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4. Kapitel

Als die beiden russischen Diplomaten das Kabinett des englischen Premier verlassen hatten, nahm Lord Beaconsfields Gesicht statt der gleichgültig kühlen Höflichkeit, die er bis jetzt festgehalten, einen kühnen und stolzen, fast drohenden Ausdruck an.

»Sie wollen mich überlisten,« sagte er höhnisch, »sie möchten für die russische Aktion, die bei ihnen beschlossen und in die sie auch den zögernden Kaiser Alexander durch die immer höher aufschäumende öffentliche Meinung hineinziehen werden, ein europäisches Mandat oder wenigstens den Schein eines solchen erlangen, sie möchten Rußland die Rolle einer Exekutivmacht der europäischen Zivilisation gegen die Türkei verschaffen und glauben dann hinterher nach Belieben schalten und nehmen zu dürfen, was ihnen gefällt, immer unter der Maske der Wächter über die europäischen Völker- und Menschenrechte – oder vielleicht den bedrängten Gegner durch milde Bedingungen zum Vasallen Rußlands unter dem Scheine eines Freundschaftsbündnisses zu machen. Aber sie täuschen sich, der Sieg, den sie errungen zu haben glauben, wird ihnen später teuer zu stehen kommen; diesem russischen Bären gegenüber müssen wir eine Zeitlang zu der List des Fuchses unsere Zuflucht nehmen, es wird die Zeit kommen, in welcher der Leopard seine Krallen zeigt, und für alle Fälle müssen wir uns darauf vorbereiten, um festen Boden für den Ansatz zum kühnen Sprunge zu gewinnen.«

Er öffnete eine Mappe und breitete auf einem mit grünem Tuch überzogenen Tisch, welcher vor dem Fenster stand, eine große Karte aus, die in scharfer Zeichnung die Balkanhalbinsel, Kleinasien und Nordafrika zeigte. Über den Tisch gebeugt, betrachtete er durch ein großes Augenglas aufmerksam die ausgebreitete Karte, und wie das Auge dieses alten, gebrechlichen Mannes auf das Papier herabsah, so schwebte die ganze Macht des meerbeherrschenden England über jene weiten Gebiete, deren Bild die Karte zeigte, und in denen so viele Völkerschaften zitternd der nächsten Zukunft entgegensahen. Er versank in immer tieferes Sinnen, während seine Züge sich bald düster brütend zusammenzogen, bald wie von einem plötzlichen Gedankenblitz erleuchtet aufhellten, und fuhr fast erschrocken auf, als sein Kammerdiener eilig eintrat und meldete, daß Seine Königliche Hoheit der Prinz von Wales soeben vorgefahren sei und bereits die Treppe heraufkomme.

Graf Beaconsfield eilte, während der Kammerdiener die beiden Flügel der Tür öffnete, schnell in das Vorzimmer hinaus, um mit tiefer Verbeugung den Thronerben des britischen Reiches zu begrüßen, der bereits dort eingetreten war und dem ersten Ratgeber seiner königlichen Mutter, dem Vertreter des in der Parlamentsmehrheit ausgedrückten Willens des englischen Volkes, kräftig und herzlich die Hand schüttelte.

Der Prinz von Wales war sechsunddreißig Jahre alt. Seine hohe Gestalt hatte durch die in den letzten Jahren ein wenig mehr entwickelte Körperfülle nichts von ihrer unendlich eleganten und vornehmen Haltung eingebüßt, und jede Bewegung des Prinzen zeigte so viel harmonische Anmut, so viel fürstlichen Stolz und zugleich so viel verbindliche Artigkeit, daß man ihn mit ebensoviel Berechtigung wie einst seinen Großoheim Georg IV. den ersten Gentleman von Europa nennen konnte. Sein von einem vollen, dunkelblonden Bart umrahmtes Gesicht zeigte die edlen und scharfen Linien, welche den Köpfen der englischen Könige aus dem hannöverschen Hause eigentümlich waren und sich auch auf den letzten König von Hannover vererbt hatten; seine hellen Augen blickten scharf und klar, voll geistigen Lebens umher, man sah in ihnen das Bewußtsein der erhabenen Stellung und die Gewohnheit, auf alles von oben herabzuschauen und sich nie vor einem andern Blick zu senken. Die jugendliche Frische seines Gesichts wurde nicht dadurch beeinträchtigt, daß das blonde, in der Mitte des Kopfes gescheitelte Haar nicht mehr die frühere Fülle besaß, und nach seiner äußeren Erscheinung hätte man den Prinzen für jünger halten können, als er wirklich war; auch in seiner geschmackvollen, einfachen Kleidung hätte er den Vergleich mit seinem Großoheim Georg IV., dem Freunde des berühmten Modekönigs Brummel, aushalten können, der jeden einzelnen Teil seiner Kleidungsstücke bei einem anderen Schneider arbeiten ließ und niemals das Geheimnis des bewunderten und beneideten Schnittes seiner Anzüge verriet.

Lord Beaconsfield geleitete den Prinzen in sein Kabinett und rückte einen Lehnstuhl für denselben neben seinen Schreibtisch. Der Prinz von Wales stellte seinen Hut und seinen zierlichen Stock von Ebenholz mit schön ziseliertem, goldenem Knopf auf den Diwan und setzte sich dem Grafen gegenüber, während ein tiefer Ernst sich auf seine eben noch so heiteren, sorglosen Züge legte.

»Ich bin heute nicht gekommen,« sagte er, »um mich nach dem Befinden meines teuren Freundes zu erkundigen, sondern um von dem verehrten Meister der Politik, dem die englische Nation die Leitung ihrer Geschicke anvertraut, Rat und Belehrung zu erbitten.«

»Eure Königliche Hoheit wissen,« erwiderte Graf Beaconsfield, »daß die geringen Kräfte meines Geistes stets zur Verfügung des edlen und erleuchteten Prinzen stehen, der einst mein Vaterland beherrschen wird, wenn ich längst unter dem kühlen Rasen von der Arbeit meines langen Lebens ausruhen werde.«

»Noch lange nicht, noch lange nicht,« sagte der Prinz, »Ihr Geist ist jünger als wir alle, und Gott wird England noch lange einen der edelsten seiner Söhne erhalten.«

Wehmütig schüttelte Graf Beaconsfield den Kopf; der Prinz aber fuhr schnell mit ungeduldiger Lebhaftigkeit fort:

»Die europäische Politik, mein teurer Freund, befindet sich in einer ernsten Krisis, und wenn der künftige König von England auch diejenige Person ist, welche am wenigsten bei der Lösung dieser Krisis mitzuwirken hat, so werden Sie es doch begreifen, daß ich mich zu unterrichten und meine Ansicht festzustellen wünsche, um diese Schulzeit für meinen künftigen Beruf richtig zu benutzen. So wie ich die Dinge ansehe, ist das Rollen der eisernen Kriegswürfel im Orient nicht mehr aufzuhalten; die russischen und türkischen Armeen stehen gerüstet und werden sich in wenigen Wochen gegeneinander wälzen, ganz Europa in ihrem Zusammenstoß erschütternd.«

»Eure Königliche Hoheit«, erwiderte Lord Beaconsfield, »haben mit scharfem Blick die Situation erkannt; auch ich halte den Krieg im Orient trotz aller Friedensworte und Wünsche, welche von den Lippen der Diplomatie tönen, für unvermeidlich und jeden Versuch für töricht, denselben abzuwenden oder hinauszuschieben. Das Verhängnis muß seinen Gang gehen, und an uns ist es, die rechte Stellung zu nehmen, um im richtigen Augenblick den richtigen Einfluß ausüben zu können.«

»Das ist es eben, das ist es, und deshalb bin ich hier, um mich von Ihnen belehren zu lassen, damit meine Sympathien und guten Wünsche wenigstens,« fügte er leicht lächelnd hinzu, »die rechte Richtung nehmen. Es ist ja meine Pflicht, darüber nachzudenken, was das Reich, dessen Krone ich einst tragen, soll, in so entscheidendem Augenblick zu tun hat; nach unseren alten Traditionen würden wir ja entschieden auf die Seite der Türkei treten müssen, deren Integrität und selbständige Widerstandskraft in unserer politischen Schule als das feste Bollwerk gegen jeden Angriff auf unsere Handelsstraßen gelten; wir würden entweder mit bewaffneter Hand die Pforte schützen, oder Rußland streng die Grenzen bezeichnen müssen, über welche hinaus wir keinen Schritt erlauben.«

»Die Verhältnisse sind verändert,« sagte Lord Beaconsfield, »was Lord Palmerston im Jahre 1855 tun konnte, vermögen wir heute nicht, wir würden auf ungewisse Chancen hin unsere ganze Macht einsetzen müssen und einen schweren Rückschlag erleiden, wenn nicht der volle Erfolg uns zur Seite stünde. Unsere Flotten, Königliche Hoheit, vermögen wohl Konstantinopel zu decken und allenfalls die russischen Küsten des Schwarzen Meeres zu bedrohen; ein Vorrücken Rußlands zu Lande aufzuhalten, liegt nicht in unserer Macht, denn wir haben keinen kontinentalen Alliierten, und die Truppen, die wir ausschicken könnten, würden nicht stark genug sein, um den russischen Heeren ernsten Widerstand zu leisten. Frankreich ist gebrochen, und wollte es selbst eine tätige Orientpolitik versuchen, so würde, wie ich überzeugt bin, ein Veto von Berlin aus dem entgegentreten; auch ist die heutige französische Regierung geneigt, in allem das Gegenteil von den napoleonischen Traditionen zu tun, und kokettiert in törichten und vorzeitigen Revanchehoffnungen mit dem Petersburger Kabinett. Jeder Versuch, die westmächtliche Allianz des Jahres 1855 wieder zu beleben, wäre also töricht und unserer unwürdig, denn nach meiner Überzeugung darf sich eine Macht wie England niemals einer Zurückweisung aussetzen, die man fast mit absoluter Sicherheit vorhersehen kann. Ein kategorisches Verbot des Krieges im Orient oder ein Trutzbündnis mit der Türkei ist also in diesem Augenblick absolut ausgeschlossen.«

»Aber«, sagte der Prinz von Wales, »in Wien herrscht tiefes Mißtrauen gegen Petersburg und vielleicht auch gegen Berlin trotz des so ostentativ hervorgeführten Dreikaiserbündnisses; wäre es nicht möglich, in Österreich die kontinentale Allianz zu finden, welche wir für ein entschiedenes Auftreten bedürfen? Wenn unsere Flotten im Schwarzen Meere kreuzen und die österreichischen Heersäulen gegen die Donau vorrücken, kann Rußland den Kampf nicht aufnehmen.«

Graf Beaconsfield schüttelte den Kopf.

»Österreich ist ein gebranntes Kind und scheut das Feuer«, sagte er; »nach allen Sondierungen, die wir in Wien gemacht haben, halte ich es für unmöglich, das kaiserliche Kabinett zu energischem Handeln zu bestimmen und von diesem sogenannten Dreikaiserbündnis, in welchem jeder dem andern mißtraut, zu trennen. Und würde es selbst gelingen, so würde ein aktives Vorgehen Österreichs nach dem Orient hin, wenn es Bedeutung haben sollte, seine Grenzen gegen Deutschland entblößen und den Fürsten Bismarck, der ja so schlau und kühn jede Situation auszubeuten versteht, zum Herrn der Lage, fast zum Schiedsrichter von Europa machen. Das Mißtrauen Österreichs wird bestehen, wir müssen dasselbe bestärken und vermehren; während Rußland seine Kräfte im Orient aufreibt, wird ein mißtrauischer, bis an die Zähne gerüsteter Nachbar, der seine volle Kraft an Truppen und Geld gesammelt und schlagbereit hält, peinlicher und gefährlicher sein als ein offener Gegner, der seine Kräfte verzehrt und sich von dem guten Willen Deutschlands abhängig macht.«

»Ich muß Ihnen gestehen, mein teurer Freund,« rief der Prinz von Wales ganz freudig, »daß ich alle diese Gedanken auch gehabt habe, und ich bin stolz darauf, mit Ihren Anschauungen übereinzustimmen. Aber«, fuhr er dann ein wenig zögernd fort, »wenn wir also nicht in der Lage sind, den Krieg zu verhindern, wenn wir nicht die Macht haben, in demselben uns auf die Seite der Pforte zu stellen, sollen wir darum die Dinge gehen lassen, wie sie gehen mögen, um vielleicht eines Tages Rußland als unumschränkten Herrn des Orients uns gegenüberstehen zu sehen? Erlauben Sie mir, ein Bild zu gebrauchen,« fuhr er langsam sinnend fort, als ob er sich bemühe, den richtigen Ausdruck für seine Gedanken zu finden, – »wenn zwei Gegner ein Wild vor sich sehen, das keiner dem andern gönnt, bei dessen Verfolgung jedoch der eine den andern nicht hindern kann, tun sie nicht klüger, sich zu verständigen, gemeinsam zu jagen und die Beute zu teilen?«

Lord Beaconsfield lächelte und nickte mit dem Kopfe zum Zeichen, daß er den Gedanken des Prinzen vollkommen verstanden habe.

»Nun denn,« sprach der Prinz von Wales weiter, »dieser Gedanke kommt nicht von mir allein, ich habe so etwas davon in der Luft rauschen hören, denn so wenig der künftige König von England auch bedeuten mag, so dringen doch hier und da Andeutungen zu ihm von dem, was die Welt bewegt. Mein Bruder Alfred und meine Frau sind unglücklich Wer diesen Krieg, welcher England und Rußland in so peinliche Spannung gegeneinander versetzt und sie von ihren nächsten Verwandten zu trennen droht; meine Schwägerin Marie weint bei dem Gedanken, daß sie als englische Prinzessin ihrem Vater, dem Kaiser Alexander, der sie so sehr liebt, feindlich gegenüberstehen könnte; Sie wissen, wie sehr meine Frau an ihrer Schwester, der künftigen Kaiserin von Rußland, hängt, auch sie denkt nur mit Schauder an ein ernstes Zerwürfnis, und ich muß Ihnen gestehen, mein teurer Freund, daß auch ich für meinen Schwager, den Cäsarewitsch, eine aufrichtige Zuneigung hege; wir stimmen in so vielen Punkten in unseren Neigungen und Abneigungen, in unseren Wünschen und Hoffnungen für die Zukunft der europäischen Politik überein – nun denn, meine Frau, mein Bruder und meine Schwägerin würden glücklich sein, wenn es gelänge, um in dem Gleichnis der beiden Jäger zu bleiben, die Beute zu teilen und die Freundschaft zu erhalten. In Rußland, glaube ich, findet dieser Gedanke lebhaften Anklang, und auch mir scheint er wohl der Erwägung wert. Graf Schuwalow –«

»Er war soeben bei mir,« fiel Lord Beaconsfield ein, »und hat mir den Gedanken, dem Eure Königliche Hoheit ein so treffendes Gleichnis gegeben, sehr klar und bestimmt ausgesprochen.«

»Nun,« rief der Prinz von Wales lebhaft, »und was meinen Sie dazu. Sie, der Meister, der das europäische Schachbrett mit so klarem Blicke überschaut?«

»Es ist ein Gedanke,« erwiderte Lord Beaconsfield mit feinem Lächeln, »den man nicht zurückweisen muß und den ich nicht zurückgewiesen habe, der aber auch«, fügte er ernst und bestimmt hinzu, »niemals zur Ausführung gelangen kann und wird. Ich habe den Grafen Schuwalow an meine vortrefflichen Freunde, den Grafen Derby und den Marquis von Salisbury, gewiesen, sie werden darüber sprechen und wieder sprechen, und wir werden die Zeit gewinnen, um im entscheidenden Augenblick bereit zur sein zum wohlvorbereiteten, wohlüberlegten Handeln.«

»Und warum halten Sie jenen Gedanken für unausführbar?« fragte der Prinz von Wales. »Ich habe gehört, daß man an eine Teilung der russischen und englischen Machtsphäre denkt und daß man uns das Euphratgebiet überlassen will, und wenn Indien gesichert ist, so mag Rußland das Schwarze Meer nehmen, das wir ihm vielleicht dennoch nicht streitig machen können.«

Graf Beaconsfield schüttelte den Kopf.

»Wollen Eure Königliche Hoheit die Gnade haben«, sagte er aufstehend, »und einen Blick auf diese Karte werfen?«

Er trat zu dem Tisch am Fenster, der Prinz folgte ihm.

»Nehmen wir an,« sagte Lord Beaconsfield, indem er sich auf den Tisch stützte und sein großes Glas zur Hand nahm, »daß die beiden Jäger, von denen Eure Königliche Hoheit sprachen, sich wirklich in die Beute teilten, welche Gewähr würden wir besitzen, daß der andere Jäger, nachdem wir ihm erlaubt haben, das Wild zu töten, dasselbe dennoch nicht ganz für sich behält, indem er es auf ein uns unzugängliches Gebiet schleppt? Wenn wir Rußland das Schwarze Meer einräumen und für unseren Einfluß das Gebiet des Euphrat uns vorbehalten, so liegt der Schwerpunkt der russischen Macht auf dem Element, auf welchem wir mächtig sind, das wir beherrschen, während wir unsererseits einen asiatischen Kontinent als Schlüssel unserer Macht besitzen; wenn Rußland den Schlüssel der Dardanellen in Händen hat, werden wir ohnmächtig gegen seinen Einfluß im Orient – was sollen wir aber machen, wenn Rußland, nachdem die Teilung geschehen, dennoch seine Landarmee gegen Indien wälzt, dessen Bevölkerung stets bereit ist, aufzustehen und von uns abzufallen, woher sollen wir die Armeen nehmen, um den Euphrat zu verteidigen, welcher der russischen Eroberung so bequem liegt? L'appétit vient en mangeant. Eure Königliche Hoheit werden nicht unsere Macht und Stellung von dem guten Willen Rußlands abhängig machen wollen; die Weltgeschichte zeigt uns keinen Vertrag, der gehalten worden wäre, wenn einer von denen, die ihn feierlich abschlossen, die Macht besaß, ihn zu seinem Vorteil zu brechen. Ich meinesteils bin der Überzeugung, daß England nicht eine einzige Meereswelle seinem Einfluß entziehen lassen darf, und wenn man uns dafür den Kontinent der halben Welt böte.

Deshalb, Königliche Hoheit, muß die Türkei erhalten werden, denn so lange sie aufrecht steht, werden uns die Dardanellen gehören. Die Sicherheit für Indien liegt in Konstantinopel, und was würde England ohne Indien sein!«

Der Prinz von Wales senkte den Kopf.

»Sie haben recht, wie immer«, sagte er; »aber«, fuhr er dann fort, »ich habe jenen Teilungsgedanken, der mir um meiner Verwandten willen persönlich sympathisch ist, auch nur als ein pis-aller betrachtet. Sie selbst, mein verehrter Freund, haben mir ja gesagt, daß eine militärische Aktion zum Schutz der Türkei unmöglich sei.«

»Doch habe ich nicht gesagt, Königliche Hoheit,« erwiderte Graf Beaconsfield, »daß ich die Türkei aufgeben und ihrem Schicksal überlassen wolle. Erlauben Sie mir, gnädigster Herr, daß ich Ihnen meine ganzen Gedanken ausspreche, so frei und so klar, wie sie noch niemals über meine Lippen getreten sind; ich darf dies dem Prinzen gegenüber tun, welcher die Würde, den Stolz und die Ehre der englischen Nation in seiner Person verkörpert.«

»Sprechen Sie, sprechen Sie, mein teurer Meister,« rief der Prinz, indem er lebhaft die Hand des greisen Staatsmannes ergriff, »jedes Ihrer Worte wird in den Tiefen meiner Seele verschlossen bleiben.«

»Nun denn, Königliche Hoheit,« sagte Lord Beaconsfield langsam, mit scharfer Betonung, »ich halte die militärische Intervention Englands in diesem Augenblick für unmöglich, nicht allein deshalb, weil wir keine kontinentale Allianz erlangen können, vielleicht würde ein durch unsere Flotten nach dem Bosporus getragenes Machtwort dennoch in Europa nicht ungehört verhallen; eine kühne Aktionspolitik ist in diesem Augenblick noch mehr deshalb unmöglich, weil ich mit derselben in dem Kabinett fast allein stehen würde. Der Marquis von Salisbury ist in dem edlen Vertrauen seines ideal angelegten Charakters ganz in die Schlingen der russischen Diplomatie gefallen; der Graf Derby mit seiner zögernden Natur neigt zu ihm, und Lord Carnarvon folgt beiden, wie immer. Würde ich jetzt auf eine rücksichtslose Aktionspolitik drängen, so würde das Kabinett auseinanderfallen, die Majorität im Parlament würde gefährdet werden, und wenn es mir auch gelänge, dieselbe zusammenzuhalten, so würde ich allein die Verantwortung für ein Spiel übernehmen müssen, dessen unglücklicher Ausgang sehr verhängnisvoll weiden könnte. Zu einem solchen Spiel, das ich dennoch wagen würde, wenn es notwendig wäre, ist aber keine zwingende Veranlassung vorhanden, da wir den Preis desselben auch ohne einen so hohen Einsatz erlangen können, ja nach meiner Überzeugung sicher und gewiß erlangen werden.«

»So halten Sie«, fragte der Prinz von Wales, »die Türkei für fähig, allein dem russischen Angriff zu widerstehen?«

»Ich halte«, erwiderte Graf Beaconsfield, »die Türkei für bei weitem widerstandsfähiger, als man glaubt. Der Krieg ist das Element der muselmännischen Bevölkerung, und wenn man sich in Konstantinopel dazu aufrafft, die Fahne des Propheten zu entfalten, so wird die Türkei eine militärische Macht entwickeln und Erfolge erreichen, welche Europa in Erstaunen setzen werden. Gelingt es der Türkei, den russischen Angriff zurückzuwerfen, so haben wir nichts anderes zu tun, als ruhig zuzusehen, wie Rußlands Großmachtstellung in Europa in Trümmer sinkt, und wie im Innern des gewaltigen Reiches eine zersetzende Krisis ausbricht, welche vielleicht auf ein Jahrhundert hinaus jedes Eingreifen Rußlands in die europäische Politik unmöglich machen wird.«

»Mein armer Schwager!« seufzte der Prinz von Wales.

»Doch«, fuhr Lord Beaconsfield fort, »man muß in der Politik niemals mit den günstigen Chancen rechnen. Ich nehme also an, daß Rußland siegreich vordringt, daß es die türkischen Heere aufrollt und mit seinem Schwerte an die Tore Konstantinopels klopft – dann, Königliche Hoheit, wird das von selbst eintreten, was wir jetzt nicht erreichen können: Europa wird erwachen, es wird die Gefahr erkennen, welche in der Übermacht eines den ganzen Osten umspannenden und die Verbindungsstraßen zwischen Asien und Europa ausschließlich beherrschenden Rußlands liegt, Österreich wird für die Donau eintreten müssen, und selbst Deutschland wird ein solch drohendes Übergewicht des östlichen Nachbars nicht dulden, dann, Königliche Hoheit, wird der Augenblick gekommen sein, in welchem wir die Früchte unserer Vorsicht und Zurückhaltung ernten. Man hat im vorigen Jahre in Berlin gewagt, über den Orient zu beschließen, ohne England in den Rat zu rufen – nun, wenn die russischen Vorposten vor Konstantinopel stehen, wird ganz Europa sich unserem Haltruf anschließen, England wird der Wortführer der Mächte sein, und Rußland wird die Demütigung erleben, vor dem Urteil des europäischen Areopags, in welchem wir den Vorsitz führen werden, zurückweichen zu müssen – eine tiefere Demütigung, als wenn es uns jetzt gelänge, den Krieg zu verhindern. Die Eifersucht von ganz Europa wird dann den Schlüssel der Dardanellen bewachen, und wenn«, fuhr er lebhafter fort, »auch diese Berechnung trügen sollte, obgleich ich sie für gewiß halte, so gebe ich Eurer Königlichen Hoheit mein Wort, daß ich vor der Verantwortung nicht zurückscheuen werde, die ganze Macht Englands in die Wagschale zu werfen, dann werden auch meine zaghaften oder zu edelmütigen Kollegen ihr Vertrauen aufgeben oder die drohende Gefahr erkennen, oder, wenn es sein muß, werde ich mich von ihnen trennen. Heute hätten wir es mit dem ungeschwächten, siegesfreudigen Rußland zu tun, nach einem türkischen Feldzug werden die russischen Finanzen erschöpft und die russischen Heere dezimiert sein; die Kriegsbegeisterung des russischen Volkes wird unter den furchtbaren Opfern erlahmt sein, Rußland wird dann kaum noch vermögen, einen zweiten Krieg zu beginnen – wir aber werden volle Kassen, wohlgerüstete Flotten haben und dann auch unsere Landtruppen der in ihrem Gefüge schwer erschütterten russischen Armee gegenüberstellen können. Dann, Königliche Hoheit, werden wir vielleicht, wenn Europa noch zögert, den Triumph erleben, daß das siegreiche Rußland vor unserem Machtwort allein zurückweicht – dann versichere ich Ihnen, mein Prinz, daß ich, wenn es sein muß, den letzten Mann und die letzte Guinee Englands einsetzen werde, um zu beweisen, daß ohne uns die Karte von Europa nicht verändert werden kann, denn ich werde die Zuversicht des Sieges für solches Opfer in mir tragen und freudig die Verantwortung auf mein altes Haupt nehmen. Mag Rußland auf der Balkanhalbinsel schalten, mag man Serbien, Bosnien und selbst Bulgarien von der türkischen Herrschaft lösen, wir können dem ruhig zusehen, es wird dadurch eine Menge von Verwirrungen, von unfertigen Zuständen geschaffen werden, welche Rußland und Österreich auf lange hinaus beschäftigen und dieses Dreikaiserbündnis, das in so feierlich drapierter Toga einhertritt, wie ein Schattenbild verschwinden lassen. Auf Konstantinopel aber wird Rußland seinen Fuß nicht setzen, die Schlüssel der Dardanellen wird es nicht in seine Hand nehmen, solange ich das Steuer des Staates führe und das Volk Englands mir sein Vertrauen schenkt.«

»Ich habe dem nichts zu erwidern,« sagte der Prinz von Wales sinnend, »Sie haben recht und immer wieder recht – und doch«, fügte er seufzend hinzu, »will mich der Gedanke an jene Teilung nicht verlassen – es wäre so sicher, so ruhig, so ohne Wagnis und Opfer.«

Lord Beaconsfield schwieg einen Augenblick, dann erleuchteten sich seine Blicke, er trat näher zu dem Prinzen heran und blickte durchdringend, fragend und prüfend in dessen ernst nachdenkliches Gesicht.

»Es ist eine bedeutsame Stunde,« sagte er, »Königliche Hoheit, in der ich Ihnen gegenüberstehe; ich bin die Vergangenheit, bereit, ins Grab zu steigen – in Ihnen keimt die Blüte der Zukunft, und meine letzte Pflicht auf Erden ist es, die Zukunft, die Ihnen gehört, so vorzubereiten, daß sie der Vergangenheit würdig sei und alle Hoffnungen der Feinde Englands zuschanden mache.

So mag denn auch der letzte Gedanke, den ich kaum vor mir selbst laut auszusprechen wagte, heute in Ihre Brust niedergelegt werden, denn auch Ihnen bin ich Rechenschaft schuldig über mein Streben für Englands Sicherheit und Englands Größe, das bis zu meinem letzten Atemzug mein altes Herz begeistert und die Kraft meines Geistes spannen wird. Warum, Königliche Hoheit,« fuhr er fort, indem er die Stimme dämpfte, »warum sollen wir einer Teilung, einem Vergleich mit dem Gegner das verdanken, was wir mit eigener Kraft gewinnen und festhalten können! Man bietet uns das Euphratgebiet zur Sicherung Indiens – wir haben Rußland nicht nötig, um Indien und den Weg dahin zu sichern; nicht auf dem Lande liegt unsere Macht, sondern auf dem Meere, in das Meer müssen wir die Anker werfen, die unsere Zukunft sichern sollen. Eure Königliche Hoheit erinnern sich, daß wir im vorigen Jahre die Aktien des Suezkanals von dem Vizekönig von Ägypten gekauft haben.«

»Gewiß,« rief der Prinz von Wales, »es war ein herrlicher Coup, für den Ihnen England ewig dankbar sein muß.«

»Nun wohl,« sagte Lord Beaconsfield, »die List ist häufig besser als die Gewalt, und der Staatsmann darf sie nicht verschmähen, um sein Ziel zu erreichen. Der Kaiser Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht begünstigte die Durchstechung des Isthmus von Suez, er glaubte durch den französischen Einfluß in Ägypten die Hand auf den neuen Weg nach Indien legen zu können, und die Kaiserin Eugenie selbst erschien bei der Eröffnung des Kanals, um die Blüte dieses Triumphes der französischen Politik zu pflücken. Jetzt sind wir Herren des Suezkanals, er ist zu einem englischen Privatweg geworden, und der Besitz jener Aktien, der unser reiches Land nur wenig kostet, gibt uns das Recht, auf jener Straße, die zur Schatzkammer unserer Reichtümer führt, zu schalten nach unserem Belieben. Jenes Handelsgeschäft war der erste Schritt, um uns Indien zu sichern, das uns die Möglichkeit gibt, zu allen Zeiten Truppen und Kriegsmaterial dorthin zu werfen. Nun, Königliche Hoheit, man will uns das Euphratgebiet ausschließlich überlassen, um unsern Handelsweg durch den Persischen Meerbusen zu decken; was würde das bedeuten, wenn wir immer erst von England her die Kriegsmittel dorthin schaffen müßten, während Rußland, dessen Einfluß schon jetzt in Persien mächtige Wurzeln geschlagen hat, vom Kaspischen Meere her jeden Augenblick jenes Gebiet anzugreifen vermag! Etwas anderes ist es, wenn wir in unmittelbarer Nähe eine Flottenstation und einen Hafenplatz besitzen, um bei jeder Gefahr ohne Zögern mit überlegener Macht an den Ufern des Euphrat erscheinen zu können. Wenn Eure Königliche Hoheit diese Karte betrachten, so werden Sie sehen, daß die Insel Cypern, von welcher man heute nur noch in mythologisch-historischer Beziehung spricht, von der Natur ganz zu einem solchen Flotten- und Waffenplatz für die Beherrschung des Euphratgebietes geschaffen ist.«

»Cypern? – in der Tat,« fügte der Prinz verwundert, »Cypern beherrscht Arabien und den Euphrat bis zum Taurus.«

»Also gerade das Gebiet,« sagte Lord Beaconsfield, »das die Russen so gütig sind, dem englischen Einfluß bei der Teilung des Orients überlassen zu wollen.«

»Aber«, bemerkte der Prinz von Wales, aufmerksam die Karte betrachtend, »Cypern gehört uns nicht, wir können die Insel doch unmöglich erobern und im tiefen Frieden der Türkei entreißen.«

»Ich erlaubte mir schon, Eurer Königlichen Hoheit zu bemerken,« erwiderte Lord Beaconsfield, »daß ein Handelsgeschäft unter Umständen ebensoviel wert sein kann als eine gewonnene Schlacht, wenn hinter dem Handelsgeschäft eine Macht steht, das Gewonnene zu behaupten und zu benutzen. Wer könnte etwas dagegen einwenden, wenn wir diese Insel Cypern ebenso mit gutem englischen Gelde erwerben, wie wir die Aktien des Suezkanals erworben haben?«

Die Augen des Prinzen öffneten sich weit, voll Bewunderung sah er den Grafen an.

»Aber«, sagte er dann, ungläubig den Kopf schüttelnd, »wie wäre das möglich, wie würde die Türkei jemals sich dieser Insel entäußern, deren Besitz in unseren Händen auch nach Konstantinopel hin so wichtig wäre?«

Graf Beaconsfield lächelte mit einem fast naiven Selbstbewußtsein.

»Nun, Königliche Hoheit,« sagte er, »während die russische Diplomatie sich Mühe gibt, uns zu einem Teilungsvergleich zu locken, habe ich in aller Stille die Hand auf das Objekt jenes Vergleiches gelegt. Die Türkei ist bereit, Cypern abzutreten, gestern hat mir der Botschafter Musurus Pascha die Bereitwilligkeit des Sultans erklärt, auf die Verhandlungen einzugehen; dieselben werden beginnen, sobald der Krieg zwischen Rußland und der Türkei im Gange ist. Vorläufig ist noch nichts davon in das Auswärtige Amt gedrungen; je schneller und kürzer später der formelle Abschluß erfolgt, um so sicherer wird das Geheimnis gewahrt werden. Die Forderung wird hoch sein, allein England kann ja verschwenderischer mit seinen Guineen umgehen als mit dem Blute seiner Söhne; die Türkei braucht Geld für ihren Krieg, der Sultan braucht Geld für seinen Hofhalt – nun wohl, wir können dem Gegner Rußlands dieses Geld zufließen lassen, ohne die Grenzen der Neutralität zu überschreiten, indem wir einen Handel abschließen, der mit dem Kriege unmittelbar nichts zu tun hat und dennoch den Türken die Mittel des Krieges sichert. Wie der Krieg sich auch immer wenden möge, ich versichere Eure Königliche Hoheit, am Schluß desselben wird Cypern uns gehören, wir werden das Euphratgebiet beherrschen und eine feste Machtstellung vor Konstantinopel haben, ohne daß wir der russischen Zustimmung dazu bedürfen.«

Der Prinz von Wales blickte noch eine Zeitlang wie prüfend auf die Karte; dann faßte er mit seinen beiden Händen Lord Beaconsfields Rechte und schüttelte sie mit dem Ausdruck einer fast ehrfurchtsvollen Bewunderung.

»In der Tat,« rief er, »Sie sind der größte Mann in England! Während wir anderen über die Gegenwart grübeln, schauen Sie mit Adlerblick weit voraus und beherrschen die Zukunft; meine Mutter hat keinen Marschall und keinen Admiral nötig, solange Sie ihr Minister sind.«

»Muß ich denn nicht«, sagte Lord Beaconsfield, indem er mit glücklichem Lächeln zu dem Prinzen aufsah, »der britischen Nation meinen Dank dafür beweisen, daß sie den Abkömmling eines fremden Stammes so großmütig aufnahm und ihm den Weg zu ihren höchsten Ehren öffnete? Was mir für England zu tun vergönnt ist, wird niemals genug sein, um meinem Dank und meiner Liebe Ausdruck zu geben.«

»Ich gehe«, sagte der Prinz. »Ihr Geheimnis ruht sicher in meiner Brust, und ich werde alle Tage Gott bitten, daß er Sie am Leben erhalte, bis ich König bin, oder mir einen Mann an die Seite stelle, der Ihnen ähnlich ist. Meine Mutter hat recht, über Ihrem Haupt glänzt in leuchtender Schrift das Wort: Honni soit, qui mal y pense! Mein Blick ist klar geworden in dieser Stunde, ich weiß, was ich zu denken und was ich zu tun habe – aber freilich«, fügte er mit scherzhaft ängstlicher Miene hinzu, »werde ich einen harten Stand mit meiner Frau und meinem Bruder haben – jedoch das gehört ja mit zu den Dingen, die man als künftiger König lernen muß.«

Er schüttelte noch einmal die Hand des Grafen, dann begleitete ihn dieser durch die Vorzimmer bis zur Treppe hin, wo der Prinz mit Entschiedenheit seine weitere Begleitung zurückwies, und schnell die Stufen hinabeilend, in seinen Wagen sprang.

» Honni soit, qui mal y pense!« sagte Graf Beaconsfield sinnend, indem er in sein Zimmer zurückkehrte, »wäre es möglich, daß die sinkende Sonne des Lebens mein Alter mit nie geahntem, in den kühnsten Träumen nicht gehofftem Glanz überstrahlen sollte, um mir den Abschied von der schönen Erde, die so viel Hoffnung, so viel frohe Arbeit, so viel edles Streben und Ringen dem Menschen bietet, desto schwerer zu machen?

Nun,« sagte er mit ruhigem Lächeln, »herrlich ist es, das Höchste zu erringen in diesem Dasein auf Erden – für das Streben aufwärts nach immer höherer Vollkommenheit wird ja auch dort im reineren Licht noch Platz sein, denn der Kern und der Wert des Lebens ist hier wie dort die Arbeit.«

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und begann wiederum die eingegangenen Korrespondenzen durchzulesen, jedem einzelnen der so verschiedenartigen Schriftstücke die gleiche Aufmerksamkeit zuwendend.


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