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Kapitel XLVII. Der Morgen dämmert herauf

Bis zu den schwarzen Toren hin, aber nicht durch sie hindurch! Die Morgendämmerung, die auf eine solche Nacht folgt, scheint eher eine Tochter der Finsternis, als eine Verkünderin des Tageslichtes. Dennoch ist es der Tag, der auf sie folgt. Das traurige blonde Weib erwachte aufs neue zum Leben, und ihre schwache Lebensflamme war das einzige Licht des Hauses, bald begrub sie dessen Insassen in Finsternis, bald leuchtete sie ihnen gleichsam wie ein in die Länge gezogenes Lebewohl, nicht wie ein frohes Wiedererwachen.

Sie wurde gerettet durch etwas, was wir Zufall nennen würden; denn ihre Absicht war es nicht gewesen, sich retten zu lassen. Die Hand, die den Todestrunk an die Lippen geführt, hatte nicht gezittert. Soweit sich vermuten ließ, hatte sie ihn während des hastigen Lesens in der Bibel ihrer Mutter zu sich genommen, dieser Bibel, die sich ihr als einzige Zuflucht erwiesen, an die sie sich oftmals, wenn schon oft voll banger Zweifel, angeklammert hatte. Die Bibel lag neben ihr, als sei sie vom Stuhl gefallen, neben dem sie gekniet hatte, um die letzten Verse in zitternder Hast zu lesen, und mochte mit ihr zugleich zu Boden geglitten sein. Mit dem einen Arm hielt sie dieselbe umschlungen, die andre Hand hielt das zerbrochene Fläschchen mit der entsetzlichen Inschrift.

 

In Master Gammons Gedächtnis wurde unter den wenigen deutlich lesbaren Tatsachen seines Lebens klaglos diejenige eingezeichnet, daß es volle drei Wochen auf der Farm keine Klöße zum Mittagessen gab; und obschon eine ungefähre Abschätzung ergeben mußte, daß er (wenn wir es sehr genau nehmen wollen) etwa dreiundsechzig der gedachten Artikel zugute hatte und – da es jenseits aller menschlichen und sogar übermenschlichen Möglichkeiten steht, jemand für ein einmal versäumtes Mittagessen schadlos zu halten – weiterhin zugute behalten mußte, so äußerte Master Gammon doch kein Wort, welches hätte andeuten können, daß er eine solche Vernachlässigung empfände, – die einzige Andeutung von seiner Seite, daß er sich des Leids bewußt sei, welches alles auf dem Hofe in Verwirrung brachte. An dem Tage, wo die Klöße wieder auf dem Tisch erschienen, bemerkte er mit einem Blinzeln nach der Decke: »Geht besser oben, Ma'm, wie?«

»O Master Gammon,« platzte Mrs. Sumfit heraus, »wenn ich nur sicher wäre, daß Sie jeden Abend beteten!«

Master Gammon faßte diese Bemerkung offenbar nur als eine beiläufige Gefühlsäußerung von Mrs. Sumfits Seite auf, denn er hatte weiter keine Antwort darauf.

Sie beobachtete ihn, wie er in seiner bedächtigen Weise, mit dem gebeugten Rücken und den träge kauenden alten Backenknochen seine Mahlzeit einnahm, und rief, von einer plötzlichen Rührung über diesen Anblick ergriffen, aus:

»Wir sind alle schwer heimgesucht worden, Master Gammon! Ich fühle, daß ich mich jetzt in- und auswendig kenne. Ich kann woll sagen, ich war' nich' in 'n stände gewesen, Ihnen Klöße und Tränen zugleich zu geben, aber man soll nich' sagen, wie schlecht 'n Mensch is', – ich will man zugeben, ich hab' Ihnen förmlich gehaßt, daß Sie nur an Klöße denken konnten, während wir doch alle so fuchbar traurig waren, und man immerzu so zitterten, a's bei 'n Erdbeben, im' immer dachten, nu' kommt das Schlimmste! Un' darum hab' ich Ihnen keine Klöße gemacht. Ja, 's war grausam von mir, un' Sie können woll Ihren Kopf da'über schütteln. Wenn ich bloß sicher wäre, daß Sie jeden Abend beteten!«

Was sie mit ihrem neuerdings erweckten Herzen sagen wollte, war dies, daß wenn sie ganz sicher wäre, daß Master Gammon regelmäßig betete, und daß auch er die Heimsuchung empfände und, wie sie das Gefühl darin gewonnen habe, sich in- und auswendig zu kennen, sie ihn – in Anerkennung seines absoluten Gleichmuts – einen vorzüglichen Christen nennen wollte.

Wie es nur zu wohl begreiflich ist, ließ Master Gammon auch diesen Ausruf ruhig über sich ergehen, in dem er nichts weiter sah, als einfach eine zufällige Äußerung dieses lebendigen Sprechanismusses, während Mrs. Sumfit, begabt mit der Aufnahmefähigkeit für wunderbare, wenngleich nicht immer verständliche Dinge, die ein Inquisitor haben muß, ihn in ungetrübter Herzensfreundlichkeit und mit etwas verminderter Überzeugung von dem vorzüglichen Stande seines Christentums verließ.

Nichtsdestoweniger empfanden alle, die im Hause waren, den Anblick von Master Gammon wie eine wohltuende Arznei. Er war Mrs. Sumfits Uhr, für Rhodas Augen war er Balsam und Segen, Anton war eifersüchtig auf ihn, der Bauer klammerte sich an ihn, wie an einen fest in den Grund gerammten Pfahl: sogar Robert, der ihn neckte und quälte und sich über ihn ärgerte, gab zu, er sei ein Zwischending zwischen einem aufmunternden und einem abschreckenden Beispiel und insofern eines gewissen Studiums wert. Die erhabene, altehrwürdige Eigenschaft unerschütterlichen Gleichmuts, die der alte Mann zur Schau trug, berührte alle während Dahlias allmählichen Wiedergenesens von dem Sturm und dem Schiffbruch vergangener Stunden so seltsam, daß sie sich des Gedankens nicht zu erwehren vermochten, es offenbare sich ihnen in Master Gammon eine besondere Macht, vermöge deren er in ungestörtem Gleichgewicht verharre, während sie alle ihr Leben bis in seine Tiefen erschüttert fühlten. Ich habe niemals Gelegenheit gehabt, das götzendienerische Gemüt eines Wilden zu erforschen, aber es mag sein, daß ihn die Unwandelbarkeit seines kleinen, hölzernen Gottes hie und da mit einer ähnlichen staunenden Ehrfurcht erfüllt, – selbst dann, ja, vielleicht gerade dann, wenn er ihn geprügelt hat. Hätte der alte Mann seine Sterblichkeit durch ein Zeichen der Neugier verraten, zu erfahren, was all diese lärmende Unruhe zu bedeuten habe, wen ein Tadel treffe, und was das Ganze eigentlich für eine Geschichte sei, die Wirkung, die er auf sie ausübte, wäre beträchtlich geschmälert worden. Er wirkte unleugbar gleich einem Granitfelsen im Anprall der Wogen. »Gib mir Gammons Leben!« war ein Ausruf, dessen sich der Bauer gern bediente, wenn er ihn kommen und gehen sah, sein Sitzen bei den Mahlzeiten, sein Einschlafen und Wiederaufwachen, jedes zu seiner Zeit, auch während dieser ganzen Zeit qualvoller Ungewißheit hindurch, ohne je an irgend jemand eine Frage zu richten, beobachtete. Er bemerkte gelegentlich, daß man niemals für irgend jemand in seiner Familie den Doktor gerufen habe, und er vermöchte augenscheinlich eine Komplikation von Umständen, die des Doktors Besuch notwendig machten, nicht zu verstehen.

»Sie werden niemals so alt werden wie Gammon,« sagte der Bauer zu Robert.

»Nein, aber wenn er einmal vergeht, wird alles, was mit ihm zusammenhängt, auch vergangen sein,« antwortete Robert.

»Aber Gammon hat die Weisheit begriffen, unter allen Umständen seine Sicherheit zu wahren, Robert; um seiner eignen Runzeln willen soll man keinen Menschen tadeln.«

»Gammon ist ein Pergament, auf welches die alte Zeit ihr Nichts schreibt,« sagte Robert. »Er ist sicher – sicher genug. Ein alter Schiffsrumpf wird es nicht leicht fertig bringen, im Schlick zu versinken, und Gammon hat sein Lebenlang im Schlick vor Anker gelegen.«

»Mag dem sein, wie ihm wolle,« erwiderte der Bauer, »es hat in meinem Leben Tage gegeben, wo ich den alten Mann furchtbar beneidet habe.«

»Na ja, es kommt eben alles darauf an, ob man lieber Amboß oder Hammer ist,« meinte Robert.

Anton beneidete der alte Bauer nicht mehr. In ihm sah er – obschon er ebenso passiv dahinlebte, wie Master Gammon – nichts als einen abgestumpften Greis, keine stetig ihren Gang verfolgende Maschine. Er wußte, daß Anton von einem eigentümlichen Mißgeschick betroffen worden war.

»Er soll einen guten Bruder an mir haben,« sagte Mr. Fleming, aber Anton hatte ihm seinen goldenen Horizont verdunkelt und war nicht länger ein Gegenstand seines Interesses.

An einem Herbstnachmittage kam Dahlia, bleich wie eine Frühlingsblume, wieder zu ihnen hinunter. Sie sagte ihrer Schwester, daß sie den Wunsch habe, Edward zu sehen. Rhoda hatte jede Widerstandskraft verloren, selbst wenn es noch ihr Wunsch gewesen sein sollte, diese beiden auseinander zu halten. Sie teilte ihrem Vater Dahlias Wunsch mit, der sofort seinen Hut vom Nagel nahm und sagte: »Zieh dich 'n bißchen nett an, mein Deern!« Sie wußte, was diese Bemerkung zu bedeuten hatte. Botschaften aus dem Herrenhause waren täglich zu ihr gelangt, aber der Haushalt dort hatte unter dem Szepter einer einsichtsvollen Dame gestanden, und ein Besuch sowohl von Seiten Edwards wie Algernons war Rhoda erspart geblieben, obschon sie wußte, daß beide nur eines Rufes harrten. Während Dahlias Rekonvaleszenz hatte der Bauer nicht zu Rhoda von ihrer Verlobung mit dem jungen Gutsherrn gesprochen. Ihr kam es vor, als müsse das große Herzeleid, das sie betroffen, alle irdischen Verpflichtungen gelöst haben, und als ihr Vater ihr anbefahl, besondere Sorgfalt auf ihren Anzug zu verwenden, erweckte er urplötzlich eine Furcht in ihrer Seele zu neuem Leben, als zerre er sie gewaltsam zu dem Rande eines gähnenden Abgrundes.

Aber Mrs. Lovells Takt war noch immer wirksam: nur Edward kam, und er und Dahlia wurden miteinander allein gelassen.

Es bedurfte jenen sanften Augen gegenüber keiner Bitte um Vergebung. Sie reichten einander die Hände. Sie war erschöpft und sehr schwach, aber sie zitterte nicht. Die Leidenschaft war erloschen. Er unterdrückte jede Regung, von einer Vereinigung zu sprechen, er fühlte zu sicher, daß sie vereint waren. Er mußte sie sehen, um voll zu erkennen, wie sehr er sich an ihr versündigt hatte. Verblüht wie sie war, war er dennoch völlig bereit, sie zu der Seinen zu machen, und sei es nur, um an dieser teuren, edlen Seele wieder gutzumachen, was er gefehlt. Ihr Bild, das Bild einer Heiligen, prägte sich tief in seine Seele, einerseits als eine Erwiderung auf das Staunen der Welt, die das Opfer seiner selbst, welches er brachte, nicht begriff, andrerseits immer mehr und mehr als eine konkrete, sichtbare Sache in Fleisch und Blut. Sie war aus ihrem Martyrium hervorgegangen mit dem Stempel himmlischer Verklärung.

»Dies sind die alten Bäume, von denen ich so oft gesprochen habe,« sagte sie, indem sie auf die beiden Fichten im Mühlengrunde deutete. »Sie sehen immer aus wie Adam und Eva, die dem Paradies den Rücken wenden.«

»Es macht dich nicht unglücklich, sie zu sehen, Dahlia?«

»Ich hoffe, ich darf sie sehen, bis ich selbst von hinnen gegangen sein werde.«

Edward preßte ihre Hand. Er dachte, bald würden wärmere Hoffnungen ihre Seele durchfluten.

»Sind die Nachbarn freundlich?« fragte er.

»Sehr freundlich. Sie fragen täglich, wie es mir geht.«

Seine Wangen färbten sich rot. Er hatte halb gedankenlos gefragt, und es wunderte ihn, daß sich Dahlia darüber freuen könne, wenn man sich nach ihr erkundige, sie, die gegen die leiseste Berührung so empfindlich war.

»Der Prediger kommt täglich zu mir und kennt mein Herz,« fügte sie hinzu.

»Der Prediger ist Frauen ein Trost,« sagte Edward.

Dahlia blickte ihn herzlich an. Ihre matten Augen ruhten lange auf ihm. Sie wünschte etwas. Sie wagte den Wunsch nicht in Worte zu kleiden, dem gegenüber, dessen Meisterschaft in der Handhabung des Wortes sie sich nur allzuwohl erinnerte, um ihre armselige Ungewandtheit im Reden besonders scharf zu empfinden. Aber Gott würde ihren Gebeten für ihn Gehör schenken.

Edward bat um die Erlaubnis, oft kommen zu dürfen, und sie sagte:

»Komm!«

Er mißverstand die Bereitwilligkeit ihrer Aufforderung.

Als er sie verlassen hatte, fiel es ihm auf, wie ihrer Sprache jede liebevolle Zärtlichkeitszeichnung gefehlt hatte, und er empfand den Mangel. Da er selbst so sehr gelitten hatte, bedurfte er derselben. Weswegen hatte sie so hart mit dem. Tode gerungen, wenn es nicht war, um ihm um den Hals zu fallen und in überströmender Freude die Seine zu werden? Im Grunde lechzte er nach der sofortigen Belohnung für sein öffentliches Bekennen seiner Missetaten. Er ging in der hiesigen Gegend herum als einer, von dem jedermann wußte, was er getan, und sein sehnlichster Wunsch war der, sein Weib von hinnen zu führen, um sich nie mehr hier sehen zu lassen. Einer so tiefen Finsternis, meinte er, müsse wenigstens ein freudiges Morgenrot folgen, kein reuevolles Grau, keine verschleierte Dämmerung, als sollten die Pfade des Lebens fortan wie unter Klostergängen dahinführen. Und ihn verlangte danach, eine Rose süßer Weiblichheit in der Hand zu halten, wie die, von welcher er sich einst getrennt, und welche zurückzuerlangen er jede irdische Kränkung, ja, völlige Selbsterniedrigung auf sich genommen hatte. Die zarte, tief gebeugte Lilie schien ihm fremd.

Kann ein Mensch über seine eigne Natur hinausgehen? Niemals, wenn er Leidenschaft an Bord hat. Andre Mittel vermögen seine Natur größer und stärker zu machen, aber die Leidenschaft wird immer seinen schwachen Punkt ausfindig machen und wird ihn – ob sie ihn gleich stetig vorwärts dränge – fortwährend an diesem zu fassen wissen. Dreimal hatte Edward eine Zusammenkunft mit Dahlia; und ebenso oft schrieb er ihr. Sie hatte immer die gleiche Antwort für ihn, und als er aufhörte, ihr Unversöhnlichkeit vorzuwerfen, kam er zu der seltsamen Schlußfolgerung, daß – abgesehen davon, daß wir ein Weib in rhetorischer Absicht eine Heilige nennen und sie in bildlichem Sinne für eine solche ansehen – die Möglichkeit besteht (wie ihm in dieses Weibes Gegenwart aufgegangen war), wirklich an sie zu denken, als an etwas Heiliges und durch das Überirdische ihrer Persönlichkeit mit Gefühlen solcher Art erfüllt zu werden. Ihre Stimme, die einfachen Worte, in die sie – auch brieflich – ihren Entschluß kleidete, und die einer Fähigkeit, Böses auf sich zu nehmen und es zu vergeben, entsprangen, offenbarten diesen Charakter einem Gemüt, das von vornherein die Sanftmut nicht besaß, solchen Eindrücken zugänglich zu sein.


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