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Kapitel XXXVIII. Zu spät

Edward war die Gegend, in der er sich befand, fremd, und nachdem er bald in der einen, bald in der andern Richtung sein Heil versucht hatte, kam er zu dem Ergebnis, daß er sich verirrt habe. Er eilte unzählige, düstre Straßen mit niedrigen Häusern entlang, von deren Fenstern schmutzige Vorhänge herabhingen und ereiferte sich immer mehr. Einen Augenblick packte ihn die wilde Freude, daß er zu einem Entschluß gekommen, im nächsten geriet er über all die kleinlichen Hindernisse, die ihn zum Narren hielten, in Verzweiflung. »Mein Liebstes!« rief sein Herz Dahlia zu, »habe ich dir so schweres Unrecht zugefügt? Ich will alles wieder gut machen. Es war das Werk eines Teufels!« Er wandte sich bald rechts, bald links, die Minuten eilten dahin. Sie flogen nur so, und je mehr ihm der Kopf glühte, um so mehr vergrößerte sich ihm alles, bis das Opfer, was Dahlia in ihrer Person zu bringen beabsichtigte, in seiner Phantasie wie in der Gloriole himmlischen Lichtes erschien und ihm in der ganzen Hoheit einer antiken Tragödie vor Augen stand. »Sie hat ihre Augen blind werden lassen, ihre Sinne betäubt, ihr Herz verzehrt! Oh, meine Geliebte, mein Weib, mein armes Mädchen! und alles das, um in ihres Vaters Augen der Schande ledig zu werden!« Wer hätte glauben sollen, daß ein Mädchen aus Dahlias Stande gleichzeitig die Schmach so scharf empfinden und sich zu einer solchen Höhe des Heldentums emporschwingen könnte? Das Opfer spottete jeder Vorstellungskraft, es schien des ruhigen Morgens zu lachen. Er weigerte sich, daran zu glauben, aber, das schnelle Pulsieren seines Blutes war weiser, als seine verständigen Überlegungen.

Ein pfeifender Straßenjunge übernahm es, ihn. zu führen. Der kleine Bursche pfiff sorglos eine volkstümliche Opernmelodie vor sich hin, mit einer glücklichen Unbekümmertheit um deren Richtigkeit. Zufällig war es eine Melodie, die Dahlia liebte, und als Edward daran dachte, wie Dahlia sie in vergangenen Tagen so lieblich vor sich hingesummt hatte, verschwanden seine ringenden Zweifel mit dem Verhängnis der Stunde selbst, so völlig stand er unter der Herrschaft seiner kommenden und gehenden Stimmungen. Er gab dem Jungen ein reichliches Trinkgeld in einem abergläubischen Verlangen, ein menschliches Wesen möchte diese Stunde segnen. Jetzt war das Haus in Sicht. Er klopfte und ein seltsames Gemurmel, das eine abschlägige Antwort auf seine Frage bedeuten sollte, schlug an sein Ohr. »Sie ist hier,« sagte er drohend.

»Sie ist vor zehn Minuten von einem Herrn abgeholt worden,« versuchte ihm das Mädchen zu versichern.

Die Hauswirtin, die in diesem Augenblick aus der Küche heraufkam, bestätigte die Aussage. In einer Regung des Mitleids seiner starren Ungläubigkeit gegenüber bat sie ihn, sich selbst davon zu überzeugen, indem er das Haus vom Boden bis zum Keller untersuche und führte ihn selbst in Dahlias Zimmer.

»Es hat niemand in dem Bett geschlafen,« sagte der Anwalt, indem er mit seinem Finger darauf hinwies.

»Nein, Herr, das arme Ding! Sie hat heute nacht nicht geschlafen. Sie hat sich durch Wochen nur so müde hingequält, und gestern abend kam ihre Schwester, und sie hatten sich sehr lange nicht gesehen. Zwei lange Kerzen haben sie aufgebraucht oder doch beinah.«

»Wo –?« – Edward vermochte kaum ein Wort herauszubringen.

»Wohin sie gegangen sind, Herr? Das weiß ich nicht. Natürlich wird sie wieder zurückkommen.«

Die Wirtin bat ihn, zu warten; aber sich hinzusetzen und die Minuten – die schwarzen Sendboten der Zeit – dahinfliegen sehen, war ebensogroße Qual, als sollte man sich das Fleisch abreißen lassen, bis das Skelett nackt dastand. Bis zu diesem Moment hatte er sich selbst Vorwürfe gemacht, jetzt klagte er den gerechten Himmel an. Ja, ist nicht der Sünder seine rechtmäßige Beute? und läßt er nicht in wilder Freude die Hunde auf ihn los, daß sie ihn von Elend zu Herzeleid, von Herzeleid zu Schlechtigkeit, von Schlechtigkeit zum Tode, vom Tode zu ewiger Verdammnis hetzen? Und ist das des Himmels Gerechtigkeit? Er mußte sich an den rostigen Stangen des Gartengitters festhalten, damit seine Füße nicht den Dienst versagten.

Algernon war damit beschäftigt, sein Frühstück behaglich zu vertilgen, und dachte eben darüber nach, ob er noch eine Scheibe Schinken oder etwas von dem Yorkshire-Pie auf seinen Teller befördern, oder ob er seine Mahlzeit als erledigt betrachten und zu einer Zigarre übergehen sollte, als Edward vor ihm erschien.

»Weißt du, wo dieser Mensch wohnt?«

Algernon dachte einen Augenblick daran, zu erwidern: »Ja, was meinst du eigentlich? Was für ein Mensch?« Aber Leidenschaft läßt auch dem Narren das Wort im Munde ersterben. So antwortete er: »Ja.«

»Hast du die tausend Pfund in der Tasche?«

Algernon nickte mit einem krankhaft verzerrten Grinsen.

»Steh' auf! Geh' zu ihm hin! Bring' sie ihm! Sag' ihm, er solle London augenblicklich verlassen, und bring' ihn selbst an den Zug, – sag', er solle das Doppelte bekommen. Wart' einen Augenblick! ich will ihm das Versprechen schriftlich geben und meine Unterschrift darunter setzen. Sag' ihm, auf mein Ehrenwort, er solle noch ein zweites, ein zweites Tausend haben, sobald ich es irgend bekommen kann, wenn er nur schweigen und mit dir gehen will, und paß auf, daß er wegkommt. Sprich nicht über irgend etwas anderes mit mir, und verliere keine Minute.«

Algernon richtete sich schwerfällig auf und versuchte, sich zu besinnen, in welche spezielle Tasche er sein Zigarrenetui gesteckt habe. Edward schrieb eine Zeile auf ein Stück Papier und setzte seine Unterschrift darunter. Hiermit und mit seiner unbefriedigten Sehnsucht nach Tabak machte sich Algernon auf den Weg, nachdem er versprochen hatte, seinen Vetter in der Straße, in welcher Dahlia wohnte, zu treffen.

»Bei Gott! Zweitausend! Es ist 'ne kostspielige Sache, nicht zu wissen, was man will,« dachte er.

»Wie soll ich nur aus dieser Klemme herauskommen? Dies Mädel, die Rhoda, macht sich keinen Strohhalm aus mir. Kolonien für mich – wird nichts! Wenn ich allein ginge, das wäre mit so einem Sträflingsgefühl! Was in aller Welt soll ich tun?«

Es schien ihm widersinnig, eine Droschke zu nehmen, da er einstweilen noch keinen festen Plan hatte. Der Anblick eines Tabakladens lullte wenigstens eine seiner nächstliegenden Sorgen in Schlaf. Er war bald in der Lage, beruhigenden Rauch von sich zu blasen.

»Ned ist verrückt,« fuhr er in seinem Selbstgespräch fort. »Er 's' der reine Wetterhahn. Handle ich jemals so wie er? Und doch bin ich immer der Sündenbock, an dem alles Schlechte hängen bleibt. Diese Idee – dem Kerl zweitausend – zwei – tausend Pfund zu geben! Wahrhaftig, er könnte geradezu wie 'n Gentleman davon leben!«

Und es wurde Algernon plötzlich untrüglich klar, daß das Freundschaftlichste, was man tun könne, wenn der Freund augenscheinlich an einer Gemütsverwirrung leidet, sei, das Denken für ihn zu besorgen.

»Natürlich ist es Neds Geld. Ich würd's ja geben, wenn's mein wäre, aber es ist nicht mein; und der Kerl wird auch nicht einen Heller weniger nehmen, ich kenn' ihn. Indessen, es ist immerhin meine Pflicht, zu sehen, was sich tun läßt.«

Er rief einen Wagen herbei. Es war der Ruhm seiner stolzen Jugendlichkeit, daß er nie in seinem Leben in einer geschlossenen Droschke fuhr. In die Polster zurückgelehnt, betrachtete er nachlässig die Welt der Fußgänger.

»Komische Gesichter sieht man doch,« ging es ihm durch den Sinn. »Wahrscheinlich haben sie ihre eigenen Gefühle wie andere Leute, aber man fragt sich unwillkürlich – was soll das bloß? Wenn ich richtig erbe, so wie sich's gehört, – und warum sollt' ich nicht? – dann werd' ich behaglich in dem alten Wrexby hocken, 'n bißchen gärtnern, 'n bißchen Landwirtschaft treiben und meinen Portwein trinken. Ich hasse London. Der Squire hat gar nicht so unrecht, scheint mir.«

Es kam ihm plötzlich der Gedanke, so sehr dunkel seien seine Aussichten auf die Erbschaft doch schließlich nicht. Warum waren sie ihm eigentlich jemals so dunkel vorgekommen? Es war doch offenbar so gut wie gewiß, da er einziger Sohn war. Und des Squires Gesundheit war nicht sonderlich.

Während er sich solchen Erwägungen hingab, sah er Lord Suckling und Harry Latters Arm in Arm die Straße herunterkommen. Sie sahen ihn an und sprachen offenbar miteinander, aber sie erwiderten seinen kordialen Gruß weder durch ein Kopfnicken, noch durch ein Lächeln oder einen Zuruf. Wütend und eingeschüchtert durch diesen Beweis, daß man ihn von der Welt ausschließe, gerade in dem Augenblick, wo er beinah leichten Herzens zu ihr zurückkehrte, ließ er die Droschke anhalten, sprang heraus und lief dem Paar nach.

»Mir scheint, ich muß Herr Latters sagen,« begann Algernon.

Harry dachte einen Augenblick oder zwei nach. Dann sagte er: »Nun ja, nach unseren Gesetzen der Primogenitur komme ich nicht zuerst und entbehre infolgedessen eines besseren Titels.«

»Was machen Sie denn?« Algernon nickte Lord Suckling zu, welcher antwortete: »Danke sehr, mir geht's sehr gut.«

Ihre Beine gingen in gleichem Tempo vorwärts. Algernon zog seine Börse aus der Tasche. »Ich muß Sie übrigens um Entschuldigung bitten,« sagte er schnell, »mein Vetter Ned hat da so 'ne fatale Sache, und ich hab' ihm, so gut ich kann, geholfen – hab' kolossal damit zu tun – keine Stunde zur Verfügung. Fünfzig, nicht wahr?« Er reichte Harry Latters die Summe hin, der sie äußerst kühl in Empfang nahm.

»Tausend?« wandte er sich an Lord Suckling.

»Geteilt durch zwei,« erwiderte der junge Edelmann, und der Blücher der Banknoten wurde ihm eingehändigt. Er lächelte eigentümlich und zögerte, sie zu nehmen.

»Ich habe gestern abend in allen Klubs nach Ihnen ausgesehen,« sagte Algernon.

Lord Suckling und Latters waren in ihrem eigenen Klublokal gewesen, wo sie bis Mitternacht Whist gespielt hatten, doch ist Geld, selbst, wenn es in solch eigentümlich öffentlicher Weise mit nervöser Hand dargereicht wird, ein solches Zeugnis für eines Menschen Aufrichtigkeit, daß sie ihm gleichzeitig eine Aufforderung zuriefen, doch in einer Stunde mit ihnen im Klub zu frühstücken oder abends dort mit ihnen zu essen. Algernon nickte ihnen scheinbar eilig und bejahend zu und rannte davon, damit sie seinen schweren Seufzer nicht hören sollten. Er hieß den Droschkenkutscher nach Norden zu fahren, statt nach Südwesten. Die Frage der tausend Pfund war für ihn erledigt worden – »durch das Schicksal«, wie es ihm festzustellen gefiel. Die Betrachtung, daß man vom Schicksal verfolgt wird, verleiht selbst dem Erbärmlichsten unweigerlich das Bewußtsein einer gewissen Würde. »Schließlich, wenn ich in England bleiben will,« sagte er, »kann ich's mir nicht leisten, meine Stellung in der Gesellschaft dranzugehen. Alles andere ist überdies besser, als daß ein Erzschurke, wie Sedgett, die Beute einsäckeln sollte.« Und ist es nicht überdies reichlich skeptisch, wenn das Schicksal die Entscheidung in einer Sache übernommen hat, demselben nicht zuzutrauen, daß es die Wagschalen genau geprüft und die Entscheidung getroffen hat, wie es das beste ist? Inzwischen setzte er die ganze Kraft seines Intellekts in Bewegung, um die besondere Art Lüge zu erdenken, die Edward, seiner Natur und der Gelegenheit entsprechend, am besten herunterschlucken würde. Er verließ die Droschke und ging in den Park und dort – au diable mit ihm! Der Narr hat seine Schuldigkeit getan.

Es war nun halb elf. Robert hatte schweren Herzens die Aufträge, die ihm Rhoda gegeben hatte, erfüllt. Er hatte Dahlia in seine Wohnung gebracht, wohin sich Rhoda, nachdem sie Edward losgeworden war, in einer Stimmung äußerster Entschlossenheit, ebenfalls begab. Sie hatte weder ein Wort des Dankes für Robert, noch ein Lächeln für ihre Schwester. Dahlia blickte einmal zitternd zu ihr empor und kauerte sich dann noch mehr in ihren Stuhl neben dem Fenster zusammen.

»Vater kommt um zwölf?« fragte Rhoda.

»Ja,« erwiderte Robert.

Worauf sich ein Stillschweigen auf das Zimmer herabsenkte, das fast unerträglich für die Nerven eines Mannes wurde.

»Ich hoffe, Sie werden hier alles finden, was Sie irgend brauchen,« sagte Robert. »Meine Hauswirtin kommt herauf, sobald Sie klingeln. Sie ist sehr aufmerksam.«

»Danke, wir brauchen nichts,« sagte Rhoda. »Meine Schwester hat ihre Bibel in ihrer Wohnung liegen lassen.«

Robert erbot sich mit Vergnügen, sie zu holen, und entfernte sich mit einem Gefühl der Erleichterung, das beinah' der Freude gleichkam. Er wartete einen Augenblick an der Tür, um zu hören, ob Dahlia etwas zu ihm sagen werde. Er wartete auf der Schwelle des Hauses, um sicher zu sein, daß Dahlia ihn nicht etwa zu Hilfe rufen werde. Ihr Hilfeschrei würde ihn gestählt haben, Rhoda die Stirn zu bieten, aber kein Schrei ertönte. Er horchte noch eine Weile, blieb stehen, hoffte, er werde erfolgen und seiner völligen Bestürzung irgendwelchen Ausweg zeigen. Die andauernde Stille hatte etwas Beunruhigendes für ihn, denn nun er von den Schwestern fort war, vermochte er es, die Todesangst in Dahlias Herzen, ihre gleichsam erstarrte Unzulänglichkeit und die starke und skrupellose Herrschaft, die Rhodas unbeugsamer Wille über sie ausübte, voll zu ermessen.

Nachdem er ein paar Häuser weiter gekommen war, traf er Major Waring, der auf dem Wege zu ihm war. »Hier handelt es sich um eine Sache von fünf Minuten, die sogleich vor sich gehen soll, und die wir vielleicht samt und sonders bis an unser Lebensende bereuen könnten,« sagte Robert und erzählte ihm, was sich in den Morgenstunden zugetragen hatte.

Percy billigte Rhodas Handlungsweise mit den Worten: »Sie muß mit allen Mitteln ihre Schwester zu retten suchen. Die Sache ist zu ernst, als daß sie dabei auf Gefühle, Gewissensskrupel oder Einwände irgendwelcher Art Rücksicht nehmen dürfte. Die Welt ist entsetzlich ungerecht gegen ein armes, alleinstehendes Weib, Robert. Ich komme, um dir mitzuteilen, daß ich England in ein bis zwei Tagen verlasse. Willst du mich begleiten?«

»Wie kann ich wissen, was ich tun werde oder tun kann?« sagte Robert traurig, und so schieden sie voneinander.

Rhodas unerschütterlicher Entschluß, diesen traurigen Konflikt zwischen Pflicht und Neigung durchzuführen und zu Ende zu bringen, ihr Vorwärtsdrängen völlig auf eigene Verantwortlichkeit hin, ihr dem Schicksal gleiches Handeln, das jeder Gefühlsregung spottete, – das schienen ihm die einzigen Wirklichkeiten, mit denen es für ihn rechnen galt. So oft er sich alles genau vorstellte, so oft drängte sich ihm die Überzeugung auf, daß sie unter der Last zu Boden brechen müsse. Stand es wirklich in ihrer Macht, Dahlia bis an die Stufen des Altars zu zerren? Und würde ihr Herz sich nicht erweichen, wenn Dahlia endlich wieder die Kraft, zu reden, zurückgewann? »Diese Heirat kann niemals stattfinden!« sagte er und war völlig überzeugt, daß es unmöglich sei. Er vergaß, daß Rhoda, während er seine Kraft in Fairly zersplittert hatte, in der Stille ihrer Farm gesessen und eine Fülle unbarmherziger Energie in sich aufgespeichert hatte, während ein einziges entsetzliches Epitheton ihr fortwährend vor den Ohren gehallt hatte und ihre Pulse den Takt zu keiner andern Melodie schlugen, als zu der unerschütterlichen, tiefverwundeten Liebe zu ihrer armen abwesenden Schwester.

Er fand den Weg zu Dahlias Zimmer, nahm ihre Bibel unter den Arm und blickte traurig um sich. Die Uhr zeigte einige Minuten nach elf. Er warf sich in einen Stuhl und dachte daran, hier zu warten, aber sofort bedrängte ihn eine Flut undefinierbarer Empfindungen. Als er auf der Straße unter dem Fenster Edward Blancove gewahrte, öffnete er in einer Regung des Mitleids die Flügel, und Edward kam über die Straße herüber, nachdem er seine Blicke nach rechts und nach links hatte schweifen lassen. Robert ging zu ihm hinunter.

»Ich warte auf meinen Vetter,« Edward hatte die Uhr in der Hand. »Ich glaube, meine Uhr geht vor. Können Sie mir genau sagen, welche Zeit es ist?«

»Ich weiß nicht, ich glaube, meine Uhr geht nach,« sagte Robert, indem er einen vergleichenden Blick auf beide Uhren warf. »Bei mir ist es vier Minuten nach elf.«

»Bei mir sind es vierzehn Minuten,« sagte Edward. »Ich nehme bestimmt an, meine Uhr geht vor.«

»Ich glaube, es wird etwa zehn Minuten nach sein.«

»So viel bereits?«

»Vielleicht ein oder zwei Minuten weniger.«

»Es wäre mir viel wert,« sagte Edward, »es ganz positiv feststellen zu können.«

»Ich glaube, hier in der Küche ist eine Uhr,« sagte Robert. »Aber sicherer ist jedenfalls noch die Kirchenuhr, die man von dort sehen kann.«

»Danke sehr, ich werde dahin gehen und mir die ansehen.«

Robert überlegte plötzlich, daß es besser sein könne, Edward tue dies nicht. »Ich kann Ihnen die Zeit auf die Sekunde angeben,« sagte er, »es ist jetzt zwölf Minuten nach elf.«

Edward ließ seine Uhr hin und her pendeln. »Zwölf,« wiederholte er, und hinter der Maske nichtssagender Redensarten beobachteten die beiden einander bedächtig und von Roberts Seite immer noch mit einer Beimischung von Mitleid.

»Es ist doch gar kein Verlaß auf Taschenuhren,« sagte Edward.

»Nein, ich glaube auch nicht,« bemerkte Robert.

»Wenn man nur die Sonne täglich sehen könnte in diesem Klima!« Edward blickte zum Himmel empor.

»Ja, sicherlich! Die Sonne ist die zuverlässigste Uhr, die es gibt, wenn man sie nur sehen kann,« gab Robert zu. »Hinterwäldler in Amerika bedürfen keiner Taschenuhren.«

»Es sei denn, um die Indianer damit zu verblüffen.«

»Ja, ja,« murmelte Robert.

»Zwölf, – vierzehn – nun muß es Viertel nach sein. Oder Viertel auf die nächste Stunde, wie die Deutschen sagen würden.«

»Komisch,« griff Robert diese Wendung auf. »Ausländer haben zu sonderbare Eigentümlichkeiten. Sie meinen 's nicht böse, aber man muß immer über sie lachen.«

»Sie denken wohl das Gleiche über uns, und vielleicht lachen sie nur um so lauter.«

»Mögen sie doch,« sagte Robert nicht ohne einen Anflug verächtlicher Entrüstung, obschon seine Gedanken weit entfernt von dem Gegenstande ihres Gesprächs waren.

Auf Edwards Stirn standen große Schweißtropfen. »In ein paar Minuten wird es halb sein, halb zwölf! Ich erwarte einen Freund, das macht mich ungeduldig. Mr. Eccles –« Edward zeigte seine eigentümlichen, feinen, hartgeschnittenen, aufs äußerste angespannten Gesichtszüge – haarscharf, als hätte ein zur Seite gewehter Nebel sie bloßgelegt – »Sie sind zu sehr ein ganzer Mann, als daß Sie jemand etwas nachtragen könnten. Wo ist Dahlia? Sagen Sie es mir gleich! Es kommt mir vor, als wenn jemand mit grausamer Energie auf sie eindränge. Hat sie den Verstand verloren? Entweder das ist der Fall, – oder man vergewaltigt sie in einer unerklärlichen und schmachvollen Weise.«

»Mr. Blancove,« sagte Robert, »ich trage Ihnen nicht das Geringste nach, – wenn ich es auch wollte, ich vermöchte es nicht. Ich bin nicht sicher, daß ich mich zu dieser Art von Dingen hätte bekennen können, um einem meiner Feinde einzuräumen, daß ich bereute, was ich getan, und ich achte Sie um Ihres Mutes willen. Ich bin es, der Dahlia von hier fortgeführt hat.«

Edward nickte, wie um kurz sein Aufnehmen des Gesagten anzudeuten, während seine Züge sich strafften.

»Warum?« fragte er.

»Auf den Wunsch ihrer Schwester.«

»Hat sie keinen eigenen Willen?«

»Ich fürchte, augenblicklich ist ihr eigener Wille sehr schwach, Herr.«

»Eine vortreffliche Schwester! Ist die Familie puritanisch?«

»Soviel ich weiß, nein!«

»Und dieser Vater?«

»Mr. Blancove, er gehört zu der Art Menschen, – er vermag den Kopf nicht hoch zu tragen, wenn er einen Schatten von Schmach auf seinen Kindern liegen sieht.«

Edward versank in ein dumpfes Brüten. »Ich wünsche – wie ich Ihnen, wie ich auch Dahlias Schwester gesagt, wie ich es meinem Vater gestern abend auseinandergesetzt habe – ich wünsche sie zu meiner Frau zu machen. Was kann ich mehr tun? Sind sie denn verrückt in ihrem törichten Bauernstolz? Halb zwölf! – es ist direkter Mord, wenn sie sie dazu zwingen. Wo ist sie? Einem solchen Manne! Die arme Seele! Ich kann es kaum fürchten, denn es ist mir unmöglich, es mir vorzustellen. Hier – die Zeit vergeht. Sie kennen den Mann ja selbst.«

»Ich kenne den Mann?« sagte Robert. »Ich habe ihn nie mit Augen gesehen und hab' auch nie nach ihm fragen mögen. Ich hatte so eine Art Gefühl, das es mir unmöglich machte. Ihre Schwester sagt, er sei ein guter, freundlicher, achtbarer Mensch, und das muß er sein.«

»Ehe es zu spät ist,« murmelte Edward hastig – »Sie kennen ihn, – sein Name ist Sedgett.«

Robert stürzte auf ihn zu, seine breite Brust wogte heftig.

» Der Sedgett?« stieß er heiser heraus, und es war unheimlich, seinem Blick zu begegnen.

Edward blickte finster zu Boden, er vermochte nicht, den Kopf zu erheben.

»Allmächtiger Gott! Da hat jemand etwas angerichtet, was schwer zu verantworten sein dürfte!« rief Robert. »Kommen Sie mit! Kommen Sie mit zur Kirche. Dieser gemeine Hund? Oder, nein, bleiben Sie, wo Sie sind. Ich werde gehen. Der – Dahlias Mann! Den haben Sie gesehen und durchschauen ihn nicht? So verteufelt schlau ist er mit den Weibern? Wie sind die zusammen gekommen? Wissen Sie es? Können Sie es begreifen?«

Ein Blick, wie ein Blitzstrahl, fuhr zu Edward hinüber, dann rannte er davon. Als er' in das Schiff der Kirche hineinstürzte, sah er, wie der Pastor gerade die Bibel am Altar zuschlug, und wie drei Personen in die Sakristei gingen, deren letzte er sofort erkannte – es war Rhoda.


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