Quittensträuchern geschützt war, und rief Tom, der ihm nachkam.
Durch die Blätter der Schlingpflanze konnte Fräulein Carmichael gerade zu ihnen hinuntersehen. Sie beobachtete genau, wie sie eiligst die Kistchen öffneten und ihre Taschen mit den Edelsteinen füllten. Tom bediente sich eines Feldsteines, um die größeren Diamanten, Perlen und Rubinen aus ihren goldenen Fassungen zu brechen.
Nun gerieten sie in einen leise geführten Wortwechsel. Dixie hörte Tom sagen: »Ich komme bald zurück; aber ich muß ein Mädel haben!« Und er taumelte davon.
Tex Connor schaute ihm zornig nach und griff nach seiner Hüftentasche; aber er überlegte es sich noch einmal. Er hatte Tom nötig, wenn auch nur als Dolmetscher; und Tom, der mit unharmonischem Singsang über die Marmorbrückchen taumelte, wußte das genau.
* * *
Tex Connor wartete, stand unentschlossen da, horchte und schaute bald gegen das Tor, bald gegen das Gehölz hinter den Brücken zu. Das Mädchen in dem Pavillon überlegte scharf. Noch niemals hatte sie in diesem Mann Zeichen von Furcht wahrgenommen, aber sie hatte ihn auch noch nie in einer Lage gesehen, die nicht nur tierischen Mut, sondern auch Verstand und starke Nerven erforderte. In der Tiefe seines Wesens war er ein Prahlhans und Großtuer, und sie wußte, daß diese alle im Grund Feiglinge sind … Die Spur von Achtung, die sie zuzeiten für Tex empfunden hatte, verflüchtigte sich jetzt vollständig, und sie fing an, ihn so tief zu verachten, wie sie beinahe alle Männer ihrer Bekanntschaft verachtete. Immer noch durch die Blätter lugend, sah sie ihn einige Schritte dem Tor zu machen, dann aufschrecken und zurücksehen nach den Marmorbrücken, und endlich zu den noch übriggebliebenen Kistchen zurückkehren.
Er öffnete eines davon – es war von gelber Lackarbeit und reich verziert – und zog etwas hervor, das ihr ein Gewirr von Perlenschnüren zu sein schien. Er wandte sie in der Hand hin und her; breitete sie aus; tastete nach seinen Taschen; endlich knöpfte er sein Hemd auf und schob sie da hinein.
In diesem Augenblick erhob sich Dixie, steckte die grünen Tabletten wieder in die Tasche ihrer Bluse, schüttelte ihre Röcke aus und schritt leichtfüßig die Stufen hinunter. Er hörte sie nicht, bis sie zu sprechen anfing.
»Meinst du, Tom komme wieder zurück, Tex?« fragte sie.
Er fuhr so ungeschickt herum, daß er beinahe unter die Kistchen und die zerbrochenen und zertretenen goldenen und silbernen Fassungen gefallen wäre; dann richtete er sein gutes Auge auf sie, während sein anderes, das Glasauge, ausdruckslos über ihre Schulter starrte.
Kaltblütig schaute sie ihn forschend an – das erhitzte Gesicht, die abstehenden Taschen, das hervorgewölbte Hemd, worein er diese erstaunlichen Reihen von Perlen gestopft hatte.
Nun sagte er stammelnd: »Was tust denn du hier?«
»Ach, ich dachte, ich wollte doch auch nachkommen. Angenommen, Tom bleibt dort und trinkt noch mehr – dann bist du doch einigermaßen aufgeschmissen, nicht?«
»Dann bin ich immer noch nicht schlimmer dran als du.« Er sprach ausweichend und sehr mürrisch. Sie bemerkte, daß er ungeschickt versuchte, seine breite Gestalt zwischen sie und die Kistchen zu stellen.
»Ohne Tom kannst du die Dschunke nicht regieren – wenigstens nicht gut … Sieh her, Tex, die Fremdenniederlassungen in Hankau können nicht sehr weit von hier entfernt sein. Vielleicht treffen wir einen Karren, oder wir können es auch zu Fuß machen.«
»Was sollte das helfen?«
»Wir finden dort Dampfer, die hinunter nach Schanghai fahren.«
»Und uns findet die Polizei und schleppt uns wieder an Land.«
»Wieso? Was können sie uns anhängen?«
Tex Connors Blicke wanderten zurück zu dem Wäldchen und den Gebäuden. Er atmete schwer. »Nach dem allem …«knurrte er. »Du weißt doch, dieser alte Vizekönig wird hier erscheinen. Und mit ihm seine ganze Bande. Und hier sind Leute genug, die schwatzen können …« Er gab sich jetzt Mühe, den einen Arm vor seine Mitte zu halten, um damit den hier verborgenen Schatz zu verdecken.
Fräulein Carmichaels Blick folgte dieser Bewegung, und ein spöttisches Lächeln flatterte um ihre Mundwinkel. Sie sagte: »Diese Perlen sind wohl für mich, Tex?«
Er starrte sie mit seinem einen kleinen Auge an, erwiderte aber kein Wort. Im nächsten Augenblick jedoch winkte er ihr erregt, sie solle schweigen, drängte sich an ihr vorbei und spähte zwischen den Zweigen hinaus.
»Was gibt's?« fragte sie rasch; dann trat sie an seine Seite.
* * *
Hinter dem am weitesten entfernten Marmorbrückchen standen zehn bis zwölf betrunkene Soldaten in ernstem Wortwechsel; aus der Gruppe ragten die breiten Schultern und der kleine runde Kopf Tom Sungs hervor. Mit dem ersten raschen Blick bekam Dixie den Eindruck von Gewehren, die über kräftige Rücken geschlungen waren, von Bajonetten, die aus der Ferne merkwürdig dunkel erschienen, daneben auch noch den von verwirrten Köpfen und wachsender Lust zu Gewalttat. Tom und noch ein anderer schwankten der Brücke zu, andere zogen sie wieder zurück und deuteten auf die Gebäude, die sie verlassen hatten. Das Wortgefecht wurde hitziger. Schrille Stimmen waren zu vernehmen.
»Sieht schlecht aus!« sagte das Mädchen dicht an Connors Schulter. »Du hast sie nicht fest in der Hand behalten, Tex.« Dann, als sie ihn aufgeregt die Entfernung des freien Raumes zwischen dem Tor und dem Quittengebüsch mit dem Auge abmessen sah, fügte sie hinzu: »Denkst wohl dran, Fersengeld zu geben?«
Langsam wandte er ihr sein eines Auge zu und stieß sie ohne weiteren Grund roh zur Seite. »Geht dich nichts an, was ich tu«, sagte er grob.
Aber seine Stimme klang verschleiert und war merkwürdig leise; auch sein Auge vermochte nicht, ihren gespannten Blick auszuhalten, sondern irrte ab. Dieser Mann da vor ihr glich dem alten Tex Connor nicht mehr. Sie sprach scharf und entschieden.
»Komm mit hinauf in den Pavillon, Tex!« sagte sie und deutete mit der Hand. »Dort sehen sie uns nicht, wenigstens nicht gleich. Du hast mich ja auch nicht gesehen. Deine Pistolen hast du, und du kannst mir eine davon geben. Wir sollten doch ein paar betrunkene Chinesen von uns fernhalten können.«
Sie sah deutlich, wie sein gänzlich zusammengebrochener Geist sich mühte, Mut zu fassen, einen Plan auszuhecken. Sein Knurren: »Ich geb' dir keine Pistole!« war nur ein schwächlicher Versuch, das Gesicht zu wahren. Da ließ sie ihn stehen und nahm einen Augenblick wahr, in dem der Wortwechsel jenseits der Brücken seinen Höhepunkt erreicht zu haben schien, um leichtfüßig wieder die Stufen zu dem Pavillon hinaufzulaufen.
Von diesem Punkt aus schaute sie zu dem unentschlossenen Connor hinunter, in dem sich Habgier, Angst und der prahlerische Stolz, der ein so tief eingewurzelter Zug seines Wesens war, um die Oberhand stritten. Nur das eine war ganz sicher: daß er hier nicht stehenbleiben konnte und warten, während Tom Sung diese gesetzlosen Soldaten zu einer Tat aufhetzte, die allein zu unternehmen er sich fürchtete … Jetzt kamen sie über die Brücken, Tom taumelte voraus, seinen Revolver schwingend, und die andern nahmen ihre Gewehre vom Rücken. Der Wortstreit war zu Ende, und die jetzt herrschende Stille war bedrohlich.
Dixie holte wieder ihre Tabletten heraus und saß dann mit dem dünnen spöttischen Lächeln um die Mundwinkel wartend da. Aber das Lächeln rührte jetzt von einer Erregung her, ähnlich dem Sinnenaufruhr, um den sie vorhin die wildgewordenen Soldaten in dem Gehölz beneidet hatte. Von ähnlichen Schauern waren die Frauen mit den kühlblickenden Augen durchbebt gewesen, die einst den Kämpfen der Gladiatoren im Kolosseum zuschauten und mit abwärts gerichtetem Daumen auf den Todeskampf eines gefallenen Fechters warteten. Das hatte damals nicht als unweiblich gegolten; jetzt war es das widernatürliche Gelüste einer von der Gesellschaft Ausgestoßenen. Aber diesem Mädchen, auf das ein einfaches Vergnügen gar keinen Eindruck machte, kam es als ein befriedigender Ersatz für das Glück. Ihre eigene Lebensgefahr dabei war für dieses wonneschwere Gefühl nur noch eine vermehrte Würze. Es war das letzte, höchste Endspiel in einem Leben, in dem nur der Reiz des Glückspieles Wert hatte.
Tex Connor tastete einmal nach den Hüftentaschen, wo er seine Pistolen hatte, dann wieder nach den Seitentaschen, die voll Edelsteinen steckten und weit hervorstanden. Sein Auge irrte dahin und dorthin, und seine Wangen waren blaß geworden. Das Mädchen glaubte einen Augenblick wirklich, er habe den Verstand verloren.
Was er tat, als er endlich einen Entschluß gefaßt hatte, war grotesk, eine Donquichotterie. Wie ein Blitz standen ihr die Abenteuergeschichten vor Augen, die sie ihn so oft hatte lesen sehen. Was er tat, erschien ihr widersinnig, ja geradezu toll-komisch. Denn er, mit diesen vollen Taschen und diesem aschfahlen Gesicht, ein Verbrecher, über den seine noch roheren Genossen die Oberhand hatten, versuchte es jetzt mit der Würde. Mit einer Art von unechter Entschlossenheit trat er vor in den Gartenpfad und erhob die Hand wie ein Schutzmann, der an einer sehr belebten Ecke steht.
Selbst damit hätte er noch Eindruck auf die Soldaten machen können, denn er war ein Weißer und war ihr tatkräftiger Führer gewesen, und sie waren Gelbe, niedriggeboren und betrunken. Sie blieben tatsächlich stehen, als sie die letzte Brücke überschritten hatten, und stießen und drängten sich, ungewiß, was sie tun sollten. Allein Tex Connor konnte diese Pose nicht festhalten; er knickte zusammen, schaute wild um sich und lief, keuchend wie ein abgehetztes Rennpferd die Stufen zu dem Pavillon hinauf, wo das Mädchen saß, Dixie lehnte sich vor und zog scharf die Luft durch ihre geöffneten Lippen ein, während sie durch die Blätter spähte.
Mehrere Schüsse krachten, und sie hörte Kugeln vorbeischwirren. Tex Connor fiel nach vorwärts auf die Stufen, zuckte einmal mit einem Bein und lag dann still in einer langsam sich ausbreitenden Blutlache. Er hatte nicht einmal eine Waffe gezogen. Tex Connor war tot.
* * *
Lachend und mit viel rohen Scherzen kamen sie daher und, lasen die Edelsteine auf. Tom und noch einer stiegen die Stufen zu der Leiche hinauf und durchsuchten die Hosentaschen nach den Edelsteinen und den Pistolen. Da Tex Connor keinen Rock angehabt hatte, suchten sie nicht weiter. Und dann zogen sie sich alle mit großer Lustigkeit wieder über die Marmorbrückchen zurück zu den Gebäuden im Gehölz, wo wahrscheinlich noch mehr Getränke und Weiber zu finden waren.
Als ihr letzter Schrei verhallt war und Dixie den Kopf an das wohlriechende Holz lehnte, konnte sie wieder das melodische Klingeln der Metallglöckchen hören und das Murmeln des winzigen Wasserfalls und das leise Rauschen der Blätter. Sie glitt zu der Leiche hinunter, vorsichtig bedacht, nicht in das Blut zu treten. Die Leiche war schwer, und sie mußte ihre ganze gespannte Kraft anwenden, um sie ein Stück umzuwälzen. Nachdem sie das sonderbare Netz von Perlen hervorgezogen hatte, ließ sie die Leiche wieder zurückfallen.
Als sie wieder in ihrem Versteck angekommen war, breitete sie das wunderbare Kleidungsstück auf ihrem Schoße aus; ein Kleidungsstück irgendwelcher Art mußte es offenbar sein, denn es hatte eine Reihe von goldenen Schließen, mit sehr großen Diamanten besetzt. Nach oberflächlicher Schätzung waren es drei- bis viertausend ausgesucht schöner Perlen. Sie drehte und wendete das Stück hin und her, bis sie endlich auf den Gedanken kam, es um ihre Schultern zu legen und fand, daß es sich anschmiegte wie ein Kragen. Ja, das war es wirklich – ein Schulterkragen aus Perlen. Sie wußte nicht, daß es das einzige Kleidungsstück dieser Art in der Welt war, daß es von einem gekrönten Haupt zum andern übergegangen war, bis es nach dem Tod des ›Alten Buddha‹ im Jahre 1908 in die Hände Seiner Exzellenz Kang Yu kam.
Dixie nahm den Kragen wieder ab; sie zog ihre lose hängende Matrosenbluse aus dem Gürtel, drehte die Perlenreihen zu einem Strick zusammen, befestigte diesen um ihre Mitte und zog dann ihre Bluse wieder darüber. Die Perlen waren vollkommen versteckt.
Dann setzte sie sich, um sich ihren nächsten Schritt zu überlegen. Zu der Dschunke konnte sie keinesfalls zurückkehren; es war besser, wenn sie versuchte, irgendwie zu den Fremdenniederlassungen zu gelangen und sich auf ihren Witz zu verlassen, um dort ihre Anwesenheit zu erklären. Tex Connor hatte diese Sache doch richtig angesehen. Diese Niederlassungen waten ein kleiner Fleck Erde mit nur einem oder zwei möglichen Hotels voll von Weißen und noch voller von Geklatsch. Sie hatte auch schon ihre Schwierigkeiten mit den Konsuln gehabt und mit dem rauhen amerikanischen Richter, der seinen wandernden Gerichtshof von einer Hafenstadt nach der andern verlegte und sehr bestimmt angekündigt hatte, er werde den Osten von solchen ›American girls‹ wie sie eine war, befreien. Dawley Kane war sicherlich dort und auch die andern Überlebenden aus dem brennenden Schiff … Es kam alles darauf an, so rasch als möglich eine Fahrgelegenheit den Fluß hinunter zu bekommen, und selbst das war noch höchst gefährlich. Aber ihre größte Stärke war ihr unerschütterliches Selbstvertrauen, sich selbst fürchtete sie am allerwenigsten.
Es war auch eine schwierige Aufgabe, überhaupt zu den Niederlassungen zu gelangen. Jetzt war's nicht die beste Zeit für ein Mädchen, allein auf der Landstraße zu sein. Sie war allerdings unbehelligt von der Dschunke bis hierher gelangt; aber das war nicht weit gewesen, und sie war nicht in die Nähe chinesischer Kriegshaufen gekommen. Sie entschloß sich, noch etwa eine Stunde zu warten, bis die Plünderer dort in dem Wäldchen vollständig betrunken waren, und wenn ihr dann der günstige Augenblick gekommen schien, hinauszuschleichen und einmal einen Versuch zu wagen.
Aber siehe da, ein wenig später drang augenscheinlich von der Straße jenseits der Mauer her eine neue Art von wirrem Lärm zu ihr. Musik von Flöten und Saiteninstrumenten und ein großes Stimmengewirr. Wer diese neuen Leute auch sein mochten, augenscheinlich kamen sie zu dem offenen Tor herein. Mit einem Mißton riß die Musik plötzlich ab, und die Stimmen klangen schriller. Über der Mauerschranke erschienen drei Banner, die sich ruckweise hoben und senkten, als ob ihre Träger sehr aufgeregt wären; ein schwarzes Banner, das in der Mitte dreifach das kaiserliche Emblem, die Sonne zeigte, die andern beiden gelb, eines mit dem bekannten Drachen, das andere mit einem Phönix.
Die zu den Bannern gehörten, lugten vorsichtig um die Schranke herum; es waren Mandschu-Soldaten des alten, unfähig gewordenen Heeres, mit kurzen Gewehren bewaffnet. Sie kamen vorsichtig in den Park herein, und bald kamen ihnen andere nach. Ein Offizier mit einem Zopf, einem altmodischen Schwert und statt des Turbans eine Soldatenmütze auf dem Kopfe folgte nach, formierte in Kolonne und marschierte über die Brücken in das Gehölz, wo sie verschwanden.
Nun schwankte eine sehr buntbemalte Sänfte herein, von vielen Trägern an starken Querstangen von Bambusrohr getragen. In die prächtigen Gewänder der chinesischen Beamten gekleidete Männer schritten neben- und hinterher. Dann kamen wieder Soldaten, die ungeordnet daherbummelten; einige ließen sich auch ohne weiteres zu Boden fallen, um ihren augenscheinlich müden Körpern Ruhe zu gönnen.
Die Sänfte wurde vorne geöffnet, und ein großer fetter Mann, in ein rosa und blaues Gewand gehüllt, mit den bunten gestickten Insignien und dem Mützenknopf eines Mandarins des vierten Ranges, stieg würdevoll heraus. Sofort trat ein Diener vor mit einem riesigen Schirm, den er über den fetten Mann hielt. Und nun warteten sie, alle miteinander, standen oder lagen herum und sprachen aufgeregt zusammen. Verschiedene der Beamten eilten hinter die Schranke zurück, als ob sie die verlassenen Gemächer in dem Torhaus untersuchen wollten, kamen dann wieder und hatten viel zu berichten in ihrem musikalischen Singsang … Ein Offizier erspähte die Leiche Tex Connors auf den Stufen des Pavillons und trat mit einigen andern aufgeregt näher. Immer schriller wurden die Stimmen; augenscheinlich wurde von Leuten jeden Ranges rings um den großen fetten Mann unter dem Schirm aufgeregt Kriegsrat gehalten.
Nun drangen wieder aus dem Wäldchen Schüsse herüber, denen eine atemlose Pause folgte. Dann weitere Schüsse und zunehmende Aufregung bei der Schranke. Eine Anzahl der Soldaten, die über die Brücke marschiert waren; kamen zurückgelaufen; der vorderste von ihnen hatte Turban und Gewehr verloren, und als er näher kam, war Blut auf seinem Gesicht zu sehen. Und nun plötzlich verlor dort bei der Schranke alles den Kopf – die Beamten, die Träger, die Läufer und die Soldaten. Einige rannten hierhin und dorthin, selbst in das Gebüsch hinein, kamen aber bald wieder hervor und liefen ihren besonneneren Genossen vors Tor nach. Der Träger des Schirms ließ diesen einfach fallen und verschwand. Die Flüchtlinge, die aus dem Wäldchen kamen, hatten jetzt die furchterfüllte Gruppe am Tor eingeholt und rannten nun ebenfalls zum Tor hinaus und auf der Landstraße weiter. Und sie verfolgend, kamen ihnen schreiend und johlend viele von den Soldaten der Dschunke nachgelaufen.
Sie holten den großen, fetten Mandarin ein, als er eben um die Schranke watscheln wollte; einer der Schüsse hatte ihn verwundet. Sie stürzten über ihn, der in ein lautes Angstgeschrei ausbrach, her und warfen ihn zu Boden, schlugen ihn und stießen ihn mit den Füßen. Mit ihren Messern und Bajonetten marterten sie ihn auf die ausgesuchteste Weise, was ihnen offenbar viel Vergnügen machte, und Dixie Carmichael ließ sich nicht die kleinste Einzelheit davon entgehen. Nicht eher, als bis der dicke Körper regungslos dalag, nahmen sie das Schwert eines gefallenen Offiziers und schlugen ihm – recht unbeholfen – den Kopf ab. Diesen steckten sie auf eine Stange und zogen lärmend damit umher; endlich befestigten sie bei dem ersten Marmorbrückchen die Stange im Erdboden. Und dann kehrten sie sich wieder zu dem Wäldchen und ließen dieses grausige Ding da auf der Stange zurück, alles schamlos beherrschend in dem schönen Garten, den sie entweiht hatten.
Wieder lehnte Dixie Carmichael den Kopf an die glatte, süßduftende Säule von Nanmuholz und horchte auf das holde Tönen –, das leise Plätschern des Wasserfalls, das Klingeln der Bronzeglöckchen und das sanfte Rauschen der Blätter. Sie war totenblaß und ihre dünnen Hände ruhten kraftlos in ihrem Schoß; plötzlich wurde sie sich bewußt, daß sie zum Umsinken müde war; jedoch in ihrem Hirn brannte noch eine kalte weiße Flamme der Erregung. Das Leben, das hatte sie schon als Kind gefühlt, war alles andere als das einfache Durchpausmuster, als das es von den naiven Leuten in England und Amerika dargestellt wurde. Das Leben, wie sie es mit kritischen Blicken sah, war ein Inbegriff von primitiven Trieben, gemischt mit Begierden, Träumen und erstaunlich feiner Arglist. Schlauheit kam in der Welt, die sie um sich sah, stets weiter als Tugend, und auch oftmals weiter als Gewalt.
Lange Zeit konnte sie ihre Blicke von dem schrecklichen Gegenstand auf der Stange nicht abwenden; ihre überreizten Gedanken fuhren rasch und scharf nach allen Richtungen. Ein Gefühl überkam sie und wurde allmählich zur Überzeugung, daß jetzt auf irgendeine geheimnisvolle Weise alle Gefahr für sie vorüber sei. Mit einem hohen Entzücken, so daß ihr darob der Atem stockte, fühlte sie die Perlenschnüre unter ihrer Bluse; endlich ließ sie ihre Blicke zu dem andern häßlichen Gegenstand dort auf den Stufen niedersinken, machte langsam ihre Tasche auf, holte die Armbanduhr heraus (die ihr Manila Kid in einer unsinnigen Hoffnung geschenkt hatte) und befestigte sie um ihr Handgelenk. Und ihre Augen leuchteten in hellem Triumph.