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Kapitel XLIII. Rhoda verschenkt ihre Hand

Anton hatte die Bank beraubt. Der junge Gutsherr wußte von der Geschichte und hatte sich, erboten, für ihn einzutreten und der Bank das Geld zu ersetzen unter einer Bedingung. So viel hatte Rhoda den unzusammenhängenden Reden ihres Onkels während des Tages entnehmen können. Der Bauer wußte von nichts, als von dem Antrag des jungen Squires, der ihm direkt gemacht worden war, und er hatte es Robert überlassen, Rhoda davon Mitteilung zu machen und seine eigne Sache zu führen. Als sie in das Zimmer zurückkam, wo Robert auf sie wartete, war sie fest davon überzeugt, daß sie nur den Mund aufzutun brauche, um eine Mine zum Explodieren zu bringen; und halb darauf hoffend, halb davor zurückbebend, trat sie ein und versuchte ihre Augen fest auf Robert zu heften, während sie ihm die Geschichte erzählte. Robert hörte mit einem überlegenden Ernst zu, der ihre physische Angst vor einem Ausbruch seiner Heftigkeit beschwichtigte. Nun war sie zu Ende, und er sagte:

»Vielleicht bedeutet das für Ihren Onkel Rettung. Jedenfalls wird es Ihrem Vater eine Freude sein.«

Sie setzte sich. Ein Gefühl überkam sie, als sei eine wärmende Hülle von ihr abgefallen, und als säße sie in ihrer ganzen Nacktheit da.

»Muß ich denn ›ja‹ sagen?«

»Wenn Sie es können, müssen Sie es wohl.«

Da sie beide Menschen waren, die zum kräftigen Handeln geschaffen waren, fand eine solche Kalamität sie hilflos, wie Kinder. Zudem verletzte es ihn, zu sehen, daß sie die Frage überhaupt in Erwägung zog, und Schwierigkeiten, die seinem Herzen und seinen Händen nichts zu tun gaben, brachten ihn zur Verzweiflung. Ein tatenloses Über-sich-ergehen-lassen schien ihm die ihm auferlegte Lektion zu sein, und er wollte ihr zeigen, daß er sie gelernt habe.

»Wollten Sie ausgehen, Robert?«

»Ich mache gewöhnlich noch mal die Runde durchs Haus, um zu sehen, daß alles in Ordnung ist.«

So hatte dann also sein im Garten Umherwandern zur Nachtzeit nicht den Zweck, nach ihrem Fenster zu sehen. Rhoda wurde dunkelrot vor Scham bei dem Gedanken, daß sie gemeint hätte, es geschähe ihretwegen.

»Ich muß mich morgen früh entscheiden.«

»Man sagt ja: ›Guter Rat kommt über Nacht!‹«

Eine Antwort, welche die Vermutung in sich schloß, sie könne diese Nacht schlafen, kam ihr äußerst unfreundlich vor.

»Ist es Vaters Wunsch?«

»Aus dem, was er sagte, habe ich es nicht schließen können.«

»Sie meinen, heimlich wünscht er es doch?«

»Welcher Vater würde das nicht tun? Natürlich wünscht er es. Er ist gutherzig genug, aber daß er es wünscht, darauf können Sie sich verlassen.«

»O Dahlia, Dahlia!« Rhoda stöhnte auf, eine Flut neuer Empfindungen rauschte in ihr empor, unkindlicher Art, denen gleich, durch deren rückhaltslose Äußerung ihre Schwester sie so betrübt hatte.

»Ach, die arme Seele!« fügte Robert hinzu.

»Mein Liebling muß tapfer sein: sie muß viel Mut haben. Dahlia hat nichts von einem Feigling an sich. Ich fange an, das einzusehen.«

Rhoda warf den Kopf zurück, sie saß eine Weile ganz; still da wie jemand, der alte Tatsachen in einem neuen Licht sieht.

»Ich kann mir nicht darüber klar werden,« sagte sie, plötzlich emporfahrend. »Bin ich schrecklich grausam gewesen? Hab' ich unschwesterlich gehandelt? Mir graut so vor einzelnen Dingen – vor der Schande. Und Männer sind so hart, was Frauen anbelangt; und Vater – ich konnte es Vater so nachfühlen! Und ich haßte diesen erbärmlichen Menschen. Er ist sein Vetter, und er trägt seinen Namen. Ich könnte mir fast vorstellen, diese Prüfung würde als Strafe über mich verhängt.«

Ein mutwilliger Teufel gab es Robert ein zu sagen: »Sie können Ihren Onkel unmöglich dem Unheil überliefern.«

Was er da andeutete, war weiter als irgend etwas anderes davon entfernt, sich mit seinem Begriff von eventuellen Pflichten einer Frau zu identifizieren.

»Sind Sie der Meinung?« fragten Rhodas Augen, aber sie sprach es nicht aus.

Nun hatte er tatsächlich in einem fast ironischen Ton gesprochen. Sie hätte das bemerken können. Und wie konnte ein edeldenkendes Mädchen ihn dessen für fähig halten, derjenigen, die er liebte, einen solchen Rat zu geben? Ekel und Ärger darüber schüttelten ihn, aber er war allzu mannhaft, um diese in ihm wogenden Empfindungen zu verraten, so fuhr er fort zu heucheln. Er konnte es ihr noch nicht vergeben, daß sie so gleichgültig gegen ihn gewesen war.

»Sie sind nicht mehr Ihre eigene Herrin,« sagte er, während er doch ganz das Gegenteil meinte.

Das war es, was Rhoda fürchtete: verpflichtet zu sein, sich selbst aus Großmut zu opfern. In ihrem Herzen regte sich keine stürmische Leidenschaft, welche die Fülle schwachherziger Vernunftgründe und Eitelkeiten kraftvoll durchbrochen und ihr geboten hätte, ein Weib zu sein, nicht der Spielball anderer; und die Leidenschaft in dem Manne, zu dem es sie mit allen Fasern zog, daß er sie darin einhülle und sie fortwirble in ein vollkommenes Vergessen, indem er ihr das Siegel eines Verlöbnisses auf die Lippen drückte, schwieg; sie war in diesem Augenblick an Roberts Liebe zu ihr irre geworden. Sie war des Grübelns und des Handelns auf eigne Verantwortung so müde, wie gerne hätte sie ihren Willen daran gegeben; dennoch sagte ihr das eigene Urteil, wenn sie dasselbe denn noch in Anspruch nehmen sollte, daß der Schritt, zu welchem man sie überreden wollte, die direkte Folge und Frucht ihrer vorhergehenden schwankenden Schritte sei. Ihr Stolz flüsterte ihr zu: »Deine Schwester vermochtest du zu dem zu zwingen, was sie haßte,« und ihr Mitleid trat für den armen, alten Onkel Anton ein. In Gedanken versetzte sie sich noch einmal in jenes Erlebnis zurück, was sie in London mit ihm gehabt; ihre wahnsinnige Kraft, zu handeln, erfüllte sie mit Entsetzen, und wiederum schauderte es sie – als sie von jener Betrachtung sich wieder der Gegenwart zuwandte – vor ihrer augenblicklichen Kraftlosigkeit.

»Ich bin nicht dazu imstande, eine eigne Entscheidung zu treffen,« sagte sie.

»Dann entscheiden Sie sich nur je eher, je lieber,« warf Robert hin, und die Stube wurde ihm dumpf und enge.

»Man läßt mir so wenig Zeit,« murmelte sie. Es klang wie ein Weinen, – jemanden, der ihre mitleidslose Energie von ehemals gesehen hatte, mußte es irritieren.

»Ich denke, Sie werden das Unglück nicht so groß finden,« sagte er.

»Sie meinen,« sie sah schnell zu ihm auf, »weil ich ihm einmal ein Rendezvous gegeben habe? Meinen Sie das, Robert? Ich ging zu ihm, weil ich auf Nachrichten von meiner Schwester hoffte. Ich hatte keine Briefe von ihr bekommen. Und er hatte mir geschrieben, um mir zu sagen, daß er mir etwas über sie erzählen könnte. Mein Onkel nahm mich einmal mit auf die Bank. Da hab' ich ihn zum erstenmal gesehen. Und da sprach er von Wrexby und von meiner Schwester. Und es tut einem unerfahrenen Mädchen wohl, sich von jemand loben zu hören. Seit dem Tage, wo Sie mich umkehren hießen, habe ich immer Respekt vor Ihnen gehabt.«

Seine Brauen wurden etwas weniger strenge.

Hätte sie sich noch tiefer vor ihm demütigen können? Aber sie hatte zugleich seine alte Wunde berührt, und sein Rivale von damals war ihr Bewerber von heute, und er war reich und ein vornehmer Herr. Und dies Zimmer, mußte Robert denken, während er sich in demselben umsah, war dasselbe, in dem sie ihn abgewiesen hatte, als er sie zum erstenmal gebeten hatte, sein Weib zu werden.

»Ich glaube,« sagte er, »ich habe Sie noch gar nicht um Verzeihung gebeten wegen des letzten Mals, wo wir hier zusammen waren. Ich legte damals meinen Arm um Sie. Fürchten Sie nichts. Es handelte sich um meine Heirat, und es handelte sich um mein Weib. Und damit genug von dem, was ich gewünscht und verkehrt angefangen. Verzeihung, daß ich Sie daran erinnerte.«

»Nein, Robert, nein!« Rhoda hob die Hände empor, dann – als erschrecke sie selbst über den Impuls, ließ sie sie fallen und sagte: »Was soll ich verzeihen? Bin ich Ihnen je böse gewesen?«

Ein Blick warmer Zärtlichkeit begleitete diese Worte, und als er sie ansah, wurde sie glühend rot.

»Als Sie in den Wald gingen, sah ich Sie. Ich wußte, daß Sie einen guten Grund haben mußten,« sagte er, und nun errötete auch er.

Aber durch sein abermaliges Anspielen auf jene Szene hatte er die in ihr aufwallende, sanfte Regung unterdrückt. Einen Augenblick ließ sie, wie erschlafft, den Kopf hängen und langsam ebbte jene Purpurglut wieder aus ihren Wangen.

»Sie sind sehr freundlich,« sagte sie.

Er aber empfand dunkel, daß mutmaßlich eine Gelegenheit zum Glück – in diesen paar erbärmlichen Sekunden gereut – verdorrt und abgefallen sei. Wütend über seine Kurzsichtigkeit und ängstlich besorgt, sein Bedauern – im Fall er sich geirrt haben sollte – nicht zu zeigen (der Mann war ein Liebender!), bemerkte er zugleich wahrhaftig und heuchlerisch: »Es hat mir immer geschienen, als wären Sie zur Dame geboren.« (Ihr Ehrgeiz stand dahin, meine Gnädigste!)

Sie antwortete: »Das versteh ich nicht.« (Nämlich, daß du so etwas sagen kannst, mein Freund!)

»Sie werden demnächst neue Pflichten übernehmen.« (Sie hätten schon jetzt nichts dagegen!)

»Ja. Wenn nicht, so hätte mein Leben nur geringen Wert.« (Du könntest wissen, daß die Verantwortung dafür dich trifft!)

»Und ich wünsche Ihnen Glück, Rhoda.« (Allerdings gefährden Sie jede Aussicht dafür aufs blödsinnigste!)

Jedem von ihnen war der geheime Sinn ihrer Worte schattengleich hinter denselben ersichtlich. Und weiter ging's:

»Ich danke Ihnen, Robert.« (Für den Ausgang werde ich Ihnen allein zu danken haben.)

»Jetzt ist es Zeit zu gehen.« (Siehst du denn nicht die Gefahr, die für mich in einem längeren Bleiben liegt?)

»Gute Nacht.« (Sieh, ich füge mich einfach deinem Willen.)

»Gute Nacht, Rhoda.« (Du hast das erste Zeichen zum Aufbruch gegeben.)

»Gute Nacht.« (Ich füge mich nur deinem Willen.)

»Warum nicht meinen Namen? Sind Sie mir böse?«

Es war Rhoda, als solle sie ersticken. Die indirekte Sprechweise war gleichsam ein Schutz gewesen, unter dem sie mehr anzudeuten vermochte, als sie in Worte zu kleiden wagte.

Wieder stieg ihr das süße tiefe Rot zwischen die Augen.

Aber er hatte ihr die Hand entgegengestreckt, und sie hatte sie nicht genommen.

»Was habe ich Ihnen getan? Ich weiß es wahrhaftig nicht, Rhoda.«

»Nichts.« Die Blume hatte ihren Kelch wiederum geschlossen.

Er redete sich ein, er glaube, daß sie sich im Herzen der Aussicht auf eine so gute Partie freue, und fing nun an, über Antons Vergehen zu sprechen, indem er sagte:

»Er hat das Geld nicht des Geldes wegen genommen, das kann jeder sehen. Ich dachte mir schon halb und halb, als Sie mir davon erzählten, daß er das Geld nicht hätte weggeben dürfen, aber wenn Sie etwas tun, dann denk' ich eben immer, es muß das Richtige sein!«

»Und das ist es doch nie,« sagte Rhoda und ärgerte sich sowohl über ihn, wie über sich selbst.

»Von Geldsachen verstehen Frauen meistens nicht sonderlich viel. Hat denn Ihr Onkel nicht ein eignes Konto auf der Bank? Er galt doch immer für 'ne Art Geizhals.«

»Ich ahne nicht, was er ist, oder was er war. Seit dem Tage ist er weder in der Nähe der Bank, noch in seiner Wohnung gewesen. Er ist zu Fuß hierher gewandert und hat hie und da in einer Kate übernachtet. Es scheint, daß ihm das Herz gebrochen ist. Ich habe noch einen großen Teil des Geldes. Ich behielt es, weil ich dachte, es könnte ein Schutz für Dahlia sein. O, was dachte ich nicht alles! und was hab' ich getan! Natürlich glaubte ich, er wäre reich. Tausend Pfund schien mir sehr viel, aber ich dachte, für einen, der reich wäre, bedeutete es nur eine Kleinigkeit. Wenn ich überhaupt nachgedacht hätte, hätte ich mir ja sagen müssen, daß Onkel Anton nie so viel durch die Straßen tragen würde. Aber ich war wie ein Teufel hinter dem Gelde her. Ich muß unrecht getan haben. Wenn man sich so nach etwas sehnt, muß es ein Zeichen sein, daß es unrecht ist.«

»Was für ein Unrecht Sie denn auch immer begangen haben mögen, Rhoda, Sie wollen es ja nun wieder gutmachen.«

»Dann verkaufe ich mich also.«

»So schlimm ist es wohl kaum. Das Geld kommt dann eben von Ihnen, anstatt von Ihrem Onkel.«

Rhoda neigte sich in ihrem Stuhl nach vorn, die Ellbogen auf ihre Knie gestützt saß sie da, wie ein in tiefes Nachsinnen versunkener Mensch. Vielleicht war es recht, daß das Geld von ihr kam. Und wie hatte sie hoffen dürfen, das Geld durch irgendwelche andere Mittel zu erhalten. Hier auf alle Fälle war eine offenbare Lösung der ganzen Schwierigkeit. Es kam gerade zur rechten Zeit; war es eine göttliche Hilfe? Welche Feigheit raunte ihr zu sich zu widersetzen. Konnte es alles in allem ein so furchtbarer Schritt sein, um den es sich handelte?

Ihre Augen begegneten denen Roberts, und er sagte ganz abrupt: »Recht wie ein Weib!«

»Inwiefern?« Aber sie hatte die Bedeutung seines Ausrufs wohl verstanden, und sie errötete wider ihren Willen.

»Er war der erste, der Ihnen schmeichelte.«

»Sie sind brutal, Robert.«

»Kriege ich endlich einmal meinen Namen zu hören? Dessen haben Sie mich in diesem Zimmer schon einmal beschuldigt.«

Rhoda stand auf. »Ich will Ihnen gute Nacht sagen.«

»Dann nehmen Sie meine Hand.«

»Gute Nacht,« sagten sie beide gleichzeitig, aber Robert gab die Hand, die er in der seinen hielt, nicht frei. Seine Augen blitzten, und er preßte ihre Finger.

»Ich bin gebunden,« schrie sie auf.

»Ein einzig Mal!« Robert zog sie zu sich heran.

»Lassen Sie mich los!«

»Nur einmal!« wiederholte er. »Rhoda, ich hab' dich nie geküßt, – einmal!«

»Nein! Machen Sie mich nicht böse!«

»Hat Sie nie jemand geküßt?«

»Nie!«

»Dann bin ich –« Seine Kraft bezwang ihre straff aufgerichtete Gestalt.

Hätte er gesagt: »Sei mein!« vielleicht hätte sie sich von seiner Zärtlichkeit erweichen lassen, aber in ihrem Herzen glühte kein hellsehend machendes Feuer, das imstande gewesen wäre, den Worten des Mannes, der sie liebte, die rechte Deutung zu geben. Sie las nur seine Worte, wie sie eine inhaltslose Druckschrift auf einer Holztafel gelesen haben würde, und alles in ihr widersetzte sich der Kränkung, ihre Lippen einem Manne darzubieten, der nicht ihr Gatte werden sollte. Seine Eifersucht verlangte zunächst nach dieser Genugtuung. Er würde ihr nur allzu bereitwillig das »Sei mein!« haben folgen lassen.

»Lassen Sie mich gehen, Robert!«

Er ließ sie los. Die Ursache dafür war die, daß sich die Tür plötzlich öffnete. Anton stand da.

Kein Anblick konnte mehr von der Phantasmagorie eines Traumes an sich tragen. Sein Anzug zeigte die Zerrüttung seines Verstandes, halb war er noch in seinen Tageskleidern, halb im Nachtgewand; auf dem Kopf hatte er eine von des Bauern Nachtmützen, über der sein Hut thronte. Eine dunkle Vorstellung von der Notwendigkeit von Beinkleidern hatte ihn dieses Kleidungsstück soweit anlegen lassen, um die Bewegung seiner kurzen Beine zuzulassen, an welchem Punkte ihre Willfährigkeit zu nützlicher Verwendung gescheitert war. Von Kopf zu Fuß in Kleidungsstücke gewickelt, von denen keines zu dem andern paßte, vom Licht geblendet, blinzelte er sie an, wie eine erschrockene und gleichsam versteinerte Maus.

»Liebster Onkel!« Rhoda ging auf ihn zu.

Anton nickte und deutete auf die Tür, die zum Hause hinaus führte.

»Ich möchte nur eben fort, – fort. Kehrt euch nicht weiter an mich. Ich möchte nur fort.«

»Du mußt zu Bette gehn, Onkel.«

»Mein Gott, nein! Ich muß fort, Liebe. Ich hab' ja schon so viel geschlafen, daß vierzig Leute damit auskönnten. Ich –« er brachte seinen Mund ganz nahe an Rhodas Ohr, »ich möchte den alten Bauer nich' erst seh'n.« Und als habe er damit einen völlig ausreichenden Grund für seine Abreise gegeben, wandte er sich der Tür zu und wiederholte die Worte noch einmal, indem er kreischend hinzufügte: »Wenn's Tag wird.«

»Du hast ihn ja schon gesehen, Onkel. Du hast ihn gesehen. Das ist schon überstanden,« sagte Rhoda.

Anton flüsterte: »Ich möcht' den alten Bauer nich' sehn!«

»Aber du hast ihn gesehen, Onkel.«

»Wenn's Tag wird, meine Liebe. Nich', wenn's Tag wird. Er wird mich so ankucken un' fragen: ›Wohin, Bruder Toni?‹ ›Wo 's dein Sparkassenbuch, Bruder Toni?‹ ›Wie steht's auf 'n Geldmarkt, Bruder Toni?‹ Ich kann den alten Bauer nich' sehn!«

Man konnte unmöglich ein Lächeln unterdrücken. Er traf den ländlichen Dialekt des Bauern gar zu gut.

Sie ergriff seine Hände und überredete ihn auf jede Weise, die ihr nur irgend einfallen wollte, zu Bett zu gehen, auch war er ihrem Zureden gegenüber nicht unzugänglich oder über ihre Auseinandersetzungen erhaben.

»Der alte Bauer glaubt, ich hätt' Millionen, Kind. Kannst ihn da'über beruhigen. Er ... nein, ich will 'n nich' sehen, wenn's Tag wird. Er glaubt, ich hätt' Millionen. Sein Mund zieht sich denn so 'runter. Ich mag nich' ... Du magst doch auch nich', wenn er so aussieht ... Un' ich kann jetzt nich' zählen, ich kann nich 'n büschen mehr zählen. Un' überall seh' ich 'n Polizist. Ich versteck' mich ja gar nich'. Sie können den alten Mann ja gern einstecken. Er 's immer treu gewesen, bis er 'n einen Tag in so'n Wirbel 'reinkam, un' seitdem ... wie so'n kleinen Jung'! Ich bin sogar vor dir bange, Rhoda.«

»Ich will alles für dich tun,« sagte Rhoda, die jämmerlich weinte.

»Weil der junge Herr sagt,« Anton dämpfte seine Stimme zu einem geheimnisvollen Flüsterton.

»Ja, ja,« Rhoda fiel ihm ins Wort, »ich willige ja ein.« Sie warf einen gehetzten halben Blick nach rückwärts. »Komm, Onkel. Oh! um der Barmherzigkeit willen! Laß mich nur nicht denken müssen, du habest den Verstand verloren. Ich kann das Geld bekommen. Aber wenn du verrückt wirst, kann ich dir nicht helfen.«

Ihre Tatkraft war ihr mit dem Bewußtsein ihres Opfers zurückgekehrt. Anton erspähte ihre, Tränen. »Wir haben zusamm' auf 'ner Bank gesessen un' geweint, nich'?« sagte er. »Un Ameisen haben wir gezählt. Woll'n wir morgen zusamm' in 'ner Sonne sitzen? Sag', ja! Woll'n wir! Einen schönen langen Tag in 'ner Sonne sitzen, un' von keinen angekuckt werden, das mag ich gern!«

Rhoda versicherte ihm, das wollten sie, und daraufhin drehte er um und ging mit ihr hinauf, völlig gefügig gemacht durch die Aussicht auf die Stunden, die sie miteinander im Sonnenschein verbringen wollten.

Als indessen der Morgen kam, war er verschwunden. Auch Robert fehlte am Frühstückstisch. Der Bauer machte keinerlei Bemerkung, abgesehen davon, daß er die Hoffnung aussprach, Master Gammon wäre »ganz auf 'n Damm«, – eine Anspielung auf die im Schlaf gemachte Bemerkung des Greises am Abend vorher. Und seltsame Dinge spielten sich vor seinen Augen ab.

Die Morgenpost brachte einen Brief mit der Aufschrift: »Miss Fleming.« Er sah, wie seine Töchter aufstanden, die Hand ausstreckten und ihn in einem Atem beide für sich in Anspruch nehmen wollten, und dabei maßen sie einander mit einem Blick, wie die zwei Weiber, die von dem Richterspruch des weisen Königs ihren kleinen Sohn forderten. Der Brief wurde in Rhodas Hand gelegt, Dahlia legte die ihre darauf. Beider Lippen waren geschlossen, niemand, der sie nicht gerade ansah, hätte geahnt, daß sich im Zimmer ein heftiger Kampf abspielte. Es war ein zorniges Sich-Messen in ihren Augen, gleich dem: »Willst du nachgeben?« von Athleten, die einen Augenblick im Ringkampf innehalten. Aber die wahnsinnige Kraft siegte über die gesunde. Auf Dahlias hohlen Wangen zeichnete sich ein hartes, triumphierendes Lächeln ab; Rhodas dunkle Augen schlössen sich; sie ließ ihren Raub fahren, und Dahlia ließ den Brief blitzschnell in ihr Gewand gleiten, riß ihn dann wieder heraus, neigte ihr Gesicht tief zu einigen Rosen hinab, die in einer Vase standen, küßte Mrs. Sumfit und rannte aus dem Zimmer, aber nur für die Dauer einer Minute, dann kam sie mit einem ernsten, aber freudig bewegten Ausdruck in den Augen zurück und beendigte in ruhiger Bereitwilligkeit ihr Frühstück.

Was mochte das zu bedeuten haben? Der Bauer hätte allenfalls Rhoda, deren intellektuelle Überlegenheit alle anerkannten, die Berechtigung zu einem derartigen Verhalten eingeräumt, denn er war gewöhnt, jede Laune und jedes absonderliche Vorgehen auf Rechnung des Intellekts zu setzen. Aber Dahlia war ein sanftmütiges Geschöpf, das keinerlei Berechtigung zu irgendwelchen Extravaganzen besaß, und welches Anrecht hatte sie auf Briefe, die an »Miss Fleming« adressiert waren? Der Bauer schickte sich an, eine dahinzielende Frage zu stellen, wozu ihn Mrs. Sumfits Augen, die unter der Last überwältigender Neugier und unwiderstehlichen Staunens verständnisvoll zu ihm herüberfunkelten, noch besonders anspornten. Im Begriff zu sprechen, erinnerte er sich indessen daran, daß er sein Wort gegeben habe, keinerlei Fragen zu stellen; auch fürchtete er – das war die Sache! er hatte Rhodas Versicherung vertraut und schrak vor der Äußerung irgendwelchen Verdachts zurück. So bezwang er sich und wandte sich mit einem: »Na, Mutter?« an Mrs. Sumfit, die nun ihrerseits in Verwirrung geriet und schuldbewußt lächelte, hatte doch auch sie sich eidlich verpflichtet, alles Fragen zu lassen, ebenso wie Master Gammon, den sie mit einer Empfindung tiefen Neids betrachtete. Mrs. Sumfit fand für den besorgten Ausdruck ihres Gesichts eine Entschuldigung darin, zu sagen, sie müsse eben an die Meierei denken, wohin sie sich alsbald, von dem Veteranen gefolgt, zurückzog.

Rhoda stand da und maß Dahlia mit den Augen, völlig gewappnet, gegen den Inhalt des Briefes mit ihr zu kämpfen, obschon sie im ersten Gefecht zurückgeschlagen worden war. »O dieser Fluch der Liebe!« dachte sie in ihrem Herzen, und als Dahlia mit glühenden Wangen, wie berauscht und betäubt das Zimmer verließ, teilte Rhoda ihrem Vater um so bereitwilliger den Entschluß mit, der das Ergebnis ihrer Unterhaltung mit Robert war.

Kaum hatte sie dies getan, als ein seltsam unruhiges Verlangen in ihr wach wurde, Robert zu sehen. Sie verließ das Haus, indem sie sich selbst einredete, sie wolle nach ihrem Onkel sehen und bestieg eine niedrige Rasenkuppe, die ein Stückchen hinter dem Hof lag, und von wo aus sie die grünen Kornfelder und Wiesen am Fluß, diesen selbst, wie er träge in der sommerlichen Beleuchtung dahinschlich, die sich langsam von der Stelle bewegenden, den Kopf zu den Kräutern hinabneigenden Kühe, die fernen Schafe, die weißen Dornbüsche und die lauschigen Redderwege, über denen die ganze Blütenfülle des Frühsommers lag, übersehen konnte; in den Haselbüschen neben ihr sang eine Nachtigall.

Zum erstenmal nahm Rhoda diese Szene ungestörten Friedens mit bewußtem Entzücken in sich auf. Sie überblickte den ganzen Hof und empfand dabei einen raschen, neuen Impuls von Zärtlichkeit für ihre alte Heimat. Und wessen Hand war es, welche die Arbeit für die Farm einzig und allein übernehmen konnte, ja, es getan hatte, ohne auf eine Belohnung zu hoffen? Ihre Augen wanderten nach Wrexby Hall, jedes Gedankens bar, daß sie dort hin wollte, außer dem einen, daß solches über alle Begriffe schmerzlich für sie sein werde. Sie klagte sich selbst an, daß sie die Verantwortung dafür auf sich genommen habe, die Ereignisse zu bezwingen, welche das teure alte Leben auf dem Hofe zum Abschluß bringen und in die Welt der Erinnerungen zurückdrängen wollten, und daß sie ihr jetzt nicht gerecht zu werden vermöge. Noch vermochte sie einen Grund dafür zu sehen, weshalb sie Robert dauernd so kühl gegenüberstehe. Sie besaß ein genügend scharfes Urteil, um zu erkennen, daß die Grundursache ihrer jetzigen Unzufriedenheit in der Unzufriedenheit mit ihrer Lebensstellung zu suchen sei. Sie war im Begriff zu ernten, was sie gesäet hatte, und die Ernten unserer Träume sind meist jämmerlich farblos! Sie sind reif geworden, ohne von der Sonne beschienen zu sein. Mögen sie immerhin eine tragische, blutrote Farbe zeigen, wie bei Dahlia, niemals werden sie den warmen, frischen, gesunden Duft, – die Vollsaftigkeit atmen, die ein einziges Hähnchen Gras besitzt.

Eine Sehnsucht überkam Rhoda, hineinzugehen und sich am Buttern zu beteiligen. Es verlangte sie danach, die frische Butter zu riechen, wie Mrs. Sumfit sie in der Meierei schlug und klopfte, flach ausstrich und wieder zusammenballte, sie lief den Abhang hinunter und prallte am Tor mit ihrem Vater zusammen. Er war in sauber gebürsteten Sonntagskleidern, und sie wußte wohl, auf welchem Wege er sich befand; als er sie fragte, ob sie ihren Onkel gesehen, antwortete sie mit einem kurzen »Nein!« und das Verlangen, mit ihren Händen zu arbeiten und die wohlbekannte rahmige Luft der Meierei einzuatmen, wurde um so lebhafter in ihr.


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