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Kapitel XXXIII. Edwards Rückkehr

Wieder einmal trafen Farmer Fleming und seine Tochter Rhoda Vorbereitung zu einer melancholischen Fahrt nach London. Ein leichter Wagen hielt am Tor, neben welchem Robert mit dem Bauern stand, der in seinem steifen, braunen, ihm bis auf die Knöchel herabreichenden Überrock und seinem breitrandigen Schutzhut in trägem Stumpfsinn dastand und wartete, wie ein Ochse im Stall und gedankenlos zu Roberts Bemerkungen, wieviel Sorgfalt neuerdings wieder auf den Garten verwandt sei, wieviele Knospen die Rosen hätten, und wie zierlich sich die rot und blauen Beete mit Sommerblumen ausnähmen, nickte. Jedes seiner Worte war ihm wie ein Schlag ins Gesicht, aber er nahm es, ebenso wie Rhodas anscheinende Saumseligkeit hin, wie Dinge, die ein Mann eben auf sich zu nehmen hat, dem die Wurzeln in seiner Heimat, seiner Arbeit, seinen alten Beziehungen abgeschnitten worden sind. Über seinem gesenkten Haupte hing eine Tafel, welche dartat, daß Queen Annes Farm samt allem Zubehör zum Verkauf stände. Seine Aussicht in der dunklen Wildnis einer ungewissen Zukunft war die, als gewöhnlicher Tagelöhner Arbeit auf irgendeines freundlichen Gutsherrn Besitz zu suchen. Die Redensart »ein freundlicher Gutsherr« hatte seine absichtliche Ironie dem Schicksal gegenüber, das ihm den Stuhl vor die Tür setzte, selbst gefunden. Robert stampfte ungeduldig mit dem Fuße, daß Rhoda kommen solle. Von Zeit zu Zeit erschien Mrs. Sumfits Kopf an ihrem Schlafstubenfenster, um ein »In 'n Augenblick!« ertönen zu lassen und alsbald wieder zu verschwinden.

Im übrigen bot das Haus an dem strahlenden Mainachmittag einen friedlichen Anblick. Außer auf Rhoda wartete man auch noch auf Master Gammon, dem das Zurückfahren des Wagens von der Station aufgetragen war. Robert häufte seine ärgerlichen Ausrufe auf diesen alten Mann. Der Bauer hielt mit Mühe eine Verteidigung Master Gammons zurück, wenn er einen Vergleich zwischen ihm und Robert zog, denn Master Gammon war niemals vom Hofe gelaufen und fortgeblieben, so daß der Hof auf sich selber passen konnte. So langsam Gammon war, treu war er, und seine Schuld war es nicht, daß der Hof unter den Hammer kam. Gammon war ein eigensinniger Geselle, aber er hatte nicht, nachdem er einmal alles in die Hand genommen und die Farm völlig von seiner Initiative abhängig gemacht hatte, heimlich seinen Posten verlassen und dem Hof damit gewissermaßen Hirn und Hand entzogen. Gedanken solcher Art gingen dem Bauern durch den Kopf.

Rhoda und Mrs. Sumfit kamen miteinander den sorglich geharkten Gartenpfad hinab, und nun konnte Robert seinem Ärger auf Master Gammon berechtigtermaßen die Zügel schießen lassen. Er stimmte für sofortiges Wegfahren.

»Das Pferd wird grad so gut und so schnell allein nach Haus finden, als mit Gammons Hilfe,« sagte er.

»Wenn's man nich so klappern und schütteln tät', so daß man gleich weiß, da sünd Gold- und Silberstücke in,« wandte sich Mrs. Sumfit an Rhoda, »könntest du den Kasten ja auch gern selber tragen. Man sollt' doch gar nich' denken, daß er so fest war, un' daß ich da mit 'n Feuerpöker auf loshauen konnte un' ihn doch nich' kaput kriegte. Aber ich konnt' un' konnt' es nich', un' durch 'n Spalt ging auch kein einziges Stück. Was ich wohl ausgesehen hab', so mit 'n Pöker in 'ner Hand! Ich kann dir sagen, ich hatte so 'n Gefühl wie 'n Einbrecher, – un' daß man bloß keiner da was von merkt, was du da trägst! Wenn du das Gold klappern hörst, mein Kind, dann tust du so« – Mrs. Sumfit stieß einige kräftige »Ahems« aus – und schrammte mit ihrem Fuß über den Kies hin – »un' denn werden die Leute schon denken, sie hätten sich geirrt.«

»Was 's denn das?« Der Bauer deutete auf eine beträchtliche Erhöhung unter Rhodas Plaid.

»Das ist ein Geschenk für meine Schwester, Vater,« sagte Rhoda.

»Was ist es denn?« fragte der Bauer aufs neue.

Mrs. Sumfit erwiderte in kriechender Unterwürfigkeit: »Ach, Willem, sie 's doch so arm, un' 'n büschen ausgeben mag sie doch auch manchmal gern, sonst wird sie ja ganz pover un' ausgefroren mit der Zeit, ja, ganz gewiß. Un', wer weiß, das arme Ding, vielleicht weiß sie mitunter nich', wo sie das Mittagessen für morgen hernehmen soll, un' das weiß ich, das 's denn ein ganz entsetzliches Gefühl für so 'n arme Frau, denn 's ja gar nich' mal, weil sie Hunger hat, Willem, – ne, denn 's doch auch ihr Mann da, an den sie denkt. Un' denn nich' kochen zu können! Un' denn denkt sie natürlich: ›Das zieht er mir von 'n Hausstandsgeld ab!‹ denn so unvernünftig sind die Mannsleut'. Ja,« fügte sie in Erwiderung der unveränderlichen Schwermut in seinem Blick hinzu, »ich hab' dir die Wahrheit gesagt, Willem. Ich weiß woll, ich hab' gesagt: ›Ich kann an kein'n Penny 'ran, Willem,‹ als du mich fragtest, ob ich dir nich was leihen könnte. Un' ich kann da auch nich' 'ran. Ich kann da jetzt auch nich' bei. Kannst ja selbst sehen, Willem!«

Sie nahm den Kasten unter Rhodas Schal hervor und schüttelte ihn erst nach der einen Seite und dann nach der andern.

»Du hast mich ja nich' gefragt, ob ich vielleicht 'n Geld kasten hätte, liebster Willem. Dann hätt' ich ja sicher gleich: ›Ja‹ gesagt, aber da hast du mich nich' nach gefragt. Un' wenn du gesagt hättest: ›Gib mir dein'n Geldkasten,‹ denn hätt'st ihn auch gekriegt, du brauchtest das nur zu sagen. Aber daß da nix rausgeht, das kannst doch selber sehen. Wenn du also fragtest, ob ich Geld hätte, dann hatt' ich doch recht zu sagen: ›Nein, ich hätt' keins.‹«

Der Bauer ließ ihr trübseliges Gerassel mit der Kassette, zum Beweis für deren zurückhaltenden Eigensinn stillschweigend über sich ergehen. Der bloße Eifer, mit dem sie ihm die Sache explizierte, hielt jeden Einwand seinerseits zurück, als sie aber, um Master Gammons Zuspätkommen zu entschuldigen, erzählte, er hätte auch eine Sparbüchse, und die suchte er jetzt, da warf der Bauer seinen Kopf mit der Kraft eines Jünglings in den Nacken und donnerte Master Gammons Namen in einer rasenden Wut über die verbündete Heuchelei des Paars heraus. Er rief zweimal, und sein Gesicht war blau und rot angelaufen, als er sich dem Wagen mit den Worten wieder zuwandte:

»Wir wollen ohne den alten Mann fortfahren.«

Nun rang Mrs. Sumfit die Hände und erzählte, wie sie und Master Gammon vor sechs Jahren an einem einsamen Abend über die unglücklichen Lebensverhältnisse miteinander geredet hätten, denen arme Leute ausgesetzt wären, wenn sie alt und schwach würden, oder wenn ihnen irgend etwas zustieße, und wie sie dann nichts anderes wären als ›altes Eisen‹, und wie sie doch auch ihre Gefühle hätten. Es war ein langes, vertrauliches Gespräch an einem Sommerabend gewesen, und nach Beendigung desselben war Master Gammon nach Wrexby gewandert und hatte Mr. Hanmond, dem Zimmermann, einen Besuch gemacht, der ihm zwei starke, eigenhändig gearbeitete Sparbüchsen gezeigt habe, ohne Deckel, ohne Schloß noch Schlüssel, so daß man an den Inhalt der Kasten nur kommen konnte, wenn sie vollkommen gefüllt waren, oder ein dringender Notfall zu einem Zerstören der Kasten raten sollte. Ein ständiger Gegenstand der Neckerei zwischen Mrs. Sumfit und Master Gammon war die Frage, über wen von ihnen beiden, zuerst die Neugier, zu erfahren, bis zu welcher Höhe ihre respektiven Ersparnisse angewachsen seien, den Sieg davontragen werde und ihre Bekenntnisse beiderseitiger Schwachheit und fruchtloser Bemühungen, ein einziges Goldstück aus dem Schatz zurück zu bekommen.

»Und nun magst du es glauben oder nicht,« sagte Mrs. Sumfit, »durch mein Herumdoktorn und mein Kochen für ihn hab' ich ihn dazu gekriegt, daß er mein' arme Dahly helfen will, wo mein' söte Deern doch so in Not is'. Ich hätt' ja ganz gern gewollt, er solle ihr erst man die Hälfte davon geben, aber das konnt' er ja nich'.«

Jetzt zeigte sich Master Gammon in einer Ecke des Hauses, seinen in ein Tuch gewickelten Kasten sorglich im Arme haltend. Der Bauer und Robert wußten, daß alles Winken und Rufen, durch die man die äußerste Notwendigkeit zu höchster Eile hätte dartun können, nun er glücklich in Sicht war, ein vergebliches Bemühen sein würde, seine Schritte zu beschleunigen, so ließen sie ihn in dem ihm eigenen, ebenmäßigen Trott herankommen, ruhig wie die Zeit selbst, mit den eigentümlich schlaff gebogenen Knien, welche den bewegungslosen Oberkörper regelmäßig vorwärts schoben und den runden, alten Augen, die in stummer Bedächtigkeit geradeaus gerichtet waren. In diesem Blick des mechanisch vorwärts schreitenden alten Mannes, der seinen armseligen Schatz in der Hand trug, um ihn zu verschenken, lag etwas Rührendes.

Robert entfuhr es unwillkürlich: »Man darf ihn nicht seine paar Heller verschenken lassen!«

»Nein,« pflichtete der Bauer ihm bei, »das gebe ich auch nicht zu.«

»Ja, Vater!« kam Rhoda seiner Absicht, sich an Master Gammon zu wenden, zuvor. »Ja, Vater!« sagte sie noch einmal, und der Ton ihrer Stimme klang härter. »Es geschieht für meine Schwester. Er tut ein gutes Werk. Laß ihn es tun!«

»Mas' Gammon, was haben Sie da?« rief der Bauer laut.

Aber Master Gammon wußte, daß das, was er tue, lediglich seine eigene Angelegenheit sei. Er war ein schwieriger alter Mann, wenn es sich um seine Dienste bei dem Bauern handelte, aber wo seine Privatangelegenheiten in Frage kamen, war er völlig unlenksam.

Ohne sich auf eine Antwort einzulassen, sagte er zu Mrs. Sumfit:

»Ich hab' ihn zugeklebt.«

Die Seitenwand des Kastens zeigte deutlich, daß man ihn aus Gründen größerer Sicherheit mit einer andern Substanz in Verbindung gebracht hatte.

»Dazu brauchten Sie denn woll so lange Zeit, Mas' Gammon?«

Der Veteran des Ackerfeldes antwortete mit einem Grinsen, das ein Zurschaustellen lebhafter Schlauheit sein sollte.

»Himmel, Mas' Gammon, da wollt' ich nu' doch gern ganze vierzehn Tage für arbeiten, wenn ich bloß herauskriegen könnt', wieviel Sie zusammengespart haben. Das wollt' ich wirklich! Ja, nu', ich sag' man! Den Lohn davor, den tragen Sie selber in Ihrem Herzen. Un' Gott wird Ihnen da auch für belohnen. Un' ich bitt' wahrhaftig den Himmel, er soll mir in Gnaden verzeih'n,« wimmerte sie, »wenn ich Ihnen je mit Wissen und Willen 'n büschen gehetzt haben sollte, bei Ihren Essen, oder wenn ich Sie vielleicht mal angeführt hab', wenn Sie nachkuckten, ob wir 'n Schwein geschlachtet hatten. Aber Sie sollten man bloß wissen, was das heißt, – zu kochen! – wie das 'ne Frau auf die Nerven fällt! Was mein' Tante war, die war Köchin in 'n reichen Herrn seine Familie, un' der machte doch jeden einzigen Tag seine dreizehn Teller schmutzig – nich' mehr un' nich' weniger, un' einmal wahrhaftig, ich glaub', so is' nie 'ne Frau angekommen, – da hat sie ihr schönes, allerbestes, swarzseiden Kleid, aber von oben bis unten, zugeschmutzt, – un' da schickt er ihr neun reine Teller 'runter, – un' nich' 'n einziges Wort von 'ner Erklärung dabei. Denn so 'ne Vornehme, die können sich rein gar kein' Begriff davon machen, wie das so mit 'ner Köchin un' 'ner Küche zusammenhängt –«

»Springen Sie auf, Mas' Gammon,« rief der Bauer, in hellem Zorn darüber, daß ihn zwei Mitglieder seines Haushalts getäuscht hatten, die ihm beide geschworen, sie hätten kein Geld und seine Not für nichts geachtet hatten. Ja, so waren die Menschen!

Mrs. Sumfit vertraute Rhoda das Ende ihrer Geschichte an, oder vielmehr, sie deutete ihr an, an welchem weitentlegenen Punkt sie enden könne, dann gab sie auch Master Gammons Kasten in ihren Verwahrsam, schärfte ihr allerlei Verhaltungsmaßregeln für Dahlia ein, daß sie die Kasten in eine Zimmermannswerkstatt bringen und beileibe sich nicht mit einem Feuerpöker daran versuchen solle, und daß sie sie zählen und sich den Betrag der beiden Rivalen-Schätze ja merken solle, trug ihr allerhand Botschaften an Dahlia auf, die den Charakter zärtlicher Vorwürfe und schwärmerischer Liebe trugen und hoffte, sie würden einander bald wiedertreffen, und daß das Glück dann vollkommen sein möge.

Rhoda hatte, wie gewöhnlich, keine überflüssige Gefühlsäußerung. Sie nahm den zweiten Kasten in ihre Obhut und gestattete Robert, sie so beladen auf den Wagen hinauf zu heben. Sie fuhren durch das grüne Weideland, an der Mühle und ihren blitzenden Wassern vorüber und auf die Landstraße, wo man zum letztenmal das Wehen von Mrs. Sumfits Taschentuch gewahrte.

Ein Reiter kam an ihnen vorbei, den Rhoda erkannte; sie errötete, und ein ahnungsvoller Schauer durchrieselte sie. Robert bemerkte ihn auch, und ihr Erröten bemerkte er gleichfalls.

Es war Algernon auf einem gemieteten Pferde. Sein Gesicht drückte eine gewaltige Enttäuschung aus.

Der Bauer sah von alledem nichts. Die Undankbarkeit und der Verrat von Robert, Mrs. Sumfit und Master Gammon ließ ihn in einem Gefühl dumpfen Ekels am Leben hinbrüten. Es fiel ihm nur auf, daß der Wagen stark schüttelte.

»Wenn man in 'nen kleinen Wagen fährt mit vier Mann hoch, schüttelt das natürlich,« sagte Master Gammon.

»Es scheint, Sie mögen das ganz gern,« bemerkte Robert gegen letzteren gewandt.

»Stört mein Inneres nich',« sprach der Gleichmütigste aller Menschen.

»Gammon,« richtete der Bauer vom Vordersitz her jetzt das Wort an ihn, ohne den Kopf zu wenden, »Sie können sich nach 'n neuen Platz umsehen.«

Master Gammon verdaute diese Anempfehlung in Schweigen. Als der Bauer seine Worte wiederholte unter dem Hinzufügen eines: »Hören Sie?« gab er zur Antwort, er höre gut genug.

»Schön. Na, denn sehen Sie sich nur gut um, sonst könnte es Ihnen vielleicht passieren, daß Sie in der Kälte draußen bleiben müßten!«

»Ach,« entgegnete Master Gammon, »ich heul' nie, eh' man mich kneift.«

»Ich hab's Ihnen vorher gesagt,« sagte der Bauer.

»Nein, das haben Sie nicht!« sagte Master Gammon.

»Ich sag's Ihnen jetzt.«

»Nein, das tun Sie nicht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Weil ich da nichts auf gebe.«

»Dann werde ich Sie hinausschmeißen, Alter!«

»Ja, wenn Sie das man können,« sagte Master Gammon. »Ich bin auf dem Hof aufgewachsen, un' 'n Baum, der da wächst, können Sie auch nich' sagen, nu' soll er da weggehen.«

Rhoda legte ihre Finger in des Alten Hand.

»Sie sind langlebig in Ihrer Familie, nicht wahr, Master Gammon?« sagte Robert, indem er voller Neid Rhodas Tun sah.

Master Gammon bedeutete ihn, er möge einmal einen gewissen Kirchhof in Sussex aufsuchen und einen speziellen Grabstein dort besonders untersuchen, auf dem das Alter seiner Vorfahren angemerkt sei. Es gliche mehr dem Alter von Eichen, als von Menschen.

»Das Herz ist es, das tötet,« sagte Robert.

»Das verfluchte Unglück ist es,« murmelte der Bauer.

»Es ist die Schlechtigkeit der Welt,« dachte Rhoda.

»Wird woll 'n schwacher Magen sein,« meinte Gammon nachdenklich.

Am Bahnhof verabschiedeten sie sich von ihm; von der Höhe desselben bot es einen sehenswerten Anblick, ihn unten auf der Landstraße zu beobachten, wie er weitläufige Vorbereitungen für seine Rückfahrt traf, gleich einem Feldherrn, der über die Stunden gebietet. Mochten andre rennen und schwatzen, wenn es ihnen Spaß machte: Master Gammon hatte sein Tempo gewählt und hatte nicht die Absicht, es wegen irgend jemand oder irgend etwas zu beschleunigen. Es war sein Ruhm, daß er niemals auf der Eisenbahn gefahren sei, noch »es jemals zu tun gedenke, wenn ich es irgend helfen kann«, pflegte er zu sagen. Er war durchaus im Einklang mit der universalen Natur, wenn das das Geheimnis des menschlichen Lebens ist.

Inzwischen war Algernon in tiefster Niedergeschlagenheit zum Bahnhof zurückgekehrt, wo er gerade in dem Augenblick anlangte, als der Zug in Sicht kam. Er gewahrte den Wagen mit Master Gammon darin und fragte ihn, ob alle seine Leute nach London reisten, aber die Antwort war augenscheinlich eine Meile weit fort und hatte sich noch nicht auf den Weg gemacht. Algernon hieß daher den alten Mann sein Pferd nach dem Wirtshaus »Zum weißen Bären« führen, während er ihm gleichzeitig dessen Zügel und einen Sovereign in die Hand drückte, und ließ ihn, nachdem er ihn so gewaltsam von dem Gleise seiner Fassungskraft herabgestoßen hatte, völlig verloren zurück.

Da er ein vornehmer Herr war, hatte er natürlich ein Retourbillet erster Klasse gelöst. In der verzweifelten Hoffnung, daß er vielleicht in ein und denselben Wagen mit Rhoda gelangen könne, sprang er in eins der Coupés zweiter Klasse, ein Faktum, das nicht allein seinem Geschmack und seinen Gewohnheiten völlig zuwiderlief, sondern dem in seiner Vorstellung gewissermaßen etwas Ehrenrühriges anhaftete. Doch war er der guten Zuversicht, daß er von niemand als den Unvornehmen dieser Welt gesehen worden sei; unter allen Umständen war sein Billet, wie der Schaffner sofort und ehrerbietig bemerken würde, erster Klasse, und wenn es gewisse Unbequemlichkeiten der Tugendhaftigkeit in den Kauf zu nehmen galt, so empfand er doch daneben auch einige ihrer Tröstungen.

Wenn er einmal so weit war, überzeugte der harte Sitz und die unwürdige Umgebung, in der er sich befand, seinen nachdenklichen Geist von dem Umstand, daß er liebe, denn wie würde er sich sonst derartigen Unannehmlichkeiten ausgesetzt haben? »Ich liebe das Mädel wahrhaftig,« sagte er, indem er nervös nach den besten Kissen suchte.

Er war erhitzt und wünschte, man möge das Fenster hinaufziehen, worauf sich seine Mitreisenden bereitwillig einließen. Als dann später die Luft seinen erregbaren Geruchsnerven schlecht erschien, wünschte er das Fenster herabgelassen, und wiederum hatten sie nichts dagegen. »Bei Gott! ich muß das Mädel lieben!« rief Algernon im Geiste aus, als ein Krampf vom unbequemen Sitzen, Kälte und affizierte Geruchsnerven gemeinsam seine physischen Empfindungen in Erstaunen setzten. Noch war es ihm unangenehm, die Tatsache festzustellen, daß ihm kahle Wände etwas durchaus Ungewohntes seien.

»Wir sind 'n reiches Land,« sagte ein Mann zu seinem Nachbarn, »aber wenn man nicht dafür bezahlt, muß man's eben nehmen, wie's kommt, und sich die Sache so ungemütlich machen lassen, wie 's ihnen paßt.«

»Jawoll,« sagte der andere. »Ich bin auf dem Festland gereist. Da sind die Wagen zweiter Klasse so, daß jedermann drin reisen kann. Dies kommt davon, wenn man solchen Götzendienst mit dem Gelde treibt, – da hat man keine Achtung für den einzelnen. Das rechnet immer nur nach Pounds.«

»Das sind ja ganz gemeine Sozialdemokraten,« dachte Algernon.

Ihre Bemerkungen hatten sich durchaus mit seinen Äußerungen gedeckt, ja, sie waren wahrscheinlich durch sie hervorgerufen. Er blickte finster zum Fenster hinaus, mit einer Miene, die deutlich sagte, er fühlte sich durchaus nicht hierher gehörig. Eine einfach gekleidete Frau bat, man möge das Fenster schließen. Einer der Männer machte sich augenblicklich daran, es zu tun. Algernon hinderte ihn daran.

»Ich bitte um Verzeihung, Herr,« sagte der Mann, »eine Dame bat darum, daß das Fenster geschlossen werde.« Und es wurde geschlossen.

Eine Dame! Algernon kam zu dem Schluß, daß er diese Art Leute geradezu haßte. »Geht nur einmal in ihre Mitte und seht, welcher Art sie sind,« wandte er sich gewissermaßen von einem Senatssessel der Zukunft aus an eine Versammlung von Anti-Demokraten, die seine Phantasie blitzschnell einberief. Der Krampf, die Kälte, undefinierbare schlechte Gerüche und eingewurzelter Haß gegen seine Mitreisenden überzeugten ihn im Verein, daß er wirklich nichts Geringes aus Liebe zu Rhoda erduldete.

Im Dämmern langte der Zug in London an. Algernon sah Rhoda aus einem Wagen, welcher nahe an der Lokomotive war, aussteigen, sah, wie Robert ihr half, und wie der alte Anton auf dem Perron stand, um sie zu bewillkommnen; und Anton ergriff ihre Reisetasche und der Trupp Reisender setzte sich in Bewegung. Man wird vermuten, daß beim Anblick Roberts nicht eben freundliche Regungen in Algernons Seele lebendig wurden, bis zu einem gewissen Grad war dies auch sicherlich der Fall, aber er war ein leichtbeweglicher Jüngling, und jemand, der ihm in ziemlich nachdrücklicher Weise seine überlegene Kraft bewiesen hatte, erfreute sich immerhin einer gewissen Hochachtung seinerseits. Überdies würden Robert und er – im Falle Robert etwa Rhoda den Hof machte – sich auf einem neuen Gebiet der Gegnerschaft messen können, und dann würde er Robert eine Lektion zu erteilen vermögen.

Er folgte der Gesellschaft zu Fuß, bis sie Antons Wohnung erreichten, merkte sich das Haus und eilte zum Temple. Dort fand er eine Depesche von Edward vor, mit der Nachricht, daß er ihn seit dem Morgen erwarte.

» Halt es auf,« waren die einzigen Worte, welche einer Mitteilung gleich kamen; kurze, – wenn man will, – rätselhafte Worte.

»Was in aller Welt meint er damit?« rief Algernon und tat, als bemühe er sich wieder und wieder vergeblich, einen Sinn aus Edwards Worten herauszulesen. »Halt es auf! Halt was auf? Halt den Zug auf? Halt die Uhr auf? Halt das Universum auf? O, dies ist wirklich blühender Blödsinn!«

Er warf das Papier auf die Erde und machte sich daran, das Geld zu zählen, daß er noch in seinem Besitz hatte. Je mehr es zusammenschrumpfte, um so gebieterischer wurde für ihn die Notwendigkeit, außer Landes zu gehen.

Über die Zahlen hinweg berechnete er, daß Rhoda diesen Abend voraussichtlich ihre Schwester besuchen werde. » Das kann ich nicht aufhalten,« sagte er, und als er die Uhr schlagen hörte, »noch das!« Ein Klopfen an der Tür ertönte: »Noch das!« Diese Erwägung erfüllte ihn mit allerhand fatalistischen Ideen.

Sedgett erschien und war ihm willkommen. Algernon mußte den Impuls, dem Burschen die Hand entgegenzustrecken, zurückhalten, so willkommen war er ihm in diesem Augenblick. Sedgett berichtete, daß alles für den folgenden Tag in Ordnung sei. Er hatte alles besorgt, was zu besorgen war.

»Un' es is' mehr, a's manch einer denkt,« sagte er und rieb sich die Hände und lachte. »Heute morgen war ich an Bord des Schiffs in Liverpool. Ja, ja. Das junge Frauenzimmer is' nu' von ihren Traum aufgewacht,« (er sprach das Wort Traum, als wenn es drei Silben hätte), »ja, nachgerade is' sie das nu'. Aber ich mußte für mein Billet gleich bezahlen,« bei welcher Erinnerung er einen kräftigen Fluch ausstieß. »Das Geld 's futsch. Na, schad't nix, Schlimmeres ist auch futsch. Is das nich' 'n ekligen Kram, Herr, wenn man auf so 'n junges Frauenzimmer müde wird, wo man sonst mit gegangen is', un' nu' muß man bei ihr bleiben, ob man mag oder nich? Sie 's jetzt woll ornd'tlich seekrank. Wir sind die ganze Nacht gefahren. Ich kriegte sie glücklich an Bord, kriegte sie dazu, zu Bett zu gehen, un' sag', nu' wollt' ich noch mal nach 'n Gepäck sehen. Un' denn – ich 'runter in'n Boot, un' das Schiff weg, – ich hab' den Rauch davon noch 'n ganzes Ende gesehen. Hol' mich der Teufel, wenn ich nich' gesungen hab'. Und hatt' doch kein Tropfen nich' getrunken, un' will das auch nich', bis die Geschichte morgen vorbei is'. Mein'n Sie nich', ›Dahli‹, das 's 'n hübschen Namen, Herr? Ich zu ihr zurück, so schnell, wie der Zug man gehen wollte. Sie hat 'n Brief von ihr' S'wester gehabt, die sagt auch, sie soll mich man heiraten, ›'n edlen Mann‹ nennt sie mich, – ha, ha! das 's 'n guten Witz! ›Nu' was meinst du denn, mein Schatz?‹ sag' ich, un' Teufel noch mal! Aber 'n Kompelment oder 'n Kuß is' da nich' 'rauszukriegen. Sie hat nu' mal so was von 'ner feinen Dame. Aber leiden mag ich sie, ganz gewiß. Schön, Herr, also an der Kirchtür, nach der Trauung, da bringen Sie die Sache in Ordnung, – un' ›fleckenlose Ehre!‹ heißt 's nich' so?«

Algernon nickte. Sedgetts Redeweise hatte für sein feinsinniges Gefühl immer etwas Ungemütliches.

»Übrigens, was für 'ne politische Richtung haben Sie eigentlich?« fragte er.

Sedgett starrte ihn etwas verwundert an, sagte, er wäre ein Tory, Algernon nickte wieder, aber seine Brauen zogen sich mürrisch zusammen bei dem Gedanken, daß der Schurke die gleiche politische Überzeugung habe wie er.

»Übrigens,« rief Sedgett, »mit Ihren Parlamentsphrasen hab' ich gar nichts zu tun. Morgen sind Sie an der Kirchtür, oder Sie können sich auf 'n schönen Krawall gefaßt machen, – das lassen Sie sich gesagt sein. Abgemacht is' abgemacht. Ich mag das junge Frauenzimmer woll leiden, aber das Geld muß ich haben. Warum woll'n Sie 's mir nich' jetzt geben?«

»Nicht, bis alles geschehen ist,« sagte Algernon sehr verständigermaßen.

Sedgett studierte seine Gesichtszüge, und das Resultat dieser Prüfung war der Ausspruch: »Also die Sache ist die: Ich will es tun un' soweit vertrau' ich Ihnen; aber wenn Sie mich nur zum besten gehalten haben, dann schmeiß ich das Frauenzimmer über Bord und mach' Ihnen die allerschlimmsten Ungelegenheiten. Aber Sie meinen es ehrlich?«

»Gewiß mein' ich's ehrlich,« sagte Algernon und behielt sich seine Meinung vor.

Wieder ertönte ein Klopfen an der Tür. Diesmal war es ein Diener in der Livree Baron Williams, der ihm einen Brief von Edward brachte, ein Kommentar zu dem Telegramm:

»Lieber Algy!
Halt es auf. Ich bin zurück und muß mit meinem Vater sprechen. Es kann sein, daß ich um zwei, drei oder vier Uhr früh nach Haus komme. Ich hab' keinen Schlüssel, also halt Dich zu Hause. Ich muß Dich unbedingt sehen. Mein ganzes Leben wird fortan ein anderes werden. Ich muß sie sehen. Hast Du mein Telegramm erhalten? Antworte mir durch den Boten. Ich komme zu Dir, sobald mein Vater mit seiner Rede zu Ende sein wird.

Dein E. B.«

Algernon hieß Sedgett warten, während er sich in Diner-Toilette warf, gab ihm inzwischen eine Zigarre und schrieb:

»Lieber Ned!
»Halt auf – was? Natürlich denke ich mir, daß es sich nur um eine einzige Sache handeln kann, und wie kann ich die aufhalten? Warum auch? Du komischer Kauz! Was bist Du doch für ein wetterwendischer Gesell. – Ich gehe los, um zu sehen, was noch zu tun ist. Nach morgen früh um elf wird's Dir in Deiner Haut wieder wohl sein. Wenn Dein Alter milde ist, leg' ein gutes Wort für den › Alten Braunen‹ ein, und bring gleich zwei Dutzend davon in einer Droschke mit. Es lohnt sich sonst wirklich schlecht, hier zu Hause zu sitzen. Mach' ihm das mal ein bißchen klar. Wenn ich an Deiner Stelle wäre, wollte ich es schon tun. Stell' ihm vor, daß es weit praktischer wäre. Wenn ich besseren Wein in einem Hotel finde, gehe ich natürlich in ein Hotel und gebe zwei- oder zehnmal soviel dafür aus. Und erzähle ihm, daß wir uns von jetzt an in der Regel unser Mittagsessen von der Wirtin aufs Zimmer schicken lassen wollten. Ein guter Vorwand für den ›Alten Braunen‹.

Dein Dich liebd. A. B.«

Diese Epistel gab er dem Diener zur Besorgung und stöhnte bei dem Gedanken daran, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach, wenn der alte braune Sherry käme, kaum mehr als ein halbes Dutzend von dieser exquisiten Marke trinken würde. Bald darauf fuhren er und Sedgett miteinander nach Dahlias armseliger, im Westen gelegenen Wohnung. Unterwegs kam ihm ein Gedanke. Würde Sedgett ihn nicht weit lärmender um die Tausend bedrängen als Edward. Wenn er Edwards Weisung gehorchte und die Heirat verhinderte, so konnte er ihm doch immerhin noch ein gut Teil Hunderter zurückerstatten und die Vermutung offen lassen, daß er Sedgett die übrigen als Vorschuß gegeben habe. Wie fing er das am besten an? Sedgett sagte beiläufig: »Wenn Sie mir das Geld jetzt nicht einhändigen wollen, muß ich es jedenfalls sofort nach der Trauung bekommen. Schwören Sie mir, daß ich Sie in der Sakristei finden werde, wenn wir dort unsere Namen unterzeichnen. Ich weiß mit Eheschließungen ganz genau Bescheid. Schwören Sie, oder das sag' ich Ihnen, wenn ich mich betrogen finde, so bin ich mit dem jungen Frauenzimmer in'n Handumdrehen fertig.«

Algernon nickte. »Ich werde dort sein,« sagte er und dachte währenddes, daß er sich schon hüten werde, dort zu sein. Dieser Gedanke befreite ihn von allerhand Skrupeln, obschon er die hübsche Aussicht auf ein Blockhaus in den Kolonien, auf ein Pferd und auf Rhoda, welche ihm das Mahl bereitete und auf ein Aller-Sorgen-ledig-sein zerstörte. Er tat sein Bestes, den Vorsatz, wenn's ihm möglich sein werde, die Geschichte abzubrechen, in sich zu befestigen. Aber wenn schon es einem Narren gestattet sein mag, Verwicklungen zu schaffen und Unheil zu stiften, so ist doch das letzte, was Gott seinen Händen überlassen würde, das, den Lauf solchen Unheils zu hemmen.


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