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Kapitel XXXV. Die letzte Nacht

Eine scheue und demütige Bitte Dahlias, des Inhalts, daß es ihr Wunsch sei, vor vollzogener Trauung niemand der Ihren zu sehen, hatte Robert Rhoda überbringen müssen; aber Rhoda war ihrer Schwester gegenüber innerlich streng geworden und hatte – teils in dem Gedanken, sie dem Schritt gegenüber, der ihr die verlorene Reinheit wiedergeben sollte, zu stützen, teils in dem Verlangen, das liebe, lang vermißte Haupt an ihr Herz drücken zu können, – Dahlias törichtem Flehen keine Beachtung geschenkt. Und es erwies sich als gut, daß sie es nicht getan; denn zu ihrem großen Erstaunen liebte Dahlia, verhärmt, geschoren, durch die Krankheit niedergebrochen, wie sie war, und durch die Selbstsucht eines lügnerischen Mannes so gänzlich jeden Reizes bar, daß sie der Erbärmlichkeit, welche in der Welt ist, zur Zielscheibe verächtlichen Spottes dienen konnte, diesen Mann noch immer und zitterte oder schrak vielmehr mit einem jämmerlichen physischen Grauen vor dem; edlen Manne zurück, der den Schandflecken von ihrer Stirne zu waschen willens war.

Als die Schwestern einander nach langer Trennung wiedersahen, war Dahlia völlig Herrin ihrer selbst und flüsterte liebevoll Rhodas Namen, als sie ihr entgegenging, um sie zu küssen. Rhoda vermochte nicht zu sprechen. Durch das Seltsam-Fremde des weißen Gesichts, welches durch die Glut des Feuers gegangen war, bedrückt, küßte sie die Schwester stumm und stöhnte ein einzig Mal tief auf, während Dahlia leise liebkosend ihre Schulter streichelte. Die sanfte Berührung ihrer Hand war schwerer zu ertragen, als es die trostlose Trennung gewesen war und schien weniger von der Wirklichkeit an sich zu tragen, als mancher Traum. Rhoda saß neben ihr, von der Feierlichkeit eines tiefen Grames überwältigt, den sie sich nie vollständig hatte vorstellen können, obschon sie manches vague Bild Dahlias vor ihrer Phantasie heraufbeschworen hatte. Sie hatte sich heftiges Jammern, Tränen, Verzweiflung vorgestellt, aber nicht diese geisterhafte Veränderung, diesen erloschenen Blick. Es war ein Gesicht, das einer Kristallampe glich, darin die Flamme erstorben. Die schreckliche kleine Kappe zeigte in unerbittlicher Härte das jämmerlich zusammengeschrumpfte Köpfchen. Es wunderte Rhoda, sie ganz einfach über zu Hause und über das alte Leben dort sprechen zu hören. Bei jeder Frage traf sie der Gegensatz zwischen einst und jetzt, wie ein greller Blitzstrahl, der die stärksten Gegensätze beleuchtet. Aber das Gespräch ging mehr in die Tiefe. Dahlias Martyrium kam heran und ihre Zungen wurden einer unverblümten Aussprache über die nahende Stunde zugetrieben, da stockte Dahlia und kroch in sich zusammen, wie jemand, der sich dem Sturm preisgegeben fühlt; Rhoda erfuhr, daß, statt Haß und Abscheu für den Mann zu empfinden, der so teuflisch an ihr gehandelt hatte, die Liebe dennoch lebendig geblieben war. Willig unterzog sich Dahlia der Qual der Frage: »Liebst du ihn wirklich noch, kannst du ihn noch lieben?« und seufzte in einem Gefühl der Scham und Furcht der Schwester gegenüber, ohne doch auszusprechen zu wagen, daß sie ihr hart scheine, ohne die Bitte zu wagen, ihr doch das Furchtbare zu ersparen, wie sie es Robert gegenüber getan hatte.

»Warum gibt es keine Stätte für die Unglücklichen, die nicht zu leben wünschen und nicht zu sterben vermögen?« stöhnte sie.

Und Rhoda nagelte sie grausam an diese Heirat fest, indem sie tat, als sei dieselbe unwiderruflich und löschte jedes armselige Licht, was noch aus der freien Außenwelt zu ihr herüberblinkte, durch ihr Lob aus, ihr leidenschaftliches Lob, als Dahlia ihr berichtete, wie sie – halb bewußtlos nach überstandenem Fieber und in der Hoffnung, ihrem Vater doch danach wieder vor Augen kommen zu können – ihre Einwilligung gegeben habe, ihr Leben dem einzigen Menschen zu eigen zu geben, der ihr damals nahe und der freundlich gegen sie war. Rhoda ließ sich von ihr erzählen, wie dieser Mann sie zuerst gesehen habe, wie er ihren Spuren unermüdlich nachgegangen sei und sie endlich wieder aufgefunden habe. »Er – er muß dich lieben,« sagte Rhoda, und je mehr ihr die Schwäche ihrer Schwester klar wurde, ja, mit jedem neu aufwallenden Gefühl der Zärtlichkeit fühlte sie, daß man Dahlia in mancher Hinsicht wie ein Kind behandeln müsse.

Dahlia versuchte mit ihren schweren Seufzern ein oder das andre stammelnde Wort um Barmherzigkeit herauszubringen, aber es lastete wie Blei auf ihrem Hirn. Sie dürstete in ihrer Verlassenheit nach Rhodas Lob, es klang ihr so süß, so verhaßt auch der Preis war, den sie dafür zahlte. Verhaßt? Sie machte sich die Folgen ihrer Handlungsweise nicht klar, sonst würde ihr die Kraft gekommen sein, gegen das Furchtbare anzukämpfen: der Aufruhr ihres Blutes würde ihre weibliche Vorsicht und ihr weibliches Entsetzen wachgerufen haben, auch hätte Rhoda sich einer wirklich heftigen Abneigung gegen diese Ehe von Seiten Dahlias nicht widersetzt. Aber Dahlias Blut war wie erstarrt, ihr Hirn wie unter bleiernem Druck. Sie klammerte sich an die armselige Wonne, die das Lob ihrer Schwester in ihr weckte und schauderte und lechzte. Sie wünschte die Minuten festzuhalten und sah sich dieselben dennoch entschlüpfen. Alles, was an gesundem Denken in ihr war, konzentrierte sich in der blinden Überzeugung, daß Gott – nun er sie genugsam gestraft habe – nicht zugeben werde, daß ein neues großes Elend über sie hereinbreche. Sie erwartete irgendein plötzliches Dazwischentreten und sei es am Altar selbst. Sie überredete sich selbst, daß ein Elend, welches die Folge einer Versündigung sei, uns unter keinen Umständen länger quälen könne, wenn wir Buße getan und auf den rechten Weg zurückzukehren suchen, denn ihr Gedankengang war der, daß, wenn sie abließe, sich gegen den Strom zu stemmen und sich einfach von demselben tragen lasse, Gott sich ihrer vielleicht erbarmen werde. Mit der geringen Spannkraft eines geschwächten Geistes befleißigte sie sich einer stummen Ergebenheit und täuschte sich derart in dieselbe hinein, daß ihr die Minuten darüber in verringertem Grauen und Schrecken vergingen.

So war es während des ersten Viertels der Nacht. Die Dämmerung nahte. Rhoda hatte Sedgett gesehen, ein ruhiges Zusammentreffen, wenig Worte von beiden Seiten, denen keins von beiden irgendwelche Aufmerksamkeit zollte. Aber das Mädchen hielt sich an seine Häßlichkeit, in ihr glaubte sie einen augenscheinlichen Beweis seiner Würdigkeit zu erblicken, wie auch einen Beweis dafür, daß ihre Schwester den Mann sicherlich sehr genau kennen gelernt haben müsse, denn sonst könnte sie sich auf diese Heirat nicht eingelassen haben.

Dahlia sah nach den Fenstervorhängen und nach dem Kerzenlicht. Die wenigen Worte, die zwischen ihrer Schwester und ihr in einem so langen Zeitraum gewechselt worden waren, gaben den Stunden einen entsetzlich raschen Verlauf. Mit einer Art Aufschrei barg sie ihr Gesicht in Rhodas Schoß. Da Rhoda dachte, mit dieser Gefühlsäußerung lasse sie den Plan endgültig fahren, bereitete sie sich auf das vor, was ihr in diesem Fall zu sagen übrig blieb und nachzugeben. Aber, wie nach einem Paroxismus der Schwäche natürlich war, ließ Dahlias Verzweiflungsausbruch keinen weiteren Mut in ihr zurück.

Dahlia zog die Brauen zusammen und sagte: »Ich habe noch immer unter nervösen Anfällen zu leiden.«

»Das wird sich bald geben,« sagte Rhoda, während sie ihr die Hand streichelte.

Um Dahlias Lippen zuckte es. »Ist Vater noch immer so hart gegen Frauen?«

»Der arme Vater!« warf Rhoda, statt jeder andern Antwort, hin, und Dahlias Körper schüttelte sich, wie unter einem Krampf.

»Wo werde ich ihn morgen treffen?« fragte sie, und mit einem Blick von dem glanzlosen Kerzenlicht auf die Fenstervorhänge fuhr sie fort: »O, es ist Tag. Warum haben wir nicht geschlafen? Es ist Tag! Wo werde ich ihn treffen?«

»In Roberts Wohnung. Wir gehen alle dahin.«

»Wir alle? Er auch?«

»Dein Mann wird dich dahinbringen.«

»Mein Himmel, mein Himmel! Ich wollte, du wüßtest von alledem ein bißchen besser Bescheid, ein klein bißchen besser!«

»Ich weiß, daß es etwas Gutes und Köstliches ist, recht zu tun,« sagte Rhoda.

»Wenn du nur einmal eine Neigung gehabt hättest, Schwester. O, wie undankbar ich dir gegenüber bin.«

»Nein, ich fürchte nur, daß es dir so vorkommen muß, als sei ich unfreundlich gegen dich,« sagte Rhoda.

»Meinst du, ich muß es tun? Muß? Warum?«

»Warum?« Rhoda krampfte ihre Finger ineinander. »Warum hast du mir, als du krank warst, nicht geschrieben: ich sollte zu dir kommen?«

»Ich schämte mich,« sagte Dahlia.

»Du sollst dich nicht länger schämen, Schwester!«

Dahlia ergriff mit zitternden Fingern die Fenstervorhänge und sah in das Tageslicht hinaus. Als habe es ihre Augen verletzt, so rasch bedeckte sie ihr Gesicht, während ein trocknes Schluchzen aus ihr hervorbrach.

»O, ich wollte, ich wollte, ich hätte früher gewußt, was all dies bedeutet. Muß ich es tun? Sein Gesicht! Liebste, es tut mir so leid, daß ich dir Kummer mache. Muß ich es tun? Der Doktor sagt, ich sei so kräftig, daß nichts in mir zerbrechen werde, daß ich leben müsse, wenn man mich nicht geradezu tötete. Aber wenn ich nur als Dienstmädchen in Vaters Haus leben könnte, – ich wollte alle meine Liebe einem kleinen Blumenbeet zuwenden.«

»Vater hat kein Heim mehr,« sagte Rhoda.

»Ich weiß – ich weiß. Ich bin ja bereit. Ich will ja nachgeben, und dann wird sich Vater nicht länger dessen schämen, auf dem Hof zu bleiben. Ich bin bereit, Liebste, ich bin bereit. Rhoda, ich bin bereit. Es ist nicht viel.« Sie blies das Licht aus. »Sieh, niemand wird das für mich tun. Wir haben nicht das Recht für uns selbst zu leben. Ich habe unrecht getan, und ich will mich demütigen, ja, ich will es. Ich kannte keine Demut, solange ich glücklich war, und das beweist, daß ich kein Recht auf Glück hatte. Alles, was ich erbitte, ist nur noch eine einzige Nacht mit dir. Warum haben wir uns nicht zusammen schlafen gelegt? Nun können wir nicht schlafen. Es ist Tag.«

»Komm, laß uns uns noch ein paar Stunden zusammen hinlegen, mein Liebling,« sagte Rhoda.

Während sie sprach, zog Dahlia den Fenstervorhang zurück, um noch einmal in das leere, unerklärliche Tageslicht hinauszublicken – sie tat es, und dann neigte sich ihr Kopf, wie sich ein Habicht vorwärts schwingt, der seine Beute zuerst erblickt, sie drehte sich rasch um, erhob die Arme mit einer krampfhaften, verzweifelten Bewegung:

»Er ist da!«


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