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Kapitel XLIV. Ein Feind taucht auf

Sie folgte ihrem Vater mit den Augen, als er durch das Feld hindurch und die Dorfstraße entlang schritt. Sie hielt den Atem an, solange sie seine Gestalt hie und da wieder auftauchen sah, in immer größerer Entfernung, und wieder regte sich eine Hoffnung in ihr, die keine bestimmte Gestalt annahm. Als er zum letztenmal zu sehen war, ertappte sie sich selber darauf, daß sie ihn – gleichsam mit der Stimme eines Schlafwandelnden – rief, wobei sie der Gedanke bewegte: »Wie kannst du nur so grausam gegen Robert sein?« Er ging über die Heide von Wrexby und über die schwarze, verkohlte Fläche, wo sich in einer Mainacht der Ginster entzündet hatte, und verschwand seitwärts vom Schloß.

Wenn wir mit Sorgen erfülltem Herzen ein Bild stillen, grünen Lebens betrachtet haben, und das Unglück nun über uns hereinbricht, machen wir gern die Natur für den von uns selber an ihr verübten Verrat verantwortlich. Rhoda eilte von der Tür der Meierei fort in ihr Zimmer, um sich dort möglichst vor dem Tageslicht zu verbergen. Sie hatte den Riegel vor die Tür geschoben und wollte mechanisch die Vorhänge schließen, als das Erstaunen darüber, Dahlia den Garten verlassen zu sehen, sie einen Augenblick ihres eignen jämmerlichen Gefühls vergessen ließ. Dahlia war wie zu einem Spaziergang angekleidet und ging sehr rasch. Eine gleiche Lähmung befiel Rhoda, wie da sie ihrem Vater nachgeblickt, aber ihre Hand streckte sich instinktiv nach ihrem Hut, als Dahlia den Rasen und die Brücke über den Mühlbach überschritten hatte und ihren Blicken entschwunden war. Rhoda setzte den Hut auf, nahm ihren schwarzseidenen Mantel auf und sank, ohne die Kraft zu haben, ihn umzuwerfen, vor ihrem Bett nieder, um ein seltsames Gebet auszustoßen: »Mein Gott, mein Gott, laß sie lieber sterben, als wieder der Schande anheimfallen!«

Sie versuchte aufzustehen, aber ihr Bemühen mißlang, und abergläubisch wiederholte sie ihr Gebet: »Lieber laß sie sterben!« – und in Rhodas Phantasie erstanden Wolken und Blitze und flammende Sphären.

Nichts ist so bezeichnend für fieberhaft erregtes oder für krankes Blut, wie die Neigung, dem Allmächtigen diktieren zu wollen, wie er mit seinen Geschöpfen verfahren soll. Die Anspannung einer anhaltenden Ungewißheit und die fieberische Erregung der letzten Wochen hatten das edle Blut des Mädchens krank gemacht, und ihre Taten und Worte waren nicht, wie sonst, das klare Bild ihres Charakters.

Sie neigte den Kopf in einer stumpfen Müdigkeit, die ihr dennoch die Kraft aufzustehen verlieh. So schnell sie es vermochte, schritt sie den Weg hinab, den ihre Schwester eingeschlagen hatte.

Robert hatte an jenem Morgen ebenfalls einen Brief bekommen. Er war von Major Waring und enthielt eine Banknote und eine Aufforderung, nach London zu kommen, wie auch eine Einlage von Mrs. Boulby in Warbeach; letztere wiederum enthielt die aus einem Dorfblättchen ausgeschnittene Anzeige, daß seine Tante Anne gestorben sei und ihm, auf eine Meldung von seiner Seite hin, ein Vermächtnis derselben überwiesen werden würde. Robert lief quer über die Felder und lachte wie toll über die Ironie des Schicksals, das ihm bald hier, bald da ein wenig zulächelte, immer nur genug, um ihn gerade über Wasser zu halten und nicht mehr.

Der Brief von Major Waring lautete:

»Ich muß Dich sofort sehen. Komme möglichst schnell hierher. Ich fange an, Deine Ansicht zu teilen, daß es einige Sachen gibt, die es in die eignen Hände nehmen und rasch erledigen gilt.«

»Ei, ei!« Robert stieß es laut in den klaren Morgen heraus, er witterte die Erregung und lechzte nach ihr, wie ein edler Jagdhund.

»Ich tue der Besten der Frauen unrecht,« fuhr Percy in seinem Brief fort. »Sie wurde zu meiner Tür getrieben. Es scheint, daß etwas Hoffnung vorhanden ist, Dahlia Freiheit zu verschaffen. Auf alle Fälle wache über sie und verlasse sie nicht. Mrs. Lovell hat selbst sich unten in Warbeach bemüht, Entdeckungen zu ihren Gunsten zu machen. Mr. Blancove ist fast daran gestorben. Sie hat ihn gepflegt – ich war eifersüchtig! Da steht das Wort. Wahrhaftigkeit, Mut und Leiden finden immer eine Statt an Margarets Herzen.

»Dein Percy.«

Ein Sprung über eine Bank brachte Robert mit Anton zusammen, der mit unsicherem Blick einen Esel betrachtete, welcher das Gras an einem Hecktor abweidete.

»Also da sind Sie,« sagte Robert und nahm seinen Arm.

Anton wehrte sich, obschon er sofort empfand, daß es sich um einen freundschaftlichen Griff handelte, aber er mußte mit, Robert ließ ihn nicht los, bis sie Greatham, einen Ort fünf Meilen jenseits Wrexbys erreicht hatten, wo er das Hauptwirtshaus betrat und Wein bestellte.

»Sie bedürfen Alkohol, Sie brauchen Leben!« sagte Robert.

Anton wußte, daß er keines Weines bedürfe, welcher Art seine Bedürfnisse sonst auch sein mochten. Trotzdem war die süße Wollust, auf jemandes andern Kosten zu leben, unwiderstehlich für ihn, so trank er mit den Worten: »Nun denn, ein Glas!«

Robert tat ihm Bescheid. Sie waren in einem Privatzimmer, dessen Tür Robert, nachdem er drei Flaschen Sherry bestellt hatte, verriegelte. Der Teufel war in ihm. Er zwang Anton dazu, mit ihm gleichen Schritt im Trinken zu halten, indem er dem alten Mann abwechselnd drohte und liebevoll zuredete.

»Trinken Sie, sag' ich Ihnen! Sie haben mich beraubt, und Sie sollen trinken!«

»Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr,« winselte Anton.

»Trinken Sie, und halten Sie den Mund. Sie haben mich beraubt, und Sie sollen trinken, und, beim Himmel, wenn Sie sich widersetzen, dann werde ich Sie blaueren Teufeln überliefern, als Sie irgend im Traum gesehen haben, alter Herr! Sie haben mich beraubt, Mr. Hackbutt. Trinken Sie, sag' ich Ihnen!«

Anton weinte in sein Glas hinein.

»Das 's 'n Kunststück, was ich nie herausgekriegt hab',« sagte Robert, indem er mitleidslos zusah, wie die zitternde alte Träne in das Glas hineintropfte. »Ihr Wohl, Mr. Hackbutt. Sie haben mir meinen Schatz geraubt. Na, schad't nix! Das Leben ist auch nur 'n Schuß Pulver wert. Einige von uns zerplatzen schon auf der Pfanne, und das sind die, die kein Unglück anrichten. Sie gehören nicht zu denen, Herr, darum müssen Sie trinken. So, und nu' mal fidel!«'

Allmählich fing der Wein an, Antons Blut in Wallung zu bringen, und er fing an, leise vor sich hinzusummen, wie einer, der sich dunkel erinnert, daß er eigentlich unglücklich sein muß. Robert hörte seinem Gefasel über sein Abenteuer bei der Bank zu, während er mit strenger Miene sein Glas immer aufs neue füllte. Seine Aufmerksamkeit wurde plötzlich durch Dahlia gefesselt, die an der dem Wirtshaus ungefähr gegenüberliegenden Straße aus einer Apotheke heraustrat. »Dies ist meine Medizin,« sagte Robert, »und Ihre ebenfalls,« wandte er sich an Anton.

Die Sonne stand bereits hoch im Mittag, als sie wieder auf die Straße traten. Robert trug den Kopf hoch, wie ein Kampfhahn, und Anton lehnte sich schwer auf seinen Arm und vollführte allerhand halbe Wendungen mit dem Oberkörper nach vorwärts, bis ihn der kräftige Arm zurückhielt und wieder aufrichtete. Sie befanden sich bald auf den Feldern, die nach Wrexby führten. Robert sah weit vor sich zwei weibliche Gestalten. Ein Mann eilte hinter ihnen her und versuchte sie einzuholen. Die Frauen fuhren plötzlich zusammen und wandten sich um, eine von ihnen warf die Arme in die Luft und bedeckte dann ihr Gesicht mit den Händen. Es war auf einem Fußpfad, der durch ein breites Wiesengelände führte, auf dem das Gras sehr hoch stand, und roter Sauerampfer über gelben Butterblumen nickte, als legte sich Rost auf das Gold des Vorsommers. Robert eilte vorwärts. Er. erkannte in dem Augenblick kaum den Mann, den er an der Schulter packte, aber er hatte Dahlia und Rhoda erkannt, und plötzlich sah er sich Auge in Auge mit Sedgett.

»Du bist es!«

»Vielleicht wirst du ein ander' Mal die Hand von mir lassen, bis du deiner Sache sicher bist.«

Robert sagte: »Ich bitte wirklich um Entschuldigung. Willst du dich einen Augenblick mit mir hier auf die Seite begeben?«

»Nich', solang' ich für 'n Sechsling Verstand in 'n Kopp hab',« war Sedgetts Antwort in einem Ton, der offenbar seines Feindes höfliche Ansprache ins Lächerliche ziehen wollte. »Ich will meine Frau holen. Bin grad' mit 'n Zug längs gekommen, un' hab' mich, scheint's, woll 'n büschen verlaufen. Da bin ich, un' hab's 'n büschen hilde. Sie soll flink nach Haus un' ihre Sachen zusammenpacken, Koffer und Geschichten, un' dann woll'n wir los.«

Robert gab Dahlia und Rhoda einen Wink, eilends nach Haus zu gehen. Anton war gegen die Wurzeln einer Ulme gefallen und blickte mit philosophischem Gleichmut auf die Szene. Rhoda ging vorwärts, indem sie Dahlia bei der Hand ergriff.

»Halt!« schrie Sedgett. »Halten mich die Leute hier zum Narren? Eccles, du kennst mich doch besser. Diese junge Person da ist meine Frau. Und ich sag' dir, ich bin gekommen, um sie mir zu holen.«

»Sie haben keinerlei Anspruch auf sie,« entfuhr es Rhoda, aber ihre Stimme war schwach und zitterte, und ihre Augen hingen flehend an Robert. Dahlia stand da wie eine Bildsäule eisigen Entsetzens.

»Du hast sie von dir gejagt und jedes Recht, daß du etwa auf sie gehabt haben magst, verkauft, Mensch,« sagte Robert, indem er nach dem Punkt spähte, wo er den elenden Patron packen könne, um ihn von den Frauen abzuhalten.

»Das hat vor dem Gesetz keine Gültigkeit,« nickte Sedgett. »Das kann wohl jedem passieren, daß er wütend wird, wenn er merkt, daß er betrogen is'.«

»Ich habe Ihr Ehrenwort,« sagte Rhoda, indem sie flüsternd hinzufügte: »O dieser Teufel, der kommt, um uns zu verderben!«

»Dann hätten Sie 's bleiben lassen sollen, mir in meiner Gegend nachzuspionieren. Sie oder Eccles, oder wer's sonst war – is' mir ganz egal, – haben sich mit mein'n Leuten eingelassen, um hinter meine Geheimnisse zu kommen. Irgend jemand hat es getan. Sie haben den Krieg erklärt. Sie haben versucht, mir 'n Grund unter 'n Füßen wegzuziehen. Das 's Friedensbruch. So nenn' ich das wenigstens. Un' mir 's auch ganz egal, ich will meine Frau haben. Un' da laß ich mich nich' von abbringen!«

»Niemand von uns, niemand von uns ist in Ihrem Hause gewesen,« sagte Rhoda eifrig. »Sie leben in Hampshire, Herr, soviel ich weiß, irgend etwas Näheres weiß ich überhaupt nicht. Wo Sie leben, ahne ich gar nicht. Ich hab' meine Schwester nicht danach gefragt. Erbarmen Sie sich unsrer, und gehen Sie fort!«

»Niemand von uns ist in deiner Heimat gewesen,« sagte Robert mit vollkommener Selbstbeherrschung.

Worauf Sedgett derb heraus antwortete: »Da lügst du, Bob Eccles,« und im selben Augenblick hatte ein furchtbarer Schlag ihn zu Boden geworfen. Robert stieg über ihn hinweg, nahm Dahlia beim Arm und führte sie einige Schritte fort, als wollte er sie in Bewegung setzen. »Vorwärts!« schrie er Rhoda zu, deren Augenlider sich unter seinem zornigen Blick schüchtern senkten.

Es war das beste, ihre Schwester aus dem Wege zu schaffen, und so kehrte sie um und schritt eilig vorwärts, auch Dahlia zur Eile treibend, indem sie ihren Arm ergriff. »O, rühr' mich nicht an!« sagte Dahlia stöhnend, denn ihr stockte der Atem. Sie schritten miteinander vorwärts, ohne zu reden, mit dem schnellsten, halb laufenden Schritt, der Frauen zu Gebote steht. Am letzten Hecktor, das sie zu passieren hatten, sah Rhoda, daß ihnen niemand folgte. Nach Luft ringend blieb sie stehen, Herz und Augen waren erfüllt von dem feurigen Menschen, der ihr Liebhaber war. Dahlia zog den Brief aus der Tasche, den sie am Morgen erobert hatte, hielt ihn offen in beiden Händen und las ihn. Die Pause war nur kurz. Dahlia schob den Brief wieder in ihr Kleid, in ihre elenden Züge war etwas von der Blüte des Lebens zurückgekehrt. Sie behielt die rechte Hand in der Tasche, und Rhoda fragte alsbald:

»Was hast du da?«

»In einigen Sachen bist du meine Feindin,« erwiderte Dahlia, während ein nervöses Zittern ihre Gestalt durchflog.

»Ich glaube,« sagte Rhoda, »ich könnte etwas Geld auftreiben, um dich fortzuschicken. Willst du reisen? Ich beklage tief, was ich getan habe. Gott verzeih es mir.«

»Bitte, sprich nicht so, laß uns gar nicht sprechen,« sagte Dahlia.

Versengt an Leib und Seele, wie sie sich fühlte, erschien ihr jede Berührung, jedes Wort wie eine Verwundung. Dennoch war sie die erste, das Gespräch wieder aufzunehmen: »Ich glaube, ich werde noch gerettet werden. Ich kann das Gefühl, daß ich völlig verloren sein sollte, nicht fassen. Ich bin so schlecht nicht gewesen, daß ich das verdient hätte.«

Rhoda antwortete ihr mit einem liebevollen Wort, und wiederum schrak Dahlia zurück vor dem armseligen Trost, den Worte zu gewähren vermögen.

Als sie zu dem grünen Rasen kamen, der sich dem eisernen Tor gegenüber ausbreitete, bemerkte Rhoda, daß die Tafel verschwunden war, auf welcher Queen Annes Farm zum Kauf ausgeboten wurde, und mit einmal verstand sie die Bereitwilligkeit ihres Vaters, nach Wrexby Hall zu gehen. »Er würde mich verkaufen, könnte er nur den Hof retten!« Sie schalt sich selbst wegen solchen Gedankens, aber es war ihr unmöglich, gerecht zu sein; vor ihren Augen stand das Bild ihres Vaters, wie er mitleidslos über die abgebrannte Heidefläche dem Schlosse zutrottete, wie ihre Augen es am Morgen gesehen, allzu lebhaft, als daß sie gerecht hätte sein können, obschon sie wohl wußte, daß der Tadel ihre eigene Unentschlossenheit traf.

Master Gammon begegnete ihnen im Garten.

Mit einer vagen Handbewegung nach dem Tor zu bemerkte er: »Das haben wir 'runtergenommen,« und die drei grünlichen Vorderzähne, die sein ruhiges Schmunzeln bloßlegte, machten auf die reizbaren Sinne der Mädchen einen solchen Eindruck, daß sie mit einem bittern, wehen Lächeln einander ansahen. Früher wäre es ein Lächeln des Vergnügens gewesen.

»Sag' es Vater,« flüsterte Dahlia, als sie die Tür erreicht hatten, und ein jammervolles Leuchten war in ihren Augen, während sie die Zähne in die Unterlippe preßte. Rhoda versuchte sie zurückzuhalten, aber Dahlia wiederholte: »Sag' es Vater!« sie war, was Kraft und Willen betraf, ihrer Schwester plötzlich gewachsen.


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