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13. Kapitel

Der gewaltige Krieg hatte begonnen, und in mächtigen Schlägen donnerte die gewaffnete Hand Rußlands gegen den in seinen Fugen krachenden Bau des türkischen Reiches. Die ungeheuren Heersäulen Rußlands hatten sich durch Rumänien vorwärts gewälzt, die Türken waren südwärts durch Bulgarien zurückgedrängt. Der Großfürst Nikolaus hatte sein Stabsquartier bis Tirnowa vorgeschoben, um den Schlüssel des Balkan in seinen Händen zu halten, und ein Detachement des General Gurko war gegen dieses gewaltige, unwegsame und wenig bekannte Gebirge vorgeschoben, dessen Überschreitung durch den Marschall Diebitsch einst für eine von märchenhaftem Nimbus umschimmerte Heldentat galt, und dem siegreichen General den Ehrennamen Sabalkanski eintrug, ebenso wie der große Suwarow wegen seiner italienischen Feldzüge Italinski, und Potemkin wegen der Vernichtung der türkischen Flotte bei Tschesme Tschesmenski genannt wurde.

Nach dem Süden hin schien sich also trotz der verhältnismäßigen Langsamkeit, mit welcher das Vorrücken über die Donau geschehen war, alles günstig für die russischen Waffen zu gestalten, und es war bis jetzt alles so verlaufen, wie der General Nepokoitschinski es in seinem großen Feldzugsplan bestimmt und erwartet hatte, denn der Chef des Generalstabes hatte von vornherein eine längere Zeit für die Überschreitung der Donau, den Aufmarsch der russischen Armee jenseits des Flusses, die Festlegung der rückwärtigen Verbindungslinien und die Organisierung Bulgariens in Aussicht genommen. Dieses Ziel war nun nach der südöstlichen Seite hin erreicht; nach Westen leisteten die Türken noch stärkeren Widerstand. In Nikopolis, der türkischen Donaufestung, trotzte Hassan Pascha dem Baron Krüdener, der die Festung mit dem neunten Korps belagerte, und in Widdin stand Osman Pascha mit einer Armee, über deren Stellung und Stärke man im russischen Heere nur wenig Nachrichten hatte, da die große Ausdehnung des Kriegstheaters einem wohlorganisierten Kundschaftersystem viele Schwierigkeiten bereitete.

Die ganzen Operationen der russischen Armee bewiesen, daß man bei dem Oberkommando den deutschen Feldzug des Jahres 1870 in einer Beziehung sehr genau studiert und sich das maßgebende Prinzip des großen deutschen Strategen angeeignet hatte: sich nicht zu sehr mit der Verfolgung seitwärts stehender Korps aufzuhalten, da dieselben, wenn die feindliche Hauptmacht einmal zersprengt, und der Mittelpunkt der feindlichen Stellung genommen war, ihre Bedeutung verlieren müssen, man mochte auch wohl dem Korps Osman Paschas eine maßgebende Bedeutung überhaupt kaum beilegen, denn dieses Korps, dessen Stärke man nicht hoch anschlug, stand bei Widdin in einer zurückgeschobenen Ecke zwischen der rumänischen und serbischen Grenze, es mußte den bei Kalafat auf dem anderen Ufer ihm gegenüberstehenden Rumänen standhalten, und war, wenn erst ganz Bulgarien fest in russischen Händen sich befand, ringsum eingeschlossen, von der hinter den Balkan zurückgedrängten türkischen Macht abgeschnitten und, wie man annahm, fast ohne Kampf zur Übergabe gezwungen. Die ganze russische Armee drängte deshalb vorwärts, um Bulgarien bis zum Balkan zu nehmen und festzuhalten, und nur Nikopolis sollte wegen seiner unmittelbaren Nähe an der russischen Operationsbasis genommen werden.

Wer vielleicht von oben herab auf die russische Armee hätte niederblicken können, der möchte bedenklich den Kopf geschüttelt haben bei der großen Ausdehnung der Truppenaufstellungen, deren Entfernungen dem festen Zusammenhange des inneren Gefüges nicht so vollständig zu entsprechen schien, wie es die strenge militärische Vorsicht erfordert hätte. Aber in den russischen Lagern fanden solche Bedenken keinen Platz; der Übergang über die Donau war musterhaft vollzogen und konnte als ein militärisches Meisterstück gelten. Die Türken waren überall zurückgedrängt, ohne daß die Kämpfe große Opfer gefordert hatten, das ganze bulgarische Land, in welchem man stand, jubelte den Befreiern entgegen, welche nun endlich, wie jedermann überzeugt war, das verhaßte Joch für immer zerbrochen hatten. Alles war voll freudiger Siegeshoffnung, die jüngeren Offiziere sprachen mehr als je von dem militärischen Spaziergange nach Konstantinopel, und selbst die älteren, ruhigeren und besonneneren zweifelten kaum mehr, daß der ganze Feldzug sich schneller noch entscheiden werde, als man am Anfange desselben gehofft.

Man war bis zur Mitte des Juli gekommen. Der Kaiser Alexander, welcher bald nach dem Beginn des Feldzuges beschlossen hatte, das Schicksal seiner Armee zu teilen und deren Geist durch seine Anwesenheit in ihrer Mitte zu beleben, befand sich in dem kleinen rumänischen Städtchen Simnitza, wo er sein Hauptquartier in einem einfachen, inmitten eines großen Hofes gelegenen Hause aufgeschlagen hatte. Zu beiden Seiten dieses Hauses befanden sich Zelte für die Umgebung des Kaisers, in der Mitte derselben erhob sich ein größerer, zeltartiger Pavillon, welcher als Speisesaal diente. Das kleine, bisher so völlig unbeachtete und außerhalb der nächsten Umgebung kaum von irgend jemand gekannte Städtchen war nun plötzlich der Mittelpunkt geworden, um welchen sich der Regierungsmechanismus des unermeßlichen russischen Reiches drehte und in welchem sich die vielverschlungenen Fäden der europäischen Diplomatie konzentrierten. Aus der Dunkelheit, welche den Ort bisher umgeben, war er plötzlich zu der Bedeutung einer Weltstadt emporgestiegen, um demnächst, sobald der Kaiser ihn verlassen haben würde, wieder in seine frühere Bedeutungslosigkeit zurückzusinken und nur den Haltepunkt für die Erinnerungen einer bewegten Zeit zu bilden.

Am Morgen des fünfzehnten Juli herrschte früher noch als gewöhnlich ein bewegtes Leben im kaiserlichen Hauptquartier, denn der Kaiser hatte beschlossen, sich weiter vorwärts zu begeben, um immer ganz in der Nähe der vorrückenden Truppen zu sein. Die Zelte, welche neben dem vom Kaiser bewohnten Hause für die Unterbringung des Gefolges errichtet waren, wurden abgebrochen und auf Bagagewagen verpackt, um vorwärts nach dem kleinen Dorfe Zaritza gefahren zu werden, wo die nächste Rast gehalten werden sollte; nur der große Pavillon in der Mitte stand noch, und in demselben versammelten sich die Offiziere der Suite, vollkommen reisefertig, um ihren Morgentee zu nehmen. Alles trug den Stempel kampagnemäßiger Marschfertigkeit. Die Offiziere trugen Überrock und Mütze und standen in einzelnen Gruppen um das Frühstücksbüffett, auf welchem nur wenige Platten mit Gebäck und kalter Küche den mächtigen silbernen Samowar umgaben und neben welchem der unermüdliche Hoffourier Lebedjew bereits den Augenblick der Abreise erwartete, um sogleich die Verpackung vornehmen zu lassen.

Man sah hier eine große Anzahl von Generaladjutanten, Flügeladjutanten und Ordonnanzoffizieren, den Generalleutnant Fürsten Schachowskoi, welcher die aus einer kombinierten Gardekompagnie und einer Brigade des elften Korps bestehende Bedeckung kommandierte, ebenso den der Person des Kaisers von Rußland attachierten deutschen General à la suite von Werder und den österreichischen Militärattaché Major und Flügeladjutant von Bechtolsheim. Alle diese Herren standen teils in Gruppen beieinander, sich eifrig über die nächsten Wahrscheinlichkeiten des Krieges unterhaltend, teils waren sie beschäftigt, die Briefe durchzusehen, welche sie eben noch durch den von Petersburg angelangten Kurier erhalten hatten. Die frühe Sommersonne war eben über den Horizont heraufgestiegen und begann dennoch bereits glühende Strahlen zu schießen, welche einen außerordentlich heißen Tag in Aussicht stellten. Die Kosakenabteilung wartete vor dem Hoftor und daneben war schon die blaue Kalesche des Kaisers mit den beiden mächtigen, schwarzen Pferden und dem Kutscher im blauen Kaftan mit der Medaille auf der Brust angefahren, welche der Kaiser im Felde ebenso wie in Petersburg benutzte, wenn er nicht auf dem Marsche zu Pferde stieg. Von fern her erschallten ununterbrochen Kanonensalven, welche von dem belagerten Nikopolis herüberdröhnten, und zuweilen, wenn sie heftiger wurden, die lauschende Aufmerksamkeit der Offiziere in Anspruch nahmen, da keine Nachrichten von dorther gekommen waren und alle unruhig die Entscheidung über das Schicksal der von dem Baron Krüdener belagerten Donaufestung erwarteten.

Auf der einen Seite des Zeltes hatte sich eine heitere Gruppe um den Generaladjutanten Prinzen Emil von Sayn-Wittgenstein, gebildet, welcher durch seine vielseitige militärische wie literarische Bildung, durch seinen reichen Geist und seinen unverwüstlichen Humor eines der belebendsten Elemente des Hauptquartiers war.

»Hören Sie, meine Herren,« rief der Prinz, »die Türken sind in der Tat aufmerksam, sie salutieren Seiner Majestät in dem Augenblick, da er sich anschickt, ihre Grenze zu überschreiten; das ist artig und ich hätte so viel Bildung kaum von diesen Barbaren erwartet – nun, wir wollen an Höflichkeit nicht zurückstehen und recht bald den Salut erwidern, indem wir unter den Mauern von Konstantinopel den Padischah mit unseren Kanonen begrüßen.«

Die umstehenden Herren lachten laut über diese zuversichtliche Bemerkung des Prinzen, und in demselben heiteren Tone wurde die Unterhaltung weitergeführt.

In einiger Entfernung stand der Kriegsminister Miljutin, der Kommandant des Hauptquartiers Generaladjutant Rylejew, der Kommandant des kaiserlichen Feldtelegraphendienstes General Schtscholkow und der Minister des kaiserlichen Hauses Graf Adlerberg beieinander. Diese Herren lauschten ebenfalls aufmerksam dem fernen Kanonendonner, aber ihre Mienen zeigten nicht dieselbe Heiterkeit, welche die Gruppe um den Prinzen Wittgenstein belebte; ernst schüttelte der General Rylejew den Kopf und sagte mit gedämpfter Stimme:

»Mir gefällt diese immer stärker herüberklingende Kanonade nicht, sie beweist jedenfalls, daß Nikopolis noch nicht genommen ist, und wir haben keine zuverlässigen Nachrichten, wie es noch hinterwärts nach Widdin hin steht und was dort vorgeht. Die Verlegung des Hauptquartiers und der Marsch mit der kleinen Bedeckung durch feindliches Land zwischen weit auseinander stehenden Korps hin ist fast tollkühn; ich schaudere, daran zu denken, was geschehen könnte, wenn ein feindlicher Vorstoß von rechts her auf den kaiserlichen Zug träfe. Wir sollten unter allen Umständen hier warten, bis vor Nikopolis wenigstens eine Entscheidung erreicht ist.«

»Sie haben recht,« sagte der Kriegsminister, »wir müßten in der Tat Seine Majestät noch einmal darauf aufmerksam machen, welchen Gefahren er sich durch diesen unsicheren Vormarsch aussetzt.«

»Es ist unnütz,« sagte Graf Adlerberg achselzuckend, »der Kaiser weiß das alles, aber er hat seinen ganz bestimmten Befehl gegeben, da er es für seine Pflicht hält, sich nicht von der vormarschierenden Armee zu trennen. Wir werden seinen Willen nicht ändern, und er wird den Befehl jetzt, da alles zum Aufbruch bereit, nicht zurücknehmen. Sie kennen den Herrn wie ich und wissen, daß er nie etwas tun wird, was auch nur entfernt wie ängstliche Sorge für die eigene Sicherheit gedeutet werden könnte. Lassen wir es also dabei und verdoppeln wir nur all unsere Aufmerksamkeit, um jede Gefahr sogleich zu erkennen und nachdrücklich abzuwenden.«

Während die Herren in leisem Gespräch die erforderlichen Sicherheitsmaßregeln weiter erörterten und während der Prinz Wittgenstein zur höchsten Erheiterung seiner Umgebung die Organisation der künftigen Zivil- und Militärverwaltung von Konstantinopel besprach, war der Leutnant Blagonow vor das Zelt hinausgetreten, um einige Briefe, die er eben empfangen, durchzulesen. Freudig verklärte sich sein Gesicht, als er einen Brief Marphas öffnete, aber finstere Schatten bedeckten seine Stirn, während er weiter und weiter las, und in tiefe Gedanken versunken blieb er stehen, ohne das zweite Kuvert zu öffnen, welches die große und etwas ungeschickte Handschrift des Fürsten Nikascha zeigte.

Graf Wladimir trat zu ihm heran und legte die Hand auf seine Schulter.

»Nun, Feodor Michaelowitsch,« rief der junge Offizier mit heiter strahlenden Blicken, »was hast du, warum so trübe? Macht dir deine Frau das Herz schwer – singt sie dir Klagelieder über die Trennung? Das ist nicht recht, das muß eine gute Soldatenfrau nicht tun, wir bedürfen hier des Mutes und der Heiterkeit, um würdig dem Beispiel zu folgen, das der kaiserliche Herr uns und allen seinen Soldaten gibt, und wenn wir uns das Herz schwer machen lassen, so taugen wir nicht mehr zum Dienst! – Sieh, da ist meine Marica anders, die Tochter der schwarzen Berge ist im Kriege und Kampfe aufgewachsen, sie mag wohl auch traurig die Einsamkeit empfinden, das arme Kind, aber sie schreibt mir heiter und fröhlich, denn sie weiß, daß man den Soldaten, der dem Feind entgegenzieht, nicht traurig machen darf – sie trägt mir Grüße an ihren Vater auf,« sagte er, heiter lachend, »meine gute, kleine Frau hat sich mit dem Studium der Geographie nicht befaßt und glaubt wohl, daß wir schon mit den Montenegrinern zusammen auf dem Marsch gegen Konstantinopel sind, während wir doch hier eben erst den Fuß aufheben, um das feindliche Gebiet zu betreten, und während,« fügte er ernster mit einem leichten Seufzer hinzu, noch der ganze Balkan mit seinen Felsen und seinen Abgründen zwischen uns und dem Entscheidungskampfe liegt.«

Blagonow schlug düsteren Blickes die Augen zu ihm auf, sah ihn einen Augenblick nachdenklich fragend und forschend an.

»Nein, Wladimir Ossipowitsch,« sagte er dann, »meine Marpha ist eine ebenso gute Soldatenfrau wie deine Marica; sie klagt nicht über die Trennung und ist stolz darauf, daß ich in dem großen Kampfe des Vaterlandes an so ehrenvollem Platze stehe. Es ist etwas anderes,« fuhr er zögernd und unschlüssig fort, »das mir Sorge macht und ernste Gedanken in mir weckt.«

»Nun,« fragte Wladimir, betroffen über den ernsten, traurigen Ton seines Freundes, »und was ist das? Was könnte einem kaiserlichen Ordonnanzoffizier, dem jungen Ehemann einer schönen Frau und dem Schwiegersohn des so reichen und freigebigen Fürsten Nikascha, den Humor verderben?«

Blagonow blieb ernst. Er sah Wladimir noch einmal forschend und unschlüssig zögernd an, dann trat er ganz nahe zu ihm und fragte mit gedämpfter Stimme:

»Was denkst du von Sacharin, dem Sekretär des Fürsten? Hast du Vertrauen zu ihm?«

»Ich habe niemals gezweifelt,« erwiderte Wladimir verwundert, »daß das Vertrauen des Fürsten zu seinem Faktotum vollkommen gerechtfertigt sei. Ich kann eben nicht sagen,« fuhr er fort, »daß dieser Sacharin mit seiner ewig unveränderten, finsteren Miene und seinem undurchdringlichen Blick mir besonders sympathisch sei; doch ist er bescheiden und dienstbereit, und was die Hauptsache ist, die Angelegenheiten des Fürsten befinden sich in der vortrefflichsten Ordnung; trotz seines großartigen Lebens sind seine Kassen stets gefüllt, und das ist doch wohl ohne Zweifel das Verdienst des Herrn Sacharin, denn unser gutes Väterchen Nikascha versteht sich ja kaum auf die Verwaltung seiner Finanzen, auch hat dieser Sacharin alle Einrichtungen zur Verbesserung meiner Güter, bei welcher mir der Fürst so großmütig geholfen, mit großer Umsicht und Zuverlässigkeit getroffen.«

»Es ist nicht das,« sagte Blagonow, »wovon ich sprechen wollte, obwohl ich gestehen muß, daß ich auch in dieser Beziehung nicht ganz frei von Zweifeln bin; für einen geschickten Verwalter lassen sich bei dem großen Reichtum des Fürsten manche Manipulationen machen, ohne daß der Fürst etwas entbehrt oder etwas davon bemerkt, und um so sicherer, je größer die Ordnung in der Verwaltung ist – doch das wäre ja vielleicht gleichgültig,« sagte er, indem er sinnend vor sich niederblickte, als ob er Gedanken verfolge, die er auszusprechen sich scheue, – »mir ist es indessen immer vorgekommen, als ob jenen Sacharin etwas Geheimnisvolles, Unheimliches umgebe, als ob er wie ein finsterer Geist mitten in dem so hellen, heiteren und klar durchsichtigen Leben des Fürsten stehe, und was meine Frau mir schreibt –« Er stockte und blickte scheu umher.

»Nun,« fragte Wladimir aufmerksamer, »was ist es, was bewegt dich so?«

Blagonow neigte sich zu Wladimirs Ohr und sagte in flüsterndem Ton:

»Marpha hat, wie sie mir mitteilt, die Bemerkung gemacht, daß sie Briefe von mir um einen Tag später als andere Damen erhalten habe, denen ebenfalls der kaiserliche Kurier aus dem Hauptquartier Briefe mitgebracht. Durch einen Zufall«, fuhr er nach einem abermaligen kurzen Zögern fort, »hat sie dann später in einem Falle entdeckt, daß einer meiner Briefe, welcher, wie alles, was in dem Hause des Fürsten ankommt, von Herrn Sacharin in Empfang genommen wurde, fast einen Tag lang in dessen Händen geblieben ist, und dann hat ihr scheinen wollen, als ob das Kuvert, das nicht mit einem Siegel verschlossen war, leichte Spuren einer Eröffnung gezeigt habe. Sie macht mich darauf aufmerksam und bittet mich, den Kurier zu veranlassen, daß er ihr meine Briefe künftig persönlich gebe, oder ein zuverlässiges Merkzeichen zu ersinnen, um eine Verletzung der Briefe erkennen zu können.«

Wladimir war einen Augenblick ernst geworden, doch aber schüttelte er mit ungläubigem Lächeln den Kopf und sagte:

»Ich glaube, das hat kaum etwas zu bedeuten; wenn sich die Übergabe der Briefe wirklich verspätet hat, so hat das vielleicht darin seinen Grund, daß der Sekretär, ein trockener Geschäftsmann, die geschäftliche Korrespondenz zuerst erledigte. Welches Interesse sollte er an deinen Briefen haben – dieser Herr Sacharin sieht mir sehr wenig so aus, als ob eine kindische Neugier ihn plage.«

»Neugier!« sagte Blagonow; dann faßte er Wladimirs Hand und flüsterte: »Du erinnerst dich, Wladimir Ossipowitsch, daß der General Rylejew uns alle mehrfach aufgefordert, in unseren Korrespondenzen sehr vorsichtig zu sein und dieselben niemals mit der Feldpost, sondern immer mit dem kaiserlichen Kurier abzusenden, da die Polizei in Erfahrung gebracht habe, daß man in bedenklichen – sehr bedenklichen Kreisen außerordentlich genau über alle Vorgänge im kaiserlichen Hauptquartier bis in die kleinsten Einzelheiten unterrichtet sei.«

»Unmöglich,« rief Wladimir, »du glaubst –«

»Ich glaube nichts,« erwiderte Blagonow, »aber so viel ist gewiß, daß die Sache ernst – sehr ernst ist, und wunderbare Gedanken sind bei Marphas Mitteilung mir durch den Kopf gegangen, wenn ich mich des starren Gesichtes und der unheimlichen Blicke dieses Sacharin erinnerte.«

Wladimir schüttelte immer noch den Kopf, wenn auch seine Miene ernster als vorher geworden.

»Nun,« sagte er, »ich kann es immer nicht glauben, daß dieser Sacharin, ein Mann der strengen Ordnung, der vielleicht daran denken könnte, für den Vorteil seiner eigenen Tasche zu arbeiten, mit gefährlichen und bedenklichen Kreisen in Verbindung stehen sollte – aber immerhin hast du recht, schon der Gedanke eines solchen Verdachtes erfordert ernste Aufmerksamkeit, denn wir alle hier tragen eine schwere Verantwortung. Höre meinen Rat,« sagte er nach einem augenblicklichen Nachsinnen, »sage niemand etwas von deinen Gedanken.«

»Um Gottes willen,« rief Blagonow schaudernd, »wie könntest du glauben?«

»Und dann,« fuhr Wladimir fort, »wenn du den Kurier beauftragen würdest, deine Briefe persönlich an Marpha zu geben, so würde das auffallen, zu Erörterungen führen, und wir würden nichts entdecken, wenn wirklich etwas zu entdecken ist. Sage es mir, wenn du wieder einen Brief geschrieben hast, ich will dir ein untrügliches Mittel zeigen, um uns zu vergewissern, ob der Brief verletzt worden; schreibe gleichgültige Sachen hinein, die jeder lesen kann, und wenn der Verdacht sich dann wirklich bestätigen sollte, so wird es Zeit sein, zu überlegen, was weiter zu tun ist. Ich habe einige Praxis darin,« sagte er lächelnd, »aus früheren Zeiten her, da mir auch zuweilen daran lag, meine Korrespondenz, die freilich keine politische war, vor jeder Spionage zu sichern.«

Bevor Blagonow antworten konnte, hörte man das Waffenklirren der präsentierenden Wachen, die Kosaken der Begleitung schlossen ihre Glieder, die Gruppen der Offiziere im Zelt lösten sich, alles eilte auf den Hof, denn der Kaiser war aus dem Hause getreten. Er trug Überrock und Schärpe, sein Gesicht war ruhig und heiter; mit freundlicher Handbewegung erwiderte er den militärischen Gruß der Herren von seiner Suite. Hinter ihm folgten der Großfürst Alexis Alexandrowitsch, ein junger, schlanker und schöner Prinz von siebenundzwanzig Jahren, welcher als Konteradmiral die auf der Donau befindlichen Flottenabteilungen befehligte, und der Großfürst Sergei Alexandrowitsch, zwanzig Jahre alt, mit heiter lächelnden, noch fast kindlichen Zügen, in der Uniform des Gardeschützenbataillons.

Der Kaiser drückte dem preußischen General von Werder herzlich die Hand, wechselte einige flüchtige Worte mit den Generalen, wobei es fast schien, als wolle er jedes eingehende Gespräch vermeiden, und winkte dann seinen Wagen, der auf der Stelle vorfuhr. Der Großfürst Alexis nahm neben seinem kaiserlichen Vater Platz, die übrigen Herren des Gefolges stiegen zu Pferde, und langsam bewegte sich der kaiserliche Zug durch die Straßen von Simnitza.

Die kleine Stadt war dicht mit Menschen gefüllt. Mehr als sechzig Viererzüge zogen die Kutschen, Fourgons, Telegen und Britschken des kaiserlichen Hauptquartiers, denen eine ungeheure Menge von Reitpferden folgte, und zwischen diesem dichten, von Bedeckungsmannschaften umgebenen Zuge drängte sich die Bevölkerung durch, um den Kaiser mit lauten Hurrarufen zu begrüßen. Vor der Stadt senkte sich ein breiter Abhang zu dem sandigen Ufer der Donau hinab. Hier waren bis zum Wasser des Flusses hin eine Menge Zelte und Buden aufgeschlagen, in welchen den Truppen alle erdenklichen Waren und Lebensmittel verkauft wurden. Es war ein unendlich malerisches Bild, das sich hier vor den Blicken des Kaisers und seines Gefolges öffnete. Die ziemlich weit ausgedehnte und unregelmäßig gebaute Stadt lag zwischen Gärten und Baumgruppen, aus denen sich hohe Minarette und Kirchenkuppeln erhoben; das ganze, dieselbe umgebende Feld glich einem festlichen Jahrmarkt, heller Sonnenschein lag auf der Stadt, dem Flusse und der weiten Ebene. Die Pontonbrücke über die Donau lehnte sich an zwei in dem Flusse befindliche Inseln und bildete auf diese Weise drei verschiedene Abteilungen.

Am Ufer wirbelten dichte Staubwolken empor, welche den Marsch der vorrückenden Regimenter anzeigten – das ganze leuchtende, heiter belebte Bild hätte eher einem militärischen Feste als dem Einmarsch in das Gebiet eines furchtbaren Feindes gleichen können, wenn nicht von fern her unausgesetzt die Kanonensalven des Kampfes bei Nikopolis herübergeklungen wären.

Als der Zug an die Pontonbrücke gekommen war, überall mit jubelnden Rufen von den am Wege sich zusammendrängenden Menschenmassen begrüßt, trat der Generalmajor Richter, der Kommandant des Donautrajekts, an den Wagen, um sich zu melden und den Kaiser persönlich über die Brücke zu geleiten.

Der Kaiser sagte dem verdienten General, welcher bereits bei dem Beginn des Donauüberganges sich den Georgsorden, diese hohe militärische Auszeichnung der russischen Armee, erworben, einige freundliche Worte und verließ dann seinen Wagen.

»Es ist keine Gefahr auf der Brücke, Majestät,« sagte der General, »wenn nicht etwa die Pferde vor dem Wasser scheuen –«

Der Kaiser schüttelte lächelnd den Kopf.

»Sie wissen, mein lieber General,« sagte er, »daß nach der militärischen Vorschrift jede Brücke zu Fuß passiert werden muß – diese Vorschrift gilt für mich wie für jeden anderen, und ich würde meiner Armee ein schlechtes Beispiel geben, wenn ich im Wagen die Brücke passierte.«

Der Großfürst Sergei und das ganze übrige Gefolge waren sofort von den Pferden gesprungen, als der Kaiser den Wagen verließ, und der ganze Zug begab sich zu Fuß nach der Brücke hin; der Wagen des Kaisers und die von den Reitknechten geführten Pferde folgten in einiger Entfernung.

Als man die Brücke bis zur ersten Insel überschritten hatte, sagte der General Richter:

»Bevor Eure Majestät weitergehen, möchte ich mir untertänigst erlauben, Allerhöchstdieselben darauf aufmerksam zu machen, daß ich seit heute früh in südwestlicher Richtung türkische Truppenmärsche bemerkt habe, welche sich in der Gegend des Wid nach der Donau hin bewegen. Die Stärke der im Marsch befindlichen Truppen ist nicht genau festzustellen, doch müssen es nach der Ausdehnung der Staubwolken und der blinkenden Streifen, welche die Gewehre bilden, mehrere Regimenter sein. Von diesem Punkt aus können Eure Majestät die Truppenbewegung deutlich sehen, wenn Sie nach jeder Richtung hinzublicken die Gnade haben wollen.«

Der Kaiser blieb stehen und blickte gespannt nach der von dem General angegebenen Richtung hin. Man sah in der Tat an einer Stelle, an welcher die nach dem Donauufer hin abfallenden Höhenzüge einen freien Durchblick gestatteten, in weiter Ferne jene eigentümlichen, schlangengleichen weißen Linien, welche von den Staubwolken marschierender Regimenter gebildet werden und zwischen denen, wie die einzelnen Glieder eines Schuppenpanzers, die in der Sonne blinkenden Waffen hervorschimmern.

»In der Tat,« sagte der Kaiser, »es sind marschierende Truppen! Sind Sie gewiß, daß es Türken sind?«

Er nahm sein Glas und blickte aufmerksam nach der Richtung hin. Alle Herren des Gefolges beobachteten ebenfalls die Erscheinung, auf welche der General Richter aufmerksam gemacht hatte.

»Es ist kein Zweifel, Majestät,« sagte dieser, »daß es Türken sind, kein russisches Korps kann bis zu jener Gegend vorgedrungen sein.«

»Sie haben recht,« sagte der Kaiser, indem er das Glas von seinem Auge herabsinken ließ, »und was kann das bedeuten?«

»Es ist gar kein Zweifel, Majestät,« erwiderte der General, »daß das, was wir dort sehen, Truppen von den bei Widdin stehenden türkischen Korps sind, welche zum Entsatz von Nikopolis heranmarschieren.«

Des Kaisers Miene drückte Besorgnis aus.

»Hoffentlich kommen sie zu spät,« sagte er, »die Kanonade wird immer stärker, Krüdener wird hoffentlich Nikopolis bald nehmen.«

»Ich hoffe es zu Gott, Majestät«, erwiderte der General Richter. »Aber jene marschierenden Kolonnen dort sind unter allen Umständen eine ernste Gefahr; wenn sie stark genug sind, um, unterstützt von einem Ausfall der Besatzung von Nikopolis, den General Krüdener zurückzuwerfen, so wird eine türkische Macht von beträchtlicher Stärke unmittelbar hierher vordringen und jedenfalls versuchen, die Brücken hier zu zerstören; dem General Krüdener würde daraus kein Vorwurf zu machen sein, denn einer Übermacht gegenüber würde er sich unter den Mauern der Festung unmöglich halten können. Ein Vorgehen Eurer Majestät halte ich unter diesen Umständen aber für äußerst gefährlich, und wenn ich Eurer Majestät einen untertänigsten Rat geben dürfte, so wäre es der, die Entscheidung der Vorgänge vor Nikopolis hier zu erwarten.«

Unmutig faltete der Kaiser die Stirn, fragend blickte er auf den hinter ihm stehenden Kriegsminister Miljutin, welcher, schnell vortretend, die Meinung des Generals auf das entschiedenste unterstützte; dasselbe tat der General Rylejew und der Graf Adlerberg. Der Kaiser hörte sie ruhig an – dann aber schüttelte er mit ernster Hoheit den Kopf und sagte:

»Nein, ich bin im Dienst des Vaterlandes wie jeder andere Soldat, nur daß meine Pflicht noch höher und heiliger ist als diejenige jedes anderen – meine Pflicht aber ist, bei meiner Armee zu sein, und ich werde ihr folgen. Ich glaube an die russischen Waffen, ich hoffe, daß Krüdener Nikopolis wird genommen haben, bevor jene Truppen dort herankommen, und wenn nicht, so wird meine Bedeckung zu meinem Schutz hinreichen, bis ich die Armee des Cäsarewitsch erreicht habe.«

»Ich habe meine untertänigste Meinung gesagt«, erwiderte der General Richter fast traurig. »Eure Majestät sind der Herr und haben zu befehlen. Aber ich möchte mir noch die Bemerkung erlauben, daß jene türkischen Truppen, welche Eure Majestät dort sehen, nicht minder gefährlich werden können, wenn sie zum Entsatz von Nikopolis zu spät kommen; sie würden dann gezwungen werden, sich südwärts zu wenden und in den fast unzugänglichen Positionen der Umgebung der Stadt Plewna festen Fuß fassen.«

»Der General hat recht,« sagte der Kriegsminister Miljutin, welcher fortwährend durch sein Glas in die Ferne geblickt hatte, »ganz recht, es darf um keinen Preis geschehen, daß in jener Gegend starke feindliche Korps sich festsetzen.«

»Gut denn,« sagte der Kaiser, »vor allem werden wir den Fluß überschreiten und unseren Marsch antreten. Senden Sie dann sogleich den Befehl in das Hauptquartier meines Bruders voraus, daß die von dem General bezeichneten Positionen besetzt und dem Feinde verschlossen werden, wenn dies nicht schon geschehen sein sollte.

Plewna – Plewna,« fügte er, gedankenvoll vor sich niederblickend, hinzu, »ich erinnere mich, Nepokoitschinsti nannte diesen Namen, als er seinen Feldzugsplan entwickelte; auch er bezeichnete jene Position als hochwichtig – ja, ja,« sagte er dann, wie erleichtert aufatmend, »ich erinnere mich jetzt genau, man wird also ohne Zweifel beim Armeekommando Vorkehrungen getroffen haben, daß jene Stellungen nicht in die Hände des Feindes fallen können. Ich danke Ihnen«, sagte er freundlich zum General Richter, »für Ihre Mitteilung und Ihre Warnung; Sie haben von neuem bewiesen, wie würdig Sie meines Vertrauens sind.«

Mit einer Miene, welche zeigte, daß er das Gespräch für beendet ansehe, schritt er über die Brücke weiter. Bedenklich miteinander flüsternd, folgten ihm zunächst der Kriegsminister und der General Rylejew, denen sich das übrige Gefolge anschloß.

Am anderen Ufer angelangt, ließ der Kaiser sein Pferd, einen herrlichen Grauschimmel, vorführen. Er verabschiedete sich von dem Großfürsten Alexis, welcher durch sein Kommando an der Donau zurückgehalten wurde, und ritt dann an der Spitze des Gefolges, das fast einer Kavallerieeskadron glich, langsam auf dem südwärts nach Tirnowa hinführenden Wege vorwärts. Der Weg war sandig und hügelig, nur Weingärten lagen an seiner Seite, und die heißen Strahlen der Sonne fielen glühend auf den kaiserlichen Zug herab. Der Kriegsminister hatte unmittelbar vom Donauufer einen Offizier des dort haltenden Tschugojewskischen Ulanenregiments nach dem Hauptquartier gesendet, um den Befehl wegen der Positionen bei Plewna, auf welche der General Richter aufmerksam gemacht hatte, dorthin zu bringen.

Der Kaiser war trotz der Hitze und des Staubes heiter und rief bald den einen, bald den anderen der Herren des Gefolges an seine Seite, um sich mit denselben zu unterhalten. Auch die jüngeren Offiziere plauderten fröhlich und sorglos miteinander, nur die älteren Generale lauschten zuweilen unruhig auf den immer noch aus der Ferne herüberdröhnenden Kanonendonner und blickten sorgenvoll nach der Richtung hin, in welcher man vorher den Marsch der türkischen Truppen bemerkt hatte.

Am Nachmittag erreichte man das Dorf Zaritza, einen kleinen, aber freundlichen Ort mit reinlichen Bauernhäusern und frischen, wohlgepflegten Gärten. Der Kaiser befahl, hier zu halten und bis zum nächsten Morgen zu rasten, obwohl nur ein Teil der Fourgons hierhergelangt war. Trotz der Aussicht auf ein ziemlich primitives Nachtquartier begrüßte das ganze Gefolge, von der Hitze erschöpft, diesen Befehl mit großer Freude. Der General Rylejew hatte eine kleine, in einem Tale liegende Wiese für das kaiserliche Lager ausgewählt. Zwei einfache, miteinander verbundene Zelte wurden hier aufgeschlagen, in deren einem das eiserne Bett des Kaisers und zwei mit grünem Tuch bedeckte Tische aufgestellt wurden, deren einer die Schreibmaterialien, der andere die Toilettengegenstände trug. In dem Nebenzelte schlief der Kammerdiener vom Dienst, während dasselbe zugleich die Koffer mit der Garderobe und eine Badewanne enthielt. Dies war das kaiserliche Biwaksquartier; die übrigen Herren mußten in den Häusern des Dorfes oder in flüchtig aufgeschlagenen Zelten die Nacht zubringen. Gegen Abend wurde die Tafel, welche selbst unter den schwierigsten Verhältnissen Herr Bavasseur, der maître d'hôtel des kaiserlichen Hauptquartiers, wenn auch in der befohlenen Einfachheit, so doch tadellos herzustellen verstand, im Freien auf schnell aufgeschlagenen hölzernen Tischen serviert. Es durften auf Befehl des Kaisers nur drei Gänge serviert werden, und nichts erinnerte hier an die Anwesenheit des mächtigen Selbstherrschers als das ganz silberne Tafelgeschirr, von welchem man speiste, und die Musik der Kapelle des Preobraschenskischen Regiments, welches zur kombinierten Gardekompagnie kommandiert war und regelmäßig bei der Tafel spielte.

Der Kaiser, welcher sich eine Zeitlang in sein Zelt zurückgezogen hatte, nahm in der Mitte der Tafel Platz, ihm gegenüber der Generaladjutant Wojeikow, welcher als Hofmarschall fungierte; zur Rechten des Kaisers saß der Großfürst Sergei, zu seiner Linken der Kriegsminister; Graf Adlerberg und General Rylejew nahmen die Plätze zur Seite des Hofmarschalls ein, die übrigen Herren setzten sich meist zwanglos nebeneinander, ohne die strenge Rangfolge peinlich zu beachten.

Der Kaiser schien besonders heiter zu sein, er lachte herzlich über die Scherze des Prinzen Wittgenstein, doch schien es, als ob eine gewisse Ungeduld ihn beherrsche und als ob er den Gang des Diners zu beschleunigen wünsche. Gegen den Schluß der Tafel wurde, was sonst im Biwak nicht zu geschehen pflegte, zur Verwunderung der ganzen Gesellschaft Champagner serviert. Kaum war des Kaisers großer silberner Pokal, aus welchem er gewöhnlich zu trinken pflegte, gefüllt, als er schnell aufstand und mit blitzenden Augen, während sein Gesicht vor innerer, freudiger Erregung zuckte, laut rief:

»Ich trinke auf das Wohl der Tapferen, welche zuerst den Balkan überschritten haben. Hurra!«

Die Kapelle des Preobraschenskischen Regiments fiel mit einem lauten Tusch ein, jubelnd nahmen alle Anwesenden den Hurraruf ihres kaiserlichen Kriegsherrn auf; aber während die lauten, freudigen Klänge zum Abendhimmel emporstiegen, sahen sich alle verwundert an, denn keiner vermochte den Trinkspruch des Kaisers zu begreifen, da man ja eben erst Bulgariens Herr geworden war und der Übergang über den Balkan, als der zweite, wichtigste Teil des Feldzuges, noch bevorstand. Der Kaiser weidete sich einen Augenblick an dem allgemeinen Erstaunen, dann winkte er mit der Hand; eine tiefe Stille trat ein. Der Kaiser zog ein Telegramm aus seiner Uniform und las mit lauter, klarer, von innerer Bewegung leicht zitternder Stimme:

»An Seine Majestät den Kaiser.

Ich habe das Glück, Eure Majestät zu dem ersten von Ihren Truppen ausgeführten Balkanübergang beglückwünschen zu dürfen. Der Übergang vollzog sich am 13. Juni fünf Uhr abends, ohne daß dabei ein Schuß fiel.

Gestern am 14., um zwei Uhr, eroberte General Gurko Chankioi; die aus dreihundert Mann Nizams bestehende Besatzung wurde überrascht und in die Flucht gejagt. Der Feind wich östlich nach dem Dorfe Conaro.

Bei uns tot ein Kosak, verwundet ein Schütze, ein kaukasischer Schütze und drei Kosaken. Nikolai.

Hatte ich recht,« rief der Kaiser, indem das Telegramm in seiner Hand zitterte, »auf das Wohl der Braven zu trinken, die den Balkan überschritten?«

Noch einmal brauste der Hurraruf noch lauter, noch gewaltiger als vorher empor.

»Der Feldzug ist beendet,« rief der Prinz Wittgenstein, »was nun folgt, ist ein Spaziergang durch die schönen Rosentäler bis nach Konstantinopel.«

Der General von Werder sprach dem Kaiser mit warmer Herzlichkeit seinen Glückwunsch aus, etwas zurückhaltender und förmlicher schloß sich der Major von Bechtolsheim an, und während noch lauter, als es sonst die Anwesenheit des Kaisers erlaubt hätte, die Unterhaltung hin und her wogte, hörte plötzlich die Kanonade, welche den ganzen Tag über gedauert hatte, auf. Auf die Kanonenschüsse hatte man nicht mehr geachtet, das plötzliche Verstummen derselben aber erregte die allgemeine Aufmerksamkeit.

»Nikopolis hat kapituliert!« rief der Prinz Wittgenstein, »die Kanonen schweigen.«

»Wir wollen es hoffen!« sagte General Rylejew ernst, fast düster.

Der Kaiser faltete schweigend die Hände und richtete einen Augenblick die Augen aufwärts. Niemand wagte diesem Schweigen gegenüber eine weitere laute Bemerkung, aber in leisem Flüstern teilte man sich um so eifriger seine Vermutungen über den Grund dieses plötzlichen Aufhörens der Kanonade mit; diejenigen, welche Befürchtungen hegten, schwiegen, während die Optimisten um so zuversichtlicher den Fall von Nikopolis aussprachen. Bald aber schien der Kaiser seine Heiterkeit wiederzufinden. Er zog ein Zigarettenetui hervor – die ganze Gesellschaft folgte seinem Beispiel, jeder legte die Hand an das offene Etui und sah erwartungsvoll den Kaiser an, der mit fast schalkhaftem Augenblinzeln umherblickte, ob auch jede Hand gleichmäßig an die Etuis gelegt sei. Dann kommandierte er mit militärischem Ton: »Faßt Patron!« – Die ganze Gesellschaft wiederholte mit schlagender Präzision einstimmig die zweite Silbe des Wortes Patron; darauf zog ein jeder wie mit einem gleichmäßigen Schlage seine Zigarette aus dem Etui hervor, um sie an den von den Lakaien präsentierten Kerzen anzuzünden. Es war dies ein an der Tafel des kaiserlichen Hauptquartiers hergebrachter Scherz, welchen der Kaiser nie vergaß und bei welchem ihn jedesmal die militärische Genauigkeit des Exerzitiums seiner Suite von neuem erheiterte.

Noch eine Zeitlang bewegte sich die Unterhaltung zwanglos und heiter fort, dann entließ der Kaiser frühzeitig die Gesellschaft, da man am anderen Tage früh aufbrechen sollte, um in den kühlen Morgenstunden den Marsch fortzusetzen.

Auch die Herren des Gefolges bedurften der Ruhe und zogen sich bald in ihre Quartiere zurück.

Graf Wladimir, der noch mit einigen der jüngeren Herren eine Zigarre im Freien unter dem sommerlichen Sternenhimmel geraucht hatte, fand in seinem Quartier, im kleinen Zimmer eines Bauernhofes, Blagonow bereits vor, welcher an dem gebrechlichen Tische beim matten Schein einer Kerze einen Brief geschrieben hatte.

»Hier,« sagte er, seinem Freunde entgegentretend, »mein Brief ist fertig, du wolltest mir ein Mittel geben, jede Eröffnung desselben mit Sicherheit zu erkennen.«

»Gib her,« sagte Wladimir, »mein Mittel ist untrüglich, doch ich bedarf dazu eines Haares; deine Locken sind ja fast dienstwidrig lang, opfere mir eines deiner Haare.«

Blagonow zog vorsichtig ein Haar von seiner Schläfe aus, Wladimir nahm dasselbe, durchlöcherte den Brief an zwei Stellen fast unmerklich, zog dann das Haar durch die feinen Öffnungen und befestigte die beiden Enden desselben mit einem ganz kleinen Tropfen Siegellack in einer Ecke des Kuverts.

»Nun verschließe den Brief«, sagte er zu Blagonow,, der aufmerksam seinen Manipulationen gefolgt war. »Wer den Brief aufmacht, ohne unsere Vorsichtsmaßregel zu kennen, wird ohne Zweifel das Haar zerreißen, und selbst wenn er dasselbe bemerken sollte, seine Anwesenheit in dem Papier einem Zufall zuschreiben. Gib diesen Brief nun morgen dem abgehenden Kurier ohne jede weitere Empfehlung mit, später wirst du dann auf einem ganz zuverlässigen Wege Marpha fragen, ob sie das Haar in dem Brief bemerkt hat; auf diese Weise werden wir dann einen Schritt weiterkommen, um der Spur deines Verdachtes, wenn er begründet sein sollte, zu folgen. Jetzt aber laß uns schlafen.«

Blagonow verschloß seufzend den Brief und sagte mit ungläubigem Kopfschütteln:

»Dein Mittel scheint mir doch nicht vollkommen sicher, indes versuchen wir es immerhin.«

»Wir haben den Balkan,« rief Wladimir, indem er sich entkleidete, »es ist fast nicht zu glauben, die Glücksgöttin scheint vor unseren Armeen herzufliegen – und es ist nur der eine Schmerz, daß man nicht dabei sein kann, wo so viel Ruhm und Ehre gewonnen wird.«

»Ruhm und Ehre!« sagte Blagonow seufzend, indem er den vor ihm liegenden Brief betrachtete, »und was würden unsere Frauen sagen, wenn wir den Ruhm und die Ehre mit unserem Leben bezahlten?«

»Sie würden weinen«, rief Wladimir, »und dennoch auf uns stolz sein.«

»Und weißt du,« sagte Blagonow düster, »daß ich einen Gedanken nicht los werden kann: wenn ich den Kaiser so sehe, wie er in seinem leichten Zelt schläft, oder wie er auf der freien Straße dahinreitet, jedem Schuß, jedem Dolchstoß, jeder explodierenden Bombe erreichbar, so durchrieselt mich oft ein kalter Schauer, wenn ich mir denke, was geschehen könnte und was dann werden sollte.«

Wladimir sah ihn groß an.

»Du bist wahnsinnig, Feodor Michaelowitsch, dich mit solchen Gedanken zu quälen! Hier, in der Mitte seiner Armee, in unserer aller Mitte, welche Gefahr sollte dem Herrn drohen?«

Blagonow antwortete nicht, aber der finstere, trübe Ausdruck blieb auf seinem Gesicht haften, während er sich entkleidete und auf das einfache Lager von wollenen Decken ausstreckte, das auf dem Boden des Zimmers bereitet war, und als Wladimirs tiefe und ruhige Atemzüge schon längst den gesunden, kräftigen Schlaf der Jugend anzeigten, warf er sich noch unruhig und zuweilen tief seufzend hin und her.


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