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29. Kapitel

Die Untersuchung gegen Jewjeni wurde in der tiefsten Stille geführt, nur die unmittelbar mit derselben beauftragten Generale betraten das Haus, in welches der Gefangene gebracht worden war, und auch diese, selbst der Kriegsminister und der General Rylejew, der Kommandant des Hauptquartiers, zeigten jedesmal bei ihrem Eintritt dem Offizier der wachhabenden Kosakenabteilung ihren vom Kaiser selbst unterzeichneten Eintrittspaß. Jewjeni war ganz glücklich und zufrieden über die freundliche Behandlung und die gute Verpflegung, welche man ihm gewählt hatte. Er beantwortete ohne Zögern alle Fragen, die man an ihn richtete, und gestand alles, was er nur irgend wußte; freilich war dies wenig genug, denn er kannte, der vorsichtigen Einrichtung des Bundes gemäß, nur dasjenige Mitglied, das ihn selbst aufgenommen hatte; dies war ein Student der Petersburger Universität gewesen, und als auf telegraphischen Befehl aus dem Hauptquartier die Polizei der Residenz denselben verhaften wollte, war er verschwunden, und trotz aller Nachforschungen, trotz der sorgfältigsten Überwachung der Grenzstationen konnte man keine Spur von ihm entdecken. Die übrigen Mitglieder des Bundes, mit denen er verkehrt, hatte Jewjeni gar nicht mit ihren Namen gekannt, sie auch meist nur in Verhüllungen und Verkleidungen gesehen, und die Überbringer der Aufträge des Bundes hatten sich ihm stets nur durch das Losungswort zu erkennen gegeben und meist in nächtlichem Dunkel mit ihm gesprochen. Jewjenis Aussagen brachten deshalb sehr wenig Licht in die dunkle Sache, und die Untersuchung wurde, trotz der Bereitwilligkeit des Gefangenen, auf alles zu antworten und alles zu bekennen, ziemlich resultatlos fortgeführt.

Jewjeni erbat sich bei jeder Aussage, die er den hohen Offizieren, welche persönlich die Untersuchung führten, machte, immer von neuem Gnade für sein Leben und flehte besonders ängstlich darum, daß man ihn in ein entlegenes und sicheres Gefängnis bringen möge, in welchem er vor der Rache des Bundes geschützt Ware. Die materielle Behaglichkeit, die er genoß, und die milde Behandlung, die er von den untersuchenden Offizieren erfuhr, die stets in den freundlich höflichen Formen der guten Gesellschaft mit ihm verkehrten, ließen ihn den Kerker mehr wie einen Schutz als eine Strafe erscheinen, und seine einzige Furcht war nur die Freiheit, welche ihn der strafenden Macht seiner früheren Genossen preisgeben würde. Von seinen früheren Beziehungen zu Blagonow allein sprach er mit keinem Silbe, er glaubte in der listigen Schlauheit, welche neben der Gier mach materiellem Lebensgenuß den hauptsächlichsten Zug seines Charakters ausmachte, in jenen Beziehungen und in seiner Verschwiegenheit über dieselben eine Bürgschaft dafür zu besitzen, daß Blagonow alles aufbieten werde, um ihn zu schützen, und da er mit besonderer Milde und Freundlichkeit behandelt wurde, da auch die Generale ihm bei vollem und offenem Geständnis seinerseits die Zusicherung der kaiserlichen Gnade für sein Leben wiederholten, so fand er keine Veranlassung, Aussagen zu machen, welche Blagonow, der ihm nützlich sein konnte, hätten verderben müssen.

In den Untersuchungsakten war also nur die Tatsache verzeichnet, daß der Ordonnanzoffizier Feodor Michaelowitsch Blagonow den Verbrecher in verdächtiger Weise um das kaiserliche Hauptquartier schleichend gefunden, und daß dieser, von ihm ergriffen, ihm ein reumütiges Geständnis abgelegt habe; da auch der Kaiser mit keiner Silbe seines Gesprächs mit Blagonow und des Geständnisses, das dieser ihm abgelegt, erwähnte, so spielte der Name des jungen Offiziers in den Untersuchungsakten nur eine sehr nebensächliche und unbedeutende Rolle, und es hätte ebensogut wie er irgendein anderer der Offiziere des kaiserlichen Gefolges oder irgendein Wachtposten vom Zufall zur Ergreifung Jewjenis bestimmt gewesen sein können. Wohl wurde es namentlich in der näheren Umgebung des Kaisers bemerkt, daß in dem mit einer so starken Wache besetzten Hause etwas Besonderes vorgehen müsse, und flüsternd teilte man sich wundersame Gerüchte und Vermutungen mit; da jedoch die Generale aus des Kaisers unmittelbarster Umgebung, welche man in jenem Hause ein und aus gehen sah, jede vorsichtige Berührung dieses Gegenstandes, jede leise Andeutung mit so ernster Entschiedenheit zurückwiesen, daß man ebensowenig an der Wichtigkeit der Sache, als an dem nachdrücklichen Willen unbedingter Geheimhaltung derselben zweifeln konnte, so wagte niemand mehr, den Gegenstand mit einem Wort oder gar einer Frage zu berühren, und unter den Offizieren und Soldaten in den weiteren Kreisen des Lagers tauchte nicht einmal eine Vermutung über denselben auf.

Etwa vierzehn Tage mochten vergangen sein. Die rumänischen Truppen waren in ihre Stellungen eingerückt, Fürst Karl hatte sein Hauptquartier vor Grivitza aufgeschlagen, und die Kämpfe gegen die türkischen Verschanzungen wurden mit erneutem Eifer aufgenommen, immer aber aus den unnahbaren und dicht mit Kanonen gespickten Verschanzungen der Türken zurückgeschlagen, so daß immer deutlicher die Notwendigkeit hervortrat, die Erdfestung völlig einzuschließen und namentlich den über Sofia nach den Balkanpässen führenden Weg abzuschneiden, auf welchem die Türken fortwährend Proviant und Munition erhielten. Alles dies konnte erst nach dem Eintreffen der Garden geschehen, und so war man denn bald darauf angewiesen, die Türken, welche in mächtigen Ausfallvorstößen aus ihren Verschanzungen hervorstürmten, zurückzuwerfen, und man mußte zufrieden sein, wenn es gelang, sie bis zur Ankunft der Garden in Plewna festzuhalten und eine Durchbrechung der russischen Stellungen zu verhindern. Diese die ganze Aufmerksamkeit des Kaisers und seiner unmittelbaren Umgebung fast ausschließlich in Anspruch nehmenden Vorgänge hatten das Interesse an der Untersuchung gegen Jewjeni ein wenig in den Hintergrund gedrängt, um so mehr, als immer noch kein Licht in das Dunkel dringen wollte und alle Nachforschungen, welche die Petersburger Polizei auf Grund von Jewjenis Aussagen anstellte, erfolglos blieben.

Es hatten einige Tage keine Verhöre stattgefunden, und Jewjeni brachte seine Zeit in seinem gut möblierten Zimmer in jener Behaglichkeit des Nichtstuns zu, welches beschränkten Geistern oft als der beste Lebensgenuß erscheint. Der Kaiser war an einem schönen Septembermorgen nach den Positionen vor Plewna gefahren, ein großer Teil seines Gefolges hatte ihn begleitet, und in der Nähe des kaiserlichen Hauptquartiers herrschte stille Ruhe, da die verhältnismäßig wenig zahlreichen Truppen, welche in und um Gornij-Studen lagerten, auf der Ebene ihre täglichen Übungen machten.

Durch die Straßen des Dorfes ging festen, sicheren Schrittes ein russischer General mit starkem, grauem Schnurrbart; er trug den Interimsrock mit den Achselstücken seines Ranges und eine tief in die Stirn gedrückte Mütze. Kurz, in streng militärischer Haltung erwiderte er die Grüße der wenigen Offiziere, die ihm begegneten, und einzelne derselben sahen ihm wohl wie verwundert nach, als ob sie einen Platz für diese Erscheinung in ihrem Gedächtnis suchten. Es lagen jedoch in der unmittelbaren Nähe so verschiedenartige Truppenteile, welche früher in den entlegensten Garnisonen Rußlands gestanden hatten, und es kamen so häufig die Kommandeure der verschiedenen Abteilungen zu irgendwelchen dienstlichen Meldungen ins Hauptquartier, daß der Anblick eines unbekannten Generals für niemand etwas Auffallendes oder Befremdendes haben konnte, und so setzten denn auch die einzelnen Offiziere, wenn sie sich des vorübergehenden Generals nicht entsinnen konnten, ruhig und ohne weiter darüber nachzudenken, ihren Weg fort, während der General selbst gerade auf das Haus zuging, in welchem Jewjeni gefangen gehalten wurde.

Er öffnete die Tür – der Kosakenoffizier trat ihm entgegen und grüßte militärisch, ohne von der Schwelle zurückzutreten.

»Ich habe den Gefangenen zu sprechen!« sagte der General kurz und befehlend.

»Dann werden Eure Exzellenz wissen, daß niemand bei dem Gefangenen eintreten darf, ohne einen allerhöchsteigenen Befehl Seiner Majestät des Kaisers.«

»Ganz recht,« sagte der General, »hier ist der Befehl.«

Er zog aus seinem Uniformrock ein Papier hervor, das er dem Kosakenoffizier reichte; dieser prüfte dasselbe, es enthielt genau dieselbe Formel wie die Eintrittspässe, mit denen die Generale versehen waren, welche regelmäßig die Untersuchung führten, in deutlichen Zügen stand die Unterschrift! des Kaisers darunter. Der in dem Befehl genannte Name des Generals war dem Offizier zwar völlig unbekannt, indessen war ja der kaiserliche Erlaubnisschein die vollständigste Legitimation, und sein Befehl lautete, jeden eintreten zu lassen, der einen solchen Schein vorweisen könne; er trat daher mit ehrerbietigem Gruß seitwärts, der General stieg die kleine Treppe hinauf, die beiden Kosaken, welche vor dem Zimmer des Gefangenen unter dem Gewehr standen, machten die Honneurs, der General öffnete die Tür und trat ein.

Jewjeni lag auf seinem Bett und rauchte eine der Zigaretten, von denen man ihm täglich eine gewisse Anzahl verabreichte; er blies die blauen Dampfringe in die Luft, und man hätte bei seinem Anblick eher glauben können, in sein Studentenzimmer in Petersburg zu treten, als in den Kerker eines des schwersten Verbrechens schuldigen Gefangenen. Er erhob sich, betrachtete ein wenig erstaunt den ihm völlig unbekannten General, doch schien ihm die neue Erscheinung keine Unruhe zu verursachen, da er während seiner ganzen Haft immer nur fünfte und freundliche Behandlung erfahren; er grüßte zwar ehrerbietig und demütig, aber doch mit einer gewissen vertraulichen Sicherheit. Der General trat dicht vor ihn hin und sagte, ohne die Mütze abzunehmen, deren Schirm seine Augen verdeckte:

»Jewjeni Mossejew, deine Bitte soll gewährt werden, die Untersuchung ist zu Ende. Der Kaiser hat befohlen, daß du nach einer Festung weit im Norden gebracht werden sollst, wo du hinter sicheren Wällen eingeschlossen sein wirst.«

»Ich danke, ich danke!« rief Jewjeni – »und«, fügte er dann ein wenig zögernd, mit einem leichten Anklänge von wiedererwachendem Mißtrauen hinzu, »wird man mich nicht darben lassen? Nicht in Ketten legen? Nicht mißhandeln?«

»Das Versprechen, das dir! gegeben ist, wird gehalten werden«, sagte der General feierlich. »Deine offenen Geständnisse werden den Lohn finden, den sie verdienen.«

»O gnädiger Herr,« rief Jewjeni, »wenn ich nur mehr wüßte, ich wollte ja gern alles sagen, alles, um mich der Gnade Seiner Majestät des Kaisers würdig zu machen; aber bei Gott, ich weiß nicht mehr, als ich gesagt habe, und es ist mir ganz unmöglich, mehr zu bekennen, ich habe niemals die Personen gekannt, mit denen ich verkehrte.«

»Man weiß,« erwiderte der General, immer in demselben kalten, dienstlichen Ton, »daß du nicht mehr zu sagen hattest, als was die Protokolle enthalten, aber dein Eifer, alles zu verraten, was du wußtest, genügt, um dir den verdienten Lohn zu gewähren. Sei ganz ruhig, das Versprechen, das dir für die Enthüllung der Bundesgeheimnisse, soweit sie in deinen Kräften stand, gegeben wurde, soll dir, voll und ganz gehalten werden, ich gebe dir nochmals mein Wort darauf – aber es ziemt sich, daß du mir eine Erklärung darüber gibst; ich bin beauftragt mit der Ausführung der Befehle, die dich betreffen, und du selbst mußt mir bescheinigen, daß du empfangen hast, was dir versprochen wurde und was dir gebührt.«

Er zog ein Blatt Papier und ein kleines Taschenschreibzeug aus seiner Uniform.

Ein wenig erstaunt blickte Jewjeni auf.

»Und was soll ich schreiben?« fragte er.

Der General zuckte die Achseln und sagte mit einem Ton voll tiefer Verachtung:

»Ich werde es dir diktieren, du wirst dich selbst überzeugen, daß es unverfänglich ist und nur die Wahrheit enthält. Schreibe!«

Jewjeni nahm die Feder, welche der General ihm reichte, und sich über den Tisch beugend, schrieb er auf das Blatt Papier, was jener diktierte:

»Nachdem ich alles, was mir über den geheimen Bund, dem ich angehörte, bekannt gewesen, ausführlich ausgesagt und nichts dabei verschwiegen, zurückgehalten oder verdunkelt habe, ist mir der dafür zugesagte Lohn zuteil geworden, und ich habe erhalten, was mir gebührt.«

»Das kann ich Wohl erklären«, sagte Jewjeni, nachdem er die diktierten Worte geschrieben; »aber wenn nun das Versprechen nicht gehalten würde?« Der General war hinter den Schreibenden getreten und beugte sich über ihn herab, um die auf das Papier niedergeschriebenen Worte zu verfolgen, Jewjeni blickte fragend rückwärts auf.

»Ich habe dir schon gesagt,« erwiderte der General streng, »daß dir mein Wort Bürgschaft ist; du wirst dich überzeugen, daß dies Wort bis auf das kleinste Titelchen gehalten werden wird.«

Jewjeni seufzte, er begriff, daß er nichts anderes verlangen könne, auch glaubte er an die Erfüllung des Versprechens, das ihm der Kaiser selbst gegeben; jedenfalls hatte er keine andere Wahl, als sich vertrauensvoll zu unterwerfen, und wenn irgendein Mißtrauen noch in seiner Seele Platz fand, so war dasselbe nur verschwindend und unbedeutend im Vergleich mit seiner entsetzlichen Furcht vor der Rache des Bundes, gegen welche er nur in einem Gefängnis der Regierung Schutz finden konnte.

»Unterzeichnen!« sagte der General.

Jewjeni beugte sich abermals über den Tisch vor und schrieb in großen Zügen seinen Namen unter die Erklärung, welche ihm diktiert war. Als er den letzten Zug seiner Namensunterschrift getan hatte, zog der General schnell wie der Blitz ein langes, dreischneidiges Stilett aus seiner Uniform hervor; mit einem gewaltigen Stoß versenkte er dasselbe eine Handbreit unter der linken Schulter in Jewjenis Rücken, so daß die Spitze im nächsten Augenblick einige Zoll weit aus der Brust des Studenten hervordrang.

Der Stoß war so schnell und scharf geführt und hatte so sicher das Herz des Unglücklichen durchbohrt, daß Jewjeni, jäh emporzuckend und dann vornüberstürzend, nur einen dumpfen, röchelnden Ton ausstieß und dann mit ausgebreiteten Armen neben dem Stuhl zu Boden sank. Blutiger Schaum trat auf seine zum verhallenden Todesschrei geöffneten Lippen, entsetzlich starrten seine weit geöffneten Augen. Der General stand ruhig über sein Opfer gebeugt da; ohne daß eine Miene seines Gesichts sich bewegte, beobachtete er die letzten, krampfhaften Zuckungen des Gemordeten, dessen Hände sich noch einige Male krampfhaft öffneten und wieder schlossen. Dann nahm er das von Jewjeni geschriebene Blatt, heftete es an die aus der Brust des Toten hervorragende Dolchklinge und verließ hierauf, die Tür nur wenig öffnend und schnell hinter sich verschließend, das Zimmer.

Die Kosaken auf dem Flur machten die Honneurs, der Offizier stand in dienstlicher Haltung an der Haustür, der General erwiderte, leicht seine Mütze berührend, die militärischen Grüße und ging dann ebenso ruhigen, festen Schrittes, wie er gekommen, durch das Dorf nach dem Lager hin. Hinter den letzten Häusern verschwand er in dem die Ebene einschließenden Gehölz, welches sich etwa eine Viertelmeile ausdehnte und hinter welchem auf der anderen Seite das Lager einer Kosakenabteilung sich befand. Die Posten hatten ihn überall gegrüßt, niemand achtete weiter auf ihn, es gingen ja so viele Generale zwischen den Truppen lagern und dem Hauptquartier hin und her, keiner von den Soldaten kannte die hohen Offiziere der großen Armee, wenn dieselben nicht unmittelbar zu den Vorgesetzten seines eigenen Truppenteils gehörten.

Das Dorf und das Lager blieb ruhig wie vorher, bis nach einigen Stunden der Kaiser von den Besichtigung der Truppenstellungen vor Plewna zurückkehrte; zugleich waren die Übungen im Lager beendet, die Offiziere und die beurlaubten Soldaten kamen wieder zu den Marketendertischen, und ein fröhliches, bewegtes Leben entwickelte sich überall, während der Kaiser mit seinem Gefolge sich in dem großen Zelt zur Tafel setzte.

Gegen das Ende des Diners rief eine Ordonnanz den General Rylejew hinaus. Der General blieb lange fort, niemand achtete darauf, da der Kommandant des Hauptquartiers häufig von dringenden Dienstgeschäften in Anspruch genommen wurde. Als derselbe aber endlich Zurückkehrte und stillschweigend seinen Platz wieder einnahm, war sein Gesicht bleich wie der Tod, seine Hände zitterten, und ganz verstört umherblickend, gab er auf die Bemerkungen seiner Nachbarn nur unverständliche und unzusammenhängende Antworten. Der Zustand des sonst so ruhigen, mutigen Generals erregte peinliches Aufsehen, denn etwas Unglückliches, Unerhörtes mußte geschehen sein, um ihn so aus aller Fassung zu bringen.

Bereits hatte der Kaiser mit dem üblichen Kommando: »Faßt Patron!« die Erlaubnis zum Rauchen gegeben, aber die sonst um diese Zeit der Tafel so heiteren und lebhaften Gespräche verstummten, und der Kaiser selbst bemerkte endlich die außerordentliche Aufregung des Generals. Sofort erhob er sich und winkte denselben zu sich heran. Eifrig und leise sprach der General mit ihm, während die Herren des Gefolges unter gezwungenen Gesprächen sich in verschiedenen Gruppen zurückzogen. Finsterer Ernst legte sich auf des Kaisers Gesicht, während er den Bericht des Generals Rylejew anhörte, mit flüchtigem Gruß zog er sich in sein Zimmer zurück, der General Rylejew folgte ihm, und unmittelbar darauf wurde der Kriegsminister und der Graf Adlerberg zu Seiner Majestät gerufen. Voll Entsetzen vernahmen beide den Bericht, welchen der General Rylejew in ihrer Gegenwart noch einmal wiederholen mußte, während der Kaiser finster und traurig, mit gefalteten Händen in seinem Stuhl dasaß.

Jewjeni war, als man ihm sein Essen gebracht hatte, ermordet gefunden, und der Zettel auf seiner Brust, von dessen Inhalt der General eine Abschrift gebracht, ließ keinen Zweifel übrig, daß man es hier mit einer Tat der Rache des geheimen Bundes für den von dem Gefangenen verübten Verrat zu tun habe. Der Offizier und die Soldaten der Wache erklärten, daß niemand das Haus betreten habe als ein ihnen unbekannter General, der aber im Besitz eines vollkommen richtigen Eintrittspasses mit der kaiserlichen Unterschrift gewesen sei.

»Wer herrscht in Rußland?« sagte der Kaiser, mit trübem Blick die Augen aufschlagend – »bin ich es, oder ist es jene geheime Verschwörung, deren Arm bis in meine unmittelbare Nähe durch alle diese Tausende von Soldaten, die meinen Befehlen gehorchen, zu dringen und sein Opfer zu treffen vermag? Sie können meiner ganzen Armee zum Trotz rächen und strafen, und meine Macht findet überall ihre Grenzen, wenn ich die Hand ausstrecke, um meine Feinde zu rächen. Diesmal hat mich Gott vor dem Verderben bewahrt, aber, gibt es einen Schutz gegen solche Macht, die unsichtbar und unaufhaltsam durch alle Wachen dringt? Bin ich sicherer vor dem Mordstahl, als es jener Elende war, vor dessen tödlichem Wurf ich nur bewahrt blieb, weil seine Nervenfasern nicht fest genug waren, um das Ungeheure auszuführen?«

Wieder senkte er das Haupt auf seine Brust und blickte aus seinen feuchtverschleierten Augen auf seine gefalteten Hände herab.

»Der Mörder kann nicht weit sein,« rief der Kriegsminister, »er, darf nicht entkommen, man muß sogleich den Befehl an alle Vorposten senden, daß niemand passieren darf, wer es auch sei; jeder Offizier, jeder Soldat, jeder Bauer der Umgebung muß durchsucht und befragt werden, wir werden den Verwegenen finden, der so Unerhörtes gewagt hat.«

Der Kaiser schüttelte den Kopf.

»Nein,« sagte er, »nichts von alledem soll geschehen, man soll das tiefste Schweigen beobachten, und nur ganz im stillen, versteht ihr Wohl, ganz im stillen forschen, ob man von jenem geheimnisvollen Mörder eine Spur findet; es darf nicht bekannt werden, welch eine finstere Macht sich drohend neben der meinigen aufrichtet, ohne daß ich ihrer Herr werden und ihre Fäden verfolgen kann. Die Furcht vor der finsteren, unfaßbaren Verschwörung ist schlimmer als die Furcht vor den Granaten des Feindes, und keine Furcht darf in diesem Augenblick, in welchem die Ehre und die Zukunft Rußlands auf dem Spiele stehen, in das Herz meiner Soldaten Eingang finden. Mein Leben steht in Gottes Hand, und was die Vorsehung über mich beschlossen hat, mag geschehen, aber solange ich lebend auf meinem Platz stehe, soll das Vertrauen nicht wanken, das mein Heer und mein Volk in meine Herrschermacht setzt; ich will dies furchtbare Geheimnis allein tragen, und alle, die darum wissen, hört ihr wohl, alle, der Offizier der Wache und die Soldaten, sollen einen heiligen Eid ablegen, niemals ein Wort von dem, was geschehen ist, zu verraten.«

Der Kaiser hatte sich erhoben und streckte gebietend die Hand aus. Die Generale verneigten sich stumm, sie erkannten, daß der Kaiser recht hatte, und daß die dunkle und geheimnisvolle Gefahr nicht abgewendet werden würde, selbst wenn es gelänge, Jewjenis Mörder zu entdecken, aber tiefer Schmerz erfüllte ihre Herzen.

Die unglückliche Weisung des Feldzuges hatte das Werk von Jahrzehnten in Frage gestellt, die Zukunft Rußlands, seine militärische Ehre, sein Ansehen in Europa, seine großen Aufgaben im Orient, an deren Erfüllung man so siegesgewiß herangetreten war, das alles stand auf der Spitze des Degens – aber was bedeuteten alle diese türkischen Heere, welche ringsum mit erneuter wilder Wut gegen die russischen, weitausgedehnten Stellungen vordrangen, was bedeuteten die verderbenspeienden Erdwälle um Plewna, vor welchen Tausende auf Tausende von Leichen sich häuften, gegen den unmittelbaren, über dem Haupte des Kaisers schwebenden unsichtbaren, unfaßbaren Mord, welcher mit einem Schlage den ganzen Organismus des russische» Reiches in seinem Mittelpunkt zerstören und alle Bande der Ordnung in dem entsetzten Volke zerreißen konnte.

Eine Zeitlang herrschte tiefes Schweigen in dem kleinen Gemach, welches den Herrscher über die Hälfte zweier Weltteile einschloß, der dennoch in der Mitte seiner zahllosen Heere nicht seines Lebens sicher war, über sich das an einem Haar hängende Schwert fühlte, welches einst der Tyrann Dionysius über dem Haupte des Damokles als ein Sinnbild seiner eignen, von jenem beneideten Existenz aufhängen ließ – Dionysius aber war ein Tyrann und herrschte mit allen Mitteln blutiger Gewalt und Willkür über seine widerwilligen Untertanen, während der Kaiser Alexander sanft und milde sein Volk zu beglücken rang und von seinem Volle geliebt und verehrt wurde als der Stellvertreter der göttlichen Macht auf Erden und als der Befreier der Armen und Unterdrückten.

Der Kaiser gewann zuerst seine gleichmäßige, melancholisch freundliche Ruhe wieder.

»Man soll den Toten in aller Stille begraben,« befahl er, »Gott möge seiner Seele gnädig sein – jetzt will ich allein sein.«

Die Generale gingen hinaus.

Niemand von dem noch versammelten Gefolge wagte eine Frage, aber da keine Nachricht von irgendeinem Unglück bekannt wurde, so blieb der ganze Vorgang in tiefes Geheimnis gehüllt. Blagonow allein ahnte, was geschehen. Als er nach Hause zurückkehrte, rief er Stephan Sacharjew und sagte ihm:

»Ich glaube, daß Jewjeni vor seinem Richter steht. Höre Wohl auf meine Worte: Niemals, solange du lebst, soll der Name des Unglücklichen über deine Lippen kommen – aber so oft du dein Gebet sprichst, vergiß nicht, auch ihn darin einzuschließen und Gott anzurufen, daß er seine Seele erlöse und zur Seligkeit führe, er hat gebüßt für seine Schuld, und«, fügte er leiser hinzu, »ich darf ihn nicht, verurteilen, da ich so wunderbar von dem Schicksal errettet bin, das mich hätte treffen können wie ihn.«

»Ich will es tun, Herr,« murrte Stephan Sacharjew, »weil Ihr es befehlt, weil's christliche Pflicht ist, für alle Sünder zu beten; aber«, sagte er für sich, indem er kopfschüttelnd hinausging, »ich glaube, mein Gebet wird nicht kräftig genug sein, um ihm aus den Krallen des Teufels Zu befreien, der ihn sicher gepackt hat.«


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