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15. Kapitel

Einen Augenblick, nachdem der Türke mit Stjepanida auf dem Waldwege verschwunden war, blieben die Zuschauer, welche von den Waffen hatten keinen Gebrauch machen können, auf der Plattform von Entsetzen gelähmt; der Gedanke an das Schicksal des unglücklichen Mädchens ließ ihr Blut zu Eis erstarren. Pawjel aber raffte sich in der nächsten Sekunde schon aus seiner Betäubung auf.

»Gott sei mir gnädig,« rief er mit wildem Aufschrei, »ich muß sie retten oder mit ihr zugrunde gehen. Ihr alle habt mir geschworen auf das Bild des Erlösers,« sagte er, sein totenbleiches Gesicht mit den unheimlich blitzenden Augen zu seinen Freunden wendend, »daß ihr Stjepanida schützen und behüten wollt; nun wohl, ich erinnere euch an euren Schwur jetzt im Augenblick der höchsten Not, wer kein Meineidiger ist, der folge mir, um Stjepanida zu retten.«

Ohne einen Augenblick weiter zu zögern, trat er ganz an den Rand der Plattform vor und sprang über die steile Felswand hinab.

Es war ein gewaltiger Sprung, aber Pawjel war es gewohnt, die Berge zu durchstreifen und von den Felsen herab in die Schluchten zu dringen, auch wo kein Weg hinabführt. Er sank tief in die Knie, sein elastischer Körper schmiegte sich wie eine Feder zusammen, aber im nächsten Augenblick schnellte er wieder empor und schüttelte seine Glieder, als wolle er sich überzeugen, daß alles in richtiger Ordnung sei; dann rückte er das über seine Schulter hängende Gewehr zurecht, rief, aufwärts blickend, seinen Freunden noch einmal zu:

»Gedenkt eures Schwures und folgt mir!« und dann stürmte er auf dem in dunklen Waldesschatten sich verlierenden Weg dem Türken nach.

In finsterem Schweigen standen die Männer oben einen Augenblick da, jeder von ihnen maß mit den Blicken die Tiefe, und jeder fragte sich schaudernd, ob es möglich sei, daß auch ihm der waghalsige Sprung gelinge, den Pawjel soeben glücklich ausgeführt.

»Es ist unmöglich,« rief endlich der junge Mann, welcher Pawjel auf seinem letzten Ausflug begleitet hatte, »es ist unmöglich, ihn allein gehen zu lassen, es wäre eine unverzeihliche Feigheit, wenn wir ihm nicht folgten, sein Blut müßte über unser Haupt kommen – dort unten liegt das Erdreich, mit welchem Stjepanida hinabfiel, der weiche Boden mildert die Erschütterung des Sprunges – ich wage es.« Und ohne den übrigen Zeit Zu einer Erwiderung zu lassen, sprang er an der Stelle, an welcher Stjepanida herabgestürzt war, auf den unten liegenden Erdhaufen; zwar stürzte er taumelnd vornüber, aber er richtete sich wieder auf, frei bewegte er seine Glieder und rief hinauf:

»Es geht, folgt mir, es ist leichter, als es scheint, und wenn erst noch einige von euch unten sind, so können wir eine lebende Leiter für die übrigen bilden.«

Bald wagte einer nach dem anderen von den jüngeren Männern den Sprung, dann stieg einer auf die Schultern des anderen, an den Vorsprüngen der Felsen sich festhaltend, und so kletterten dann die übrigen an dieser aus menschlichen Körpern gebildeten Leiter von der Plattform herab. Als alle unten waren, beschlossen sie, auf jede Gefahr hin Pawjel zu folgen, um ihn und Stjepanida zu retten oder zu rächen, wenn sie zu spät kommen sollten; aber als sie sich eben geordnet hatten, um in paarweis geschlossenem Zuge in schnellem Laufschritt den Weg in die Berge einzuschlagen, erschallte von der anderen Seite her Pferdegetrappel und Waffengeklirr.

Entsetzt lauschten die Bulgaren – es war kein Zweifel, daß ein neuer türkischer Haufe heranzog, und wenn sie vorwärts gingen, um Pawjel zu folgen, so mußten sie von den neu Heranziehenden eingeholt und zwischen zwei Feinde gekeilt werden. Nach kurzer Beratung beschlossen sie, standzuhalten, vielleicht waren die Kommenden nicht in der Übermacht, und auch wenn dies der Fall sein sollte, so war es immer ehrenvoller und auch klüger, ihnen auf dem schmalen Wege mutig standzuhalten, als sich von ihnen einholen zu lassen; sie blieben also zu zwei und zwei gegliedert stehen, jeder hielt sein Gewehr schußgerecht, öffnete seine Patronentasche und überzeugte sich noch einmal, daß die Dolchmesser leicht in der Scheide spielten.

Wenige Augenblicke vergingen in atemlosem Schweigen. Da erschien die Spitze des türkischen Zuges an der Wendung der Felsecke; dies waren keine flüchtenden Landleute, sondern versprengte Truppen eines türkischen Korps, voran einige Baschi-Bozuks zu Pferde, hinter ihnen Infanteristen in blauen Röcken, den roten Fes auf dem Kopf, die Gewehre im Arm: alle sprachen durcheinander und marschierten dicht gedrängt auf dem engen Wege vorwärts. Als die voranreitenden Baschi-Bozuks bei der Wendung des Weges plötzlich die Bulgaren mit den schußfertigen Gewehren im Arm vor sich erblickten, parierten sie ihre Pferde und riefen, sich rückwärts wendend, einige türkische Worte den Nachfolgenden zu; aber die Kolonne konnte ihre Bewegung nicht so schnell anhalten, die weiter zurück Marschierenden drängten nach, die Spitze wurde unaufhaltsam weiter vorgeschoben, und ein dichter Menschenknäuel drängte sich hinter den Pferden zusammen, die wilden, gebräunten und bärtigen Gesichter blickten entsetzt und drohend zugleich zu der kleinen Schar der Bulgaren herüber.

Aber kaum eine Sekunde dauerte diese schweigende Spannung, schon krachten die Schüsse aus den Gewehren der beiden voranstehenden Bulgaren; schnell warfen sich diese auf die Knie nieder, die Hintermänner feuerten über ihre Köpfe hinweg, um sich dann ebenfalls zur Erde zu bücken und wieder den Nächstfolgenden Raum zu geben. So setzten sich die Schüsse stets zu zweien in schneller Reihenfolge fort, indem die Vorderen ihre Gewehre immer wieder luden, während die Rückwärtsstehenden nach der Reihe Feuer gaben.

Schon bei den ersten Schüssen waren die Baschi-Bozuks von den Pferden gesunken, die Tiere drängten, wild um sich schlagend, rückwärts, während von hinten her die Kolonne sich vorwärtsschob. Es entstand eine ungeheure Verwirrung – fast jede Kugel der Bulgaren traf sicher ihren Mann, und bald wälzten sich Verwundete und Sterbende mit den von den Pferden niedergerissenen Soldaten am Boden durcheinander; der schmale Weg wurde versperrt, ein Haufen von zuckenden, blutenden Menschenkörpern türmte sich auf. Einen Augenblick schienen die Türken betäubt von dem unerwarteten Angriff, dann hallte ihr wildes Wutgeheul von den Felsen wider, sie hatten die kleine Zahl ihrer Feinde erkannt und stürmten nun vorwärts, um furchtbare Rache an den verhaßten Christen zu nehmen, die sie als rebellische Sklaven gegen die von Gott selbst geheiligte Herrschaft der Mohammedaner betrachteten. So dicht gedrängt, als es der schmale Weg erlaubte, kletterten die Soldaten über die Toten und Verwundeten herüber, und ein furchtbares Gewehrfeuer krachte den Bulgaren entgegen; diese aber blieben fest und ruhig in ihren Gliedern, immer nach der Reihe schießend und mit sicherem Blick ihr Ziel wählend, so daß der Wall von Menschenleibern vor der türkischen Kolonne sich immer mehr erhöhte. Die Türken hatten in wilder Aufregung geschossen, und ihre ersten Salven waren erfolglos geblieben, die Bulgaren hielten an und warteten, bis neue Feinde auf dem schauerlichen Bollwerk erscheinen würden – aber nun schienen auch die Türken zu ernsterem und uberlegterem Angriff sich zu sammeln. Einen Augenblick blieb alles ruhig, die türkischen Soldaten zogen sich hinter den Felsenvorsprung an der Ecke des Weges zurück, man hörte nur einzelne Stimmen von dorther, sie schienen sich über die Art der Fortsetzung des Kampfes zu beraten; bald jedoch drangen sie wieder vor, diesmal aber kletterten sie nicht über die Körper der Gefallenen, sondern hinter denselben versteckt, begannen sie ein geordnetes und wohlunterhaltenes Feuer.

Die Stellung der Bulgaren wurde schwierig, sie lösten ihre Glieder auf, jeder suchte, so gut es anging, hinter einem Felsenvorsprung oder einem Baumstamm Deckung, und es begann nun ein gegenseitiges, vorsichtig unterhaltenes und wohlgezieltes Feuer; die Bulgaren schossen auf jeden Türkenkopf, der sich über die Leichenhaufen erhob, und meist erreichten ihre Kugeln sicher ihr Ziel. Aber auch das Feuer der Türken blieb nicht ohne Wirkung, bald brach auch der eine und der andere der Bulgaren zusammen, immer mehr verringerte sich die kleine Schar, und die so hart Bedrohten überlegten, immer dabei wieder ladend und feuernd, ob es nicht dennoch besser für sie sei, in schneller Flucht davonzueilen und zu versuchen, ob sie sich einzeln in die Schluchten des Waldes retten könnten; auch die Türken hielten einen Augenblick inne und schienen sich abermals zu beraten; schon hofften die Bulgaren, welche die Stärke ihrer Feinde nicht kannten, daß diese den Kampf aufgeben und sich zurückziehen würden, um einen anderen Weg in das Gebirge zu suchen – da aber plötzlich erzitterte die Luft von einem betäubenden Allahgeschrei, dicht gedrängt kletterten die Türken über die Leichenhaufen herüber; unbekümmert darum, daß die ersten zusammenbrachen, drängten immer neue Haufen heran, sie schienen des langsamen Feuers müde zu sein und entschlossen, um jeden Preis die kleine, schon fast auf die Hälfte zusammengeschmolzene Schar zu vernichten, um sich den Weg in die Berge freizumachen. Die Bulgaren gaben eine letzte Salve, welche indes die Türken kaum eine Sekunde lang in ihrem Anstürmen aufhielt; dann warfen sie ihre Gewehre zu Boden, zogen: ihre langen, zweischneidigen Dolchmesser aus den Scheiden und erwarteten, fest aneinander geschlossen, in finsterer Ergebung, an der Rettung verzweifelnd, den letzten Kampf, Mann gegen Mann, nur darauf bedacht, ihr Heben teuer zu verkaufen und im letzten Augenblick die Klinge in das eigene Herz zu stoßen, um nicht lebend den grausamen Barbaren in die Hände zu fallen.

Ein furchtbares Handgemenge begann. Im freien Felde wäre die kleine Bulgarenschar in wenigen Augenblicken hingeschlachtet gewesen, aber auf dem schmalen Wege nützte den Türken ihre Überzahl weniger, da immer nur wenige zugleich Vordringen konnten. Sicher trafen die Messer der Bulgaren ihre Feinde, fest und unerschütterlich hielten sie stand, wenn einer von einem türkischen Bajonett oder von einer aus unmittelbarer Nähe abgeschossenen Kugel getroffen, zusammenbrach, trat sogleich sein Hintermann an seine Stelle; aber mit gleicher Tapferkeit und immer steigender Wut drangen die Türken vor, und bei ihrer großen Überzahl mußte es nach kurzer Zeit, so viele ihrer auch fielen, mit den Bulgaren zu Ende sein, von denen nur noch wenige Reihen aufrecht standen.

Da mit einem Male stockte die vorstürmende Bewegung der türkischen Kolonnen, man hörte in einiger Entfernung rückwärts Hornsignale, knatterndes Gewehrfeuer und lautes Schmerz- und Wutgeheul der Türken; auch die ersten Glieder, welche unmittelbar den Bulgaren gegenüberstanden, hielten an und blickten erschrocken rückwärts – immer lauter knatterten die Salven von dorther, und durch die dicht zusammengedrängten türkischen Reihen pflanzte sich der Schreckensruf fort: »Die Russen – die Russen!«

Wie himmlische Musik erklang dieser Ruf den hart bedrängten Bulgaren, in deren Herzen neue Lebenshoffnung aufflammte. Mit lautem, jubelndem Hurra begrüßten sie die nahende Rettung; auch die am Boden liegenden Verwundeten, welche die Spitze ihrer Dolche schon gegen ihr eigenes Herz gerichtet hatten, um sich, wenn der Sieg der Türken entschieden wäre, den Tod zu geben, stimmten in den Freudenruf mit ein, und die noch aufrecht standen, stürmten mit hoch erhobener Waffe auf die entsetzten Türken los, von der verzweiflungsvollen Verteidigung zum siegesfrohen Angriff übergehend.

Immer näher krachte das Feuer, schon hörte man den Schlachtruf der Russen, dichter drängten die Türken heran, aber erschrocken wichen sie wieder vor den Bulgaren zurück, welche dicht geschlossen, die bluttriefenden Waffen in der Hand, wie eine eherne Mauer sich ihnen entgegenstemmten. Noch einige Schüsse fielen aus dem ungeordneten Haufen heraus, noch einige Verzweifelte warfen sich, gehetzten Raubtieren gleich, auf die Bulgaren, um durch ihre Reihen hindurch einen Ausweg zu erzwingen – dann schleuderten die Türken ihre Waffen zu Boden, sanken in die Knie und baten mit emporgehobenen Händen, die Gesichter von Angst und Wut zugleich verzerrt, um Gnade.

Über die Haufen der Toten hin, welche den Weg in seiner ganzen Breite versperrten, rückten die Russen vor. Es war ein Infanterieregiment; der Oberst, von einigen Offizieren begleitet, trat vor und befahl, die gefangenen Türken rückwärts zu führen – da stürmten die Bulgaren auf ihn zu, sie küßten seinen Rock und seinen Degen, sie eilten den russischen Soldaten entgegen, sie umarmten jeden einzelnen Mann, und alle diese todesmutigen Männer, deren Auge Wohl noch niemals in ihrem Leben eine Träne benetzt hatte, schluchzten laut in der Wonne dieses Augenblicks, der ihnen nach fast unabwendbarer Todesgefahr so plötzlich Leben, Freiheit, Vaterland und eine glückliche Zukunft wiedergab; jeder der russischen Soldaten erschien ihnen in diesem Augenblick wie ein Engel des Himmels, den Gott selbst zu ihrer Erlösung gesendet habe.

»Wer seid ihr?« fragte der Oberst, die jungen Leute mit einem gewissen Mißtrauen betrachtend – »wie kommt ihr hierher?«

Die Bulgaren erzählten alle durcheinander, und obgleich ihre Sprache den Russen nur teilweise verständlich war, so begriff der Oberst doch bald, was die Leute ihm sagten und durch lebhafte Gestikulationen zu erläutern suchten; er begriff vor allem, daß sie Christen und Freunde seien und hier in hartem Kampfe mit den Türken gestanden, daß sie den türkischen Zug festgehalten hätten, und daß ihnen dessen Gefangennehmung zu verdanken. Er sah die aufgetürmten Leichenhaufen, welche die Erzählung der Bulgaren bestätigten, er klopfte den Leuten freundlich auf die Schulter, die russischen Soldaten betrachteten sie mit Bewunderung und boten ihnen herzlich ihre Feldflaschen, und alles Leid der Vergangenheit war von den tapferen, treuen Herzen vergessen, als sie sich endlich inmitten ihrer russischen Brüder, der Soldaten des großen Zaren, befanden, deren Erscheinen ihnen von früher Jugend an von ihren Eltern und von den Priestern ihrer Kirche in Aussicht gestellt war als eine heilige Verheißung zur Erlösung der christlichen Länder aus der türkischen Sklaverei und zur endlichen Erhöhung des Kreuzes über den Halbmond. Auch die Verwundeten, welche der Oberst rückwärts schaffen ließ, um sie zu den Verbandplätzen zu führen, vergaßen ihre Schmerzen, und alle priesen selbst die Toten glückliche die nun eine Ruhestätte finden würden in der befreiten Erde des Vaterlandes.

Nur ein bitterer Schmerz mischte sich in die Freude der Bulgaren, das war der Gedanke an Pawjel, der nun auf seinem gefahrvollen Wege allein geblieben war, dem es vielleicht nicht gelungen war, Stjepanida von dem entsetzlichen Schicksal, das sie bedrohte, zu retten, der vielleicht gefallen war, ohne die Befreiung des Vaterlandes zu erleben, und im Glauben, daß sie ihn treulos verlassen hätten. Sie versuchten so gut als möglich, dem Obersten mitzuteilen, was vorgefallen, sie beschworen ihn, vorzugehen oder ihnen wenigstens eine Abteilung seiner Soldaten mitzugeben, um dem Freunde Hilfe zu bringen; aber der Oberst schüttelte bedenklich den Kopf, er hatte nur jene versprengte türkische Truppenabteilung verfolgt und glaubte, sich nicht in unbekannte Bergschluchten vorwagen zu dürfen.

Traurig standen die Bulgaren da. Nach kurzer Beratung waren sie einig, auch ohne russischen Beistand und trotz ihrer so sehr zusammengeschmolzenen Zahl Pawjel zu folgen, es schien ihnen unmöglich, den Freund zu verlassen, dessen Führung sie ihre Freiheit verdankten und der stets bereit gewesen, sein Leben für einen jeden von ihnen einzusetzen. Als sie sich anschickten, ihren Weg anzutreten, der sie von neuem einem unsicheren, gefahrvollen Schicksal entgegenführen sollte, hörte man rückwärts das Klirren präsentierter Gewehre und freudigen Hurraruf; die russischen Reihen öffneten sich, und in dem schmalen, freien Raum, der sich in der Mitte des Weges bildete, ritt ein russischer General, von mehreren Adjutanten gefolgt, heran.

»Hurra, Batuschka Jossif Wladimirowitsch!« riefen die Soldaten, den kühnen General Gurko begrüßend, welcher die Avantgarde kommandierte und eine Expedition gegen den Balkan unternommen hatte, um die bekannten Übergangspässe von Schipka und die Stärke ihrer Besatzung zu rekognoszieren. Der General, welcher sich stets an der Spitze seiner Truppen aufhielt, hatte das Feuer gehört und kam nun selbst, von der Halbschwadron der Gardekosaken, welche zu seinem Korps gehörte, begleitet, herangeritten, um zu sehen, was hier vorgehe.

Der General Gurko war neunundvierzig Jahre alt, seine magere Gestalt zeigte in ihren geschmeidigen, sehnigen Formen und in ihrer soldatisch festen Haltung die Kraft und Gewandtheit, welche der unermüdlich pflichteifrige Soldat in seinem militärischen Leben voll ruheloser Anstrengung sich erworben hatte. Sein kurzes, rückwärts gekämmtes Haar ließ die hohe und breite, fast viereckige Stirn frei, seine dunklen, etwas tief zurückliegenden Augen blickten scharf, klar und sicher vorwärts – man sah diesem Blick die Gewohnheit an, die kleinsten Details ebenso genau zu erfassen, als die ganze Situation auf einem Manöver- oder Schlachtfelde bis in die weiteste Ferne hin zu beherrschen. Sein dichter Schnurrbart und sein lang herabhängender Backenbart ließen das kräftig vorspringende Kinn frei; seine gerade, kräftige Nase mit den weit geöffneten Flügeln gehörte zu denjenigen, welche Napoleon I. als ein physiognomisches Kennzeichen freien Geistes und kühnen Entschlusses betrachtete und bei den Personen seines unmittelbaren Dienstes vorzugsweise als Bedingung ihrer Auswahl aufstellte. Der General trug einen staubbedeckten Überrock mit den Achselstücken seines Ranges und eine von Wind und Wetter zerknitterte Mütze; er war auf seinem schwarzen, feurigen Pferde ganz das Bild eines kriegsgehärteten Feldherrn, der keine Rücksicht noch persönliche Bequemlichkeit kennt, der überall für das Wohl seiner Truppen sorgt und eintritt, und dabei von diesen streng und unnachsichtlich die rücksichtslose Pflichterfüllung verlangt, die er sich selbst auferlegt.

Mit wenigen Worten hatte der Oberst ihm mitgeteilt, daß eine versprengte türkische Abteilung, deren Spur er verfolgt, hier von dem kleinen Häuflein der tapferen Bulgaren aufgehalten und gefangen genommen worden sei.

Der General sprach herzliche Worte der Anerkennung zu den jungen Leuten, welche fast alle aus leichten Wunden bluteten; sein ganzes offenes, freies Wesen flößte ihnen Vertrauen ein, sie wiederholten ihm die Bitte, welche der Oberst nicht zu erfüllen gewagt hatte, daß er ihnen eine Truppenabteilung mitgeben möge, um Pawjel zu folgen und ihm, wenn es noch möglich sei, Hilfe zu bringen.

Der General, welcher die bulgarische Sprache vollkommen kannte, hörte aufmerksam zu und blickte mit feinen scharfen, klaren Augen über den Weg hin, welcher sich in dem Schatten der Waldschluchten verlor.

»Dorthin ist euer Freund gegangen?« fragte er. – »Glaubt ihr, daß es möglich sein wird, ihn aufzufinden und zu erreichen?«

»Gewiß,« riefen die Bulgaren, »gewiß werden wir ihn finden, wenn er nicht im Kampf mit dem Baschi-Bozuk, den er verfolgte, getötet ist. Der Weg ist nicht breit, aber vollkommen frei, wir können nicht irren.«

»Und wohin führt dieser Weg?« fragte der General, indem ein freudiger Gedanke in seinen Augen aufzublitzen schien.

»Nach dem Flecken Chankioi«, antworteten die Bulgaren, »und weiter nach Kasanlik.«

»Nach Kasanlik,« rief der General, indem er in freudiger Überraschung zusammenzuckte, so daß sein Pferd eine unruhige Bewegung machte – »nach Kasanlik, sagt ihr – in das Rosental auf der andern Seite der Berge, rückwärts von Schipka?«

»Ja, ja, dorthin, und von jener Seite ist der Schipkapaß leichter anzugreifen, als von Norden her.« Die breite Brust des Generals dehnte sich unter einem tiefen Atemzug aus, seine Augen sprühten Flammen.

»Hört ihr's, meine Herren,« rief er, sich zu den Offizieren seines Gefolges wendend – »hört ihr's! Ich war gewiß, daß eine Umgehung möglich sei, nun öffnet sich hier vor uns eine so herrliche Aussicht, durch einen kühnen Schlag der Armee die Tore des Balkans zu öffnen.«

»Ist der Weg überall so breit wie hier?« fragte er.

»Überall, er wird sogar weiterhin noch breiter.«

»Und wieviel feindlichen Truppen können wir begegnen?«

»Wir sind seit Wochen hier«, erwiderten die Bulgaren, »auf der Flucht vor der türkischen Aushebung, es ist nichts auf diesem Wege durchgekommen als ein Trupp versprengter Soldaten und flüchtiger Türken. Was in Chankioi und Kasanlik stehen mag, wissen wir nicht, aber viel kann es nicht sein, da die Türken all ihre Truppen nach Schipka gezogen haben, um dort den Paß zu halten.«

Noch einen Augenblick saß der General stumm und unbeweglich auf seinem Pferde, den Kopf in tiefen Gedanken auf seine Brust gesenkt – dann richtete er sich hoch in den Bügeln auf und rief mit seiner ehernen, hellklingenden Stimme:

»Wir werden es wagen! Wenn es so ist, wie ihr sagt, ist der Erfolg sicher. Hört ihr,« fuhr er zu den Soldaten gewendet fort, »wir werden über den Balkan gehen, wir werden die ersten sein auf diesem Wege des Ruhmes und der Ehre, ihr werdet euren Brüdern das Tor öffnen zum Herzen des Feindes. Vorwärts mit Gott, für den Zaren und das heilige Rußland!«

»Vorwärts mit Gott, für den Zaren und das heilige Rußland!« riefen die Soldaten jubelnd, indem sie ihre Mützen in die Luft schwenkten; die Nächststehenden drängten sich zu dem General heran und küßten seinen Rock und seinen Degen.

»Führe uns,« riefen sie, »führe uns, Batuschka Jossif Wladimirowitsch, wir werden dir Ehre machen, und der Zar wird mit uns zufrieden sein!«

Der General befahl einem seiner Adjutanten, zurückzureiten und eine berittene Pionierabteilung und die Gebirgsartillerie heranzurufen. Die Soldaten, welche zur Schützenbrigade gehörten, drängten sich an die Seite des Weges, bald kamen die Pioniere heran, zwei leichte Batterien folgten.

»Leutnant Rossianow,« befahl der General Gurko einem jungen Kürassieroffizier, der sich als Ordonnanz bei ihm befand, »Sie werden mit den Pionieren vorausreiten, die Bulgaren werden Sie führen, und Sie werden dafür sorgen, daß alle Hindernisse, welche sich auf dem Wege finden, schleunigst beiseite geräumt werden, um den Geschützen den Durchzug zu öffnen. Sie werden Ihre Probe bestehen«, fügte er streng, aber mit einem Ausdruck herzlichen Wohlwollens hinzu, »und keinen Augenblick vergessen, daß der Erfolg des ganzen Feldzugs zum großen Teil von der geschickten und glücklichen Ausführung dieses Marsches abhängt. Marsch!«

Der Leutnant Rossianow errötete vor Stolz und Freude; er setzte sich an die Spitze der Pioniere, die Bulgaren gingen voraus, und der Zug rückte auf dem in die Waldberge aufsteigenden Wege vor.

»Herr Oberst,« befahl der General dem Kommandeur der Schützen, »Sie werden nun der Artillerie unmittelbar folgen; wo Sie Terrainschwierigkeiten begegnen, wird man die Pferde ausspannen und einzeln vorwärts führen; Ihre Leute werden die Kanonen ziehen oder tragen, wenn es sein muß. Vergessen Sie nicht, daß wir vorwärts müssen, und wenn der Teufel selbst sich uns entgegenstellte.«

Der Oberst salutierte mit dem Degen, die Soldaten riefen Hurra, und auch die Artillerie, von dem Schützenregiment gefolgt, setzte sich in Bewegung. Schnell hintereinander rückten dann, von den Adjutanten des Generals beordert, die übrigen Schützenbataillone, die Dragoner, die Kosaken und ein Husarenregiment heran. Die höheren Offiziere des Korps hatten sich um den General Gurko versammelt und hielten mit ihren Adjutanten am Eingänge der Waldschlucht, fast unmittelbar unter der Plattform, auf welcher Pawjel Fjodorew und die von ihm geführten Flüchtlinge während der letzten Wochen ihr Lager aufgeschlagen hatten.

Der General Gurko schickte den Generalmajor von Rauch, den Kommandeur der Schützenbrigade, voraus, um den Befehl über die ganze Vorhut zu übernehmen; dann folgte er selbst, sich unmittelbar anschließend mit dem Gros seines Korps, dem er nur einige Bagagewagen folgen ließ, welche für etwa vier bis fünf Tage Proviant und Fourage mit sich führten. So bewegte sich diese kleine Truppe in lang gedehntem Zuge auf dem schmalen Wege in fast lautlosem Marsch durch die tiefe Waldeinsamkeit, bald unter düsterem Schatten, bald über sonnige Felsabhänge hinschreitend, voran die Bulgaren, ängstlich vorwärts spähend, ob sie keine Spur von Pawjel zu entdecken vermöchten, und mühsam nur ihren Schritt mäßigend, damit die vorsichtig schreitenden Pferde und die schwer über den Felsboden fortrollenden Kanonen ihnen folgen konnten. Alle Herzen schlugen höher, bangend zwischen Hoffnung und Zweifel, denn jeder fühlte, daß, wenn das tollkühne Unternehmen gelang und der ganzen Armee der Weg durch den Balkan, die natürliche Schutzmauer des türkischen Reiches, geöffnet wurde, jeder von ihnen seinen Teil haben würde an hoher Ehre und unsterblichem Ruhm, welcher noch den des Generals Diebitsch Sabalkanski überstrahlen müßte.


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