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8. Kapitel

Ein reges und bewegtes Leben herrschte auf dem Schlosse Wolotschina, der Hauptbesitzung des jungen Grafen Wladimir Swiatowski. Den einen Flügel des Schlosses bewohnte der Graf mit seiner jungen Gemahlin, der Tochter des alten Montenegriners Marco Petrovic, welche er sich aus den schwarzen Bergen heimgeführt hatte; ein anderer Seitenflügel war für den Freund des Grafen, den Leutnant Feodor Michaelowitsch Blagonow, bestimmt, welcher sich zu gleicher Zeit mit der einzigen Tochter des Fürsten Kudiakow-Newolenski, Marpha Nikolajewna, vermählt hatte. Die beiden jungen Offiziere hatten nach ihrer Vermählung einen längeren Urlaub erhalten und sich nach dem geräumigen und neu eingerichteten Schlosse Wolotschina begeben, um hier die Flitterwochen ihres jungen Glücks zu verleben, das sie besser und ruhiger in ländlicher Stille zu genießen hofften, als auf einer Reise in das Ausland, welche ohnehin durch die hochgespannten politischen Verhältnisse und die militärischen Vorbereitungen erschwert und fast unmöglich gemacht wurde.

Das Schloß, welches lange Zeit einsam dagelegen und mehr und mehr in Verfall zu sinken schien, wimmelte von einer zahlreichen, glänzenden Dienerschaft; eine große Anzahl ausgesuchter Pferde füllte die Ställe, und an jedem Abend erhellten sich die langen Fensterreihen, strahlendes Licht über die am Fuße des Berges sich ausdehnende Ebene werfend.

Die Bewohner des Dorfes sahen die beiden jungen Paare bald miteinander in vierspänniger Kalesche, bald getrennt in kleinen, leichten Jagdwagen oder zu Pferde die Gegend durchstreifen, welche sich allmählich von den Banden des Winterfrostes löste, und alle Welt begrüßte besonders den jungen Gutsherrn und seine liebliche Gemahlin mit ehrerbietiger Herzlichkeit.

Die beiden neuvermählten Paare lebten in ihren beiderseitigen Wohnungen ganz nach ihrer Phantasie. Am Abend fanden sie sich in den neutralen Gesellschaftsräumen des Schlosses zum Diner zusammen, später blieben sie beieinander in traulicher Unterhaltung, und Marpha und Blagonow übten die Musik, welche sie zusammengeführt und in deren Tönen sie nun das Entzücken ihrer glücklichen Herzen ausklingen ließen.

Die schöne Gräfin Marica, die Tochter der schwarzen Berge, welche in ihrem einfachen Jugendleben nichts anderes gekannt hatte als die Töne der Guzla und den rauhen Gesang der montenegrinischen Krieger, hörte mit Entzücken die so weichen, in süßer Melancholie zum Herzen dringenden russischen Volkslieder und die herrliche Musik der großen italienischen und deutschen Meister, welche Blagonow und Marpha im Vollgefühl ihres Glückes in hoher Vollendung zum Ausdruck brachten; träumend saß sie da, an den Arm ihres Gemahls gelehnt, und alles, was ihr vergangenes Leben in den fernen Bergen unter ihrem rauhen Volke in dunklen, kaum verstandenen Gefühlen bewegt hatte, das schien unter dem Eindruck der ihr so ganz neuen Musik zu hellem, lichtem Verständnis zu erwachen. Zuweilen füllte bei den klagenden Tönen der russischen Volksmelodien wohl eine Träne ihr Auge, aber bald sah sie dann voll glücklicher Hingebung zu ihrem Geliebten auf, und er küßte den klaren Tränentropfen von ihren Wimpern.

Einige Wochen blieben die jungen Leute so ihrem Glück in stiller Einsamkeit überlassen. Dann aber konnte es der Fürst Kudiakow-Newolenski nicht mehr über sich gewinnen, in Petersburg zu bleiben, wo ihm der Hof und die Gesellschaft einen Zwang auferlegte, den er zwar pflichtschuldigst trug, der ihn aber dennoch lästig drückte, und obgleich die alte Gräfin Swiatowski, der er täglich seinen Morgenbesuch machte, ihn zu bestimmen versuchte, die Neuvermählten noch länger sich selbst zu überlassen, so drang er doch darauf, einmal nachzusehen, wie es den Kindern erginge, und endlich gelang es ihm, die Gräfin, welche sich ebenfalls in Petersburg einsam fühlte, zu bestimmen, daß sie einwilligte, ihn nach Wolotschina zu begleiten.

So erschienen denn die beiden eines Tages auf dem Schlosse, das in seinen weiten Räumen auch für sie noch hinlänglich Platz bot. Der Fürst, welcher trotz der Einfachheit seiner persönlichen Bedürfnisse sich für verpflichtet hielt, überall einen seinem Stande und seinem Reichtum entsprechenden Aufwand zu machen, hatte schon vor seiner Ankunft einen neuen Troß von Lakaien, sowie Pferde und Wagen für sich und die Gräfin nach Wolotschina vorausgeschickt, und so begann denn nun ein glänzendes und bewegtes Leben, welches die jungen Paare, obgleich die Gräfin dafür sorgte, daß sie einen großen Teil des Tages sich selbst überlassen wurden, doch zuweilen seufzend an die glückliche Zeit ihrer stillen Einsamkeit zurückdenken ließ. Der Fürst ging und ritt auf die Jagd, machte Besuche bei den kleinen Gutsbesitzern der Umgegend, welche darüber sich sehr stolz und geehrt fühlten und sich beeilten, wieder auf Wolotschina zu erscheinen, so daß mehrmals in der Woche dort sich ziemlich große Gesellschaften versammelten, in deren Mitte sich der Fürst weit glücklicher und zufriedener fühlte als auf dem Parkett der Salons von Petersburg. Dabei versäumte er nicht, sich, wenn er durch das Dorf ging, mit den Bauern zu unterhalten, er trat auch wohl in die Häuser und nahm hier oder dort ein Glas Branntwein oder Quas an, indem er sich dabei leutselig nach den Verhältnissen der Familie und der Wirtschaft erkundigte und sich ehrfurchtsvoll vor den in den Wohnzimmern aufgehängten Heiligen bekreuzigte, so daß er bei den Bauern von Wolotschina bald noch populärer war als der Gutsherr selbst und alle Welt ihn mit ehrerbietiger Vertraulichkeit nur noch Väterchen Nikascha nannte.

Einige Zeit nach der Ankunft des Fürsten sollten die freundlichen Beziehungen zwischen der Herrschaft auf dem Schlosse und den Bauern von Wolotschina einen besonders lebhaften Ausdruck finden. Der junge Bauer Stephan Sacharjew, welcher Eva Michaelowna, die Tochter des Starosten Michael Matfejew, heimgeführt hatte, wollte den ersten Sprößling seiner Ehe taufen lassen und hatte den Grafen Wladimir gebeten, bei seinem neugeborenen Untertan Pate zu sein. Wladimir hatte seine Bitte gern gewährt und der Fürst sogleich das Arrangement eines großen Volksfestes und die Bewirtung des ganzen Dorfes auf seine Kosten übernommen, was natürlich nicht geringe Freude unter der ganzen Bauernschaft hervorrief. Schon am Abend vor dem Tage, der das Haus des jungen Stephan Sacharjew so hoch ehren sollte, wurden auf einem freien Platze vor dem Dorfe hölzerne Tische und Bänke aufgeschlagen, ein Tanzplatz geebnet und mit Brettern bedeckt, und das helle, trockene Frühlingswetter ließ eine ungestörte Feier des für die Bewohner von Wolotschina bisher unerhörten Festes hoffen. Der Fürst hatte alles persönlich inspiziert, auch einige bekannte Gutsbesitzer der Umgegend eingeladen und schon vorher verkündet, daß man nun einmal einen Tag so recht nach altrussischer Weise verleben wolle.

Die ganze Einwohnerschaft des Dorfes befand sich in einer nicht geringen freudigen Aufregung und bewegte sich auf dem Festplatze hin und her, die daselbst getroffenen Vorrichtungen mit ebensoviel neugieriger Spannung als Bewunderung musternd, wie dies die Bevölkerung der Residenz nur am Vorabend der größten und prachtvollsten Festlichkeiten hätte tun können.

»Heute muß aller Groll und aller Hader vergessen sein«, sagte der alte Starost Michael Matfejew zu seinem Schwiegersohn, der ganz strahlend vor Stolz und Freude und ganz zitternd vor Aufregung den ganzen Tag über bald nach dem Festplatz geeilt war, um dort dem Fürsten bei seinen Anordnungen zur Hand zu sein, bald wieder atemlos nach Hause zurücklief, um seine Frau zu umarmen und seinen kleinen Sohn, dem so große Ehre widerfahren sollte, emporzuheben und gegen das Licht zu halten, worüber der kleine Weltbürger jedesmal seine höchste Unzufriedenheit durch ein gewaltiges Geschrei unzweideutig zu erkennen gab. »Der alte Mossej Nikolajew«, fuhr der Starost fort, »grollt noch mit uns, daß Eva Michaelowna dich ihm vorgezogen hat; es war vielleicht unrecht, daß ich ihm das Mädchen versprochen hatte und nachher nicht Wort hielt – aber es soll unsere Schuld nicht sein, wenn er morgen einsam und trübselig in seinem Hause sitzt; komm, laß uns zu ihm gehen und ihm die Hand zur Versöhnung reichen, dann haben wir das Unselige getan.«

Einen Augenblick verfinsterte sich Stephans Gesicht bei der Erinnerung an all den Kummer, den ihm einst der reiche Mossej als Nebenbuhler um seine Eva bereitete; aber auch sein Herz war zu voll von Glück und Freude, als daß er irgendeinen Groll darin hätte bewahren können. Er folgte also dem Alten ohne Einwendung, und beide gingen nach Mossejs Hause, das meist von den Bewohnern von Wolotschina gemieden wurde, wenn nicht besondere Geschäfte oder Gemeindeangelegenheiten sie zu dem reichen Bauern führten. Sie fanden die Tür verschlossen, und erst nach mehrmaligem Klopfen erschien Mossej Nikolajew, um zu öffnen.

Finsteren Blickes sah er die beiden an, mit denen er seit einem Jahre kein Wort und keinen Gruß gewechselt; auf der Schwelle stehend und fast den Eintritt versperrend, hörte er die freundlichen Worte der Versöhnung, mit denen der Starost ihm seine Hand entgegenstreckte, an. Einen Augenblick schien es, als wolle er die dargebotene Hand zurückweisen, und schon faltete Stephan Sacharjew finster die Stirn, als Mossej sich plötzlich anders zu besinnen schien und in das Vorzimmer seines Hauses zurückkehrte, indem er den beiden mit der Hand winkte, ihm zu folgen.

»Du hast recht, Michael Matfejew,« sagte er, als sie in das Zimmer getreten waren, »man soll Vergangenes vergessen und keinen Groll nachtragen – hier ist meine Hand, ich will dein Freund sein, und auch der deinige, Stephan Sacharjew, und ich verlange das gleiche von euch.«

»Und zweifelst du,« fragte der Starost, »daß ich mit offenem Herzen komme, um aufrichtig dein Freund zu sein?«

»Du kannst es beweisen«, sagte Mossej. »Du erinnerst dich,« fuhr er dann fort, »daß mein Sohn Jewjeni im vorigen Jahre in jugendlicher Unbesonnenheit, vielleicht im Rausch törichte Worte gesprochen hat und daß er in die schwarze Isba gesperrt wurde, um vor Gericht gestellt zu werden.«

»Ich erinnere mich,« sagte Michael Matfejew traurig, »und es tut mir leid, daß dich ein solches Unglück traf, – vielleicht war ich zu hart und würde es heute bereuen, wenn ich deinen Sohn den Behörden ausgeliefert hätte.«

»Du kannst es gutmachen«, sagte Mossej; »Gottes Hilfe hat meinen Sohn befreit, nicht ich, denn die Wachen wollten nicht auf mein Wort hören – er ist nach Petersburg zurückgekehrt und hat weiter gelernt, um einst Geistlicher werden zu können. Niemand weiß, was hier vorgefallen, wenn du darüber schweigst und die anderen alle hier bewegst, die Sache zu vergessen – du kannst es, denn sie hören auf dich – dann ist mein Sohn von aller Furcht befreit, und ich kann hoffen, ihn einst an die Stelle des Vater Christophor treten zu sehen.«

Einen Augenblick sah der Starost sinnend zur Erde, dann schüttelte er kräftig Mossejs Hand und sagte:

»Ich bin gekommen, um Vergessenheit von dir zu verlangen, ich darf sie meinerseits nicht zurückweisen; niemand soll erfahren, was hier geschehen ist, die Jugendtorheit deines Sohnes sei vergessen, und ich bürge dafür, daß auch die anderen alle schweigen werden.«

»Ich habe dein Wort?« fragte Mossej.

»Du hast es!«

»Nun denn, mein Sohn ist hier,« sagte Mossej, indem er eine innere Tür des Wohnzimmers öffnete und einen jungen Menschen von etwa zwanzig Jahren in städtischer Tracht mit blassem Gesicht und scharfen, etwas unsteten Augen hereinführte, – »hier ist Jewjeni Mossejew, er hat sich verborgen, er ist heimlich gekommen, seine Heimat zu besuchen, da er fürchten mußte, von dir ausgeliefert zu werden. Führe du ihn selbst zu den anderen und mach, daß er morgen sich zeigen dürfe, wenn die Herrschaften vom Schlosse hier sind, dann wird alles vergessen sein, und er hat nichts mehr zu fürchten.«

Der junge Student grüßte den Starosten und Stephan Sacharjew ein wenig verlegen, indem ein feindlicher, tückisch drohender Blitz aus seinen Augen hervorsprühte; der Starost aber reichte ihm mit offener Herzlichkeit die Hand und sagte:

»Sei willkommen, Jewjeni Mossejew, alles sei vergessen, gleich sollst du mit mir zu den anderen gehen, und niemand wird dir ein böses Wort sagen.«

Der Student verbeugte sich stumm.

Mossej Nikolajew öffnete einen Wandschrank, brachte eine Brotschnitte und einen Teller mit Salz herbei und füllte vier Gläser mit Wacholderbranntwein; dann brach er das Brot, jeder tauchte ein Stück davon in das Salz, und nachdem dieses heilige Zeichen unverletzlicher Gastfreundschaft genossen war, leerte man die gefüllten Gläser.

»Nun komm,« sagte der Starost, »noch ist die Sonne nicht untergegangen, laßt uns zu den anderen gehen, sie sind noch draußen auf dem Tanzplatz, damit morgen Jewjeni ohne alle Furcht bei dem Feste erscheinen kann.«

Die Bauern, welche noch vor dem Dorfe versammelt waren und eben dem zum Schlosse zurückfahrenden Fürsten Nikascha ein lautes, jubelndes Hurra nachgerufen hatten, erstaunten nicht wenig, als sie den Starosten mit Mossej Arm in Arm erscheinen sahen und neben ihnen an Stephan Sacharjews Seite den Studenten erblickten, welcher seit seinem geheimnisvollen und unerklärlichen Verschwinden aus der schwarzen Isba verschollen gewesen war. Ihre Blicke verfinsterten sich, und hier und da hörte man drohende Worte; aber als der Starost sie aufforderte, alles zu vergessen, was der junge Mensch in jugendlicher Torheit und vielleicht im Rausch gesprochen, als er erklärte, daß er selbst mit Mossej versöhnt sei, und daß an einem so frohen Tage in dem Herzen eines braven Russen kein Groll zurückbleiben dürfe, da traten sie nacheinander alle heran und reichten dem jungen Menschen freundlich die Hand; war es doch den meisten von ihnen erwünscht, daß der reiche Mossej Nikolajew, welcher so manche Gefälligkeiten zu erweisen imstande war, aus seiner abgeschlossenen Zurückhaltung wieder heraustrat.

Der Fürst hatte bereits heute zur Vorfeier einige Fässer mit Wacholderbranntwein und Quas zum besten gegeben, der Tag war hell und warm, und so blieben denn die meisten noch auf dem Festplatze beisammen. Die jungen Burschen und die Mädchen probierten im voraus den Tanzplatz, und die älteren Bauern saßen an den Tischen umher, behaglich die vortrefflichen Getränke schlürfend und die Freigebigkeit der Herrschaft rühmend, sie schienen alle durch ihr Benehmen beweisen zu wollen, daß sie sich von Herzen der Versöhnung freuten, welche der Starost mit Mossej Nikolajew und seinem Sohne geschlossen. Die Angesehensten von ihnen nahmen den Studenten in ihre Mitte und befragten ihn neugierig, wie es in Piter, wie die russischen Bauern St. Petersburg zu nennen pflegen, aussehe; denn so wenig auch die Bauern von Wolotschma sich um Politik kümmerten, so war doch auch bis zu ihnen die Kunde gedrungen, daß die Bassurmanen hartnäckig den christlichen Völkern ihre Rechte verweigerten, und daß der Zar rüste, um die Ungläubigen zu bestrafen.

Der Student begann eifrig zu erzählen von den großen Vorbereitungen zum Kriege, welche man hier noch nicht bemerkt hatte, da das Armeekorps, zu welchem Wolotschina gehörte, noch nicht mobil gemacht war. Er schien vorsichtiger geworden zu sein seit der Erfahrung, welche er hier gemacht, er hütete sich wohl, irgendein Wort zu sagen, das die loyalen Gesinnungen der Bauern verletzen konnte; er sprach mit der höchsten Ehrfurcht vom Zaren und von der Regierung überhaupt und ließ nur mit bedauerndem Achselzucken einfließen, daß der große und gerechte Zar leider manche schlechte Ratgeber in seiner Nähe habe, welche ihm nicht die Wahrheit sagten, und daß es sehr zu beklagen sei, daß das ganze treue russische Volk nicht die Möglichkeit habe, zum Zaren zu sprechen, ihn aufzuklären und ihm seinen Rat zu geben, wie dies in der Vorzeit durch die nationale Volksvertretung des Semstwo möglich gewesen sei. Die Bauern lauschten aufmerksam seinen Worten, und was er ihnen sagte, fand bei ihnen Verständnis und Widerhall, denn die alte patriarchalische Volksvertretung lebte ja, wenn auch in ziemlich unklaren Begriffen, in den Traditionen des russischen Volkes fort und erhielt in demselben einen instinktiven Widerwillen gegen die polizeilich-bureaukratische Regierungsform, welche sie dem Einfluß der Fremden und namentlich der Deutschen zuschrieben. Endlich zog der Student ein Exemplar der Moskauer Zeitung aus der Tasche und sagte den Bauern, daß er ihnen vorlesen wolle, wie es in diesem Augenblick um Rußland stehe, da das in diesem Blatte besser gesagt sei, als er ihnen zu erklären vermöge. Die Bauern, welche gewohnt waren, jedes geschriebene oder gedruckte Wort als eine Art von Heiligtum, von unfehlbarer Wahrheit, ja als eine unmittelbare Willenserklärung des großen Zaren selbst zu betrachten, hörten aufmerksam zu. Die zündenden Worte des Vortrags, den Iwan Aksakow über den Krieg und die Lage Rußlands gehalten, trafen die so leicht empfängliche nationale Seite in ihrem Herzen, immer dichter schloß sich der Kreis um den Studenten, und laute Rufe des Beifalls hörte man ringsumher.

Der Starost, welcher der tanzenden Jugend zugesehen hatte, trat finsteren Blickes heran.

»Halt, Jewjeni Mossejew,« sagte er, die Hand auf die Schulter des Studenten legend, – »wir haben die Vergangenheit vergessen und Salz und Brot miteinander gegessen, aber du darfst nicht wieder beginnen, aufrührerische Reden zu halten.«

»Nein, nein,« sagten einzelne Bauern, »es ist nicht Aufruhr, was er spricht, er ist kein Mjatjeschnik mehr wie damals, er ehrt den großen Zaren, wie es die Pflicht jedes guten Untertanen ist, und was er sagt, ist die Wahrheit.«

»Ich lese nur vor,« sagte der Student trotzig, halb scheu, »was man in Piter selbst liest und was alle Freunde und Diener des Zaren sprechen.«

»Gleichviel,« sagte der Starost einst und streng, »steck das Blatt da fort, ich darf es nicht leiden, daß du hier zu den Leuten sprichst, das ist meine Sache.«

Er nahm das Zeitungsblatt aus der Hand des jungen Menschen, faltete es zusammen und steckte es in seine Tasche.

Ein leises Murren machte sich unter den Bauern hörbar, der Starost achtete nicht darauf und wollte sich wieder zu den Tanzenden wenden, als die Glocke einer Troika ertönte und ein kleiner, offener Wagen, mit drei kräftigen Pferden bespannt, im schnellsten Trabe durch das Dorf daherfuhr: ein Postillion führte die Zügel, ein Kurier in einem Uniformmantel saß auf dem Wagensitz. Neugierig blickten alle auf, selbst der Tanz wurde unterbrochen, und als der Wagen hielt, drängte man neugierig heran. Der Kurier rief nach dem Starosten, und als Michael Matfejew mit abgezogener Mütze sich näherte, gab er ihm einen großen Brief und ein mit dem Siegel der Regierung verschlossenes Paket; dann befahl er, flüchtig den ehrerbietigen Gruß der Bauern erwidernd, dem Postillion, nach dem Schlosse zu fahren, und schnell rollte der Wagen auf dem Wege nach dem Herrensitz davon.

»Was gibt es – was gibt es?« riefen alle, den Starosten umringend. Es muß etwas ganz Besonderes sein, daß ein Kurier des Zaren selbst hierher kommt!«

Der Starost betrachtete mit wichtiger Miene die großen Siegel und rief dann seinen kleinen, dürren Schreiber Andrej Sebastianew herbei, dem er befahl, zuerst das Paket zu öffnen, indem er die Wichtigkeit der empfangenen Sendungen nach deren Umfang zu bemessen schien.

Andrej Sebastianew löste die Siegel und fand in dem Leinenumschlag ein Paket Zeitungsblätter und ein Schreiben der Behörde, welches dem Starosten befahl, den Inhalt der übersendeten Blätter den Bewohnern seines Bezirkes bekanntzumachen.

»Ah,« sagte der Starost mit einem würdevollen Seitenblick auf den Studenten, »jetzt werdet ihr hören, was ihr hören sollt, die hohe Regierung selbst wird euch aufklären über alles, was treue Untertanen zu wissen nötig haben. Hier, Andrej Sebastianew, lies das sogleich vor, da ja einmal alle hier versammelt sind.«

Er reichte dem Schreiber eines der in dem Paket enthaltenen gedruckten Blätter, dieser trat in die Mitte des dichten Kreises, der sich um den Starosten gebildet hatte, und begann zu lesen. Aufmerksam lauschten die Bauern – kaum aber hatte der Schreiber einige Augenblicke gelesen, so rief der Student höhnisch und triumphierend:

»Nun hört ihr's, daß ich recht hatte und daß ich keine aufrührerischen Dinge zu euch sprach, das ist ja dasselbe Blatt, das ich euch vorlas.«

»Unsinn«, sagte der Starost, indem er dem Schreiber winkte fortzufahren.

»Ja doch, ja,« rief einer der Bauern, »es ist dasselbe; ich erinnere mich, das schon vorher von Jewjeni Mossejew gehört zu haben.«

Der Starost zog das Blatt, das er dem Studenten abgenommen, aus der Tasche und reichte es dem Schreiber; dieser verglich die beiden Zeitungen miteinander und sagte:

»Es ist in der Tat so, Michael Matfejew, es ist dasselbe Blatt, Wort für Wort.«

»Ihr hört es«, rief der Student triumphierend, und der alte Mossej blickte ganz stolz auf seinen Sohn, der in diesem Augenblicke den Bauern wie ein Sendbote des Zaren selbst erschien, da er schon vorher ihnen die Kundgebung der Regierung an den Starosten mitgeteilt.

Michael Matfejew schüttelte verwundert den Kopf, schweigend befahl er dem Schreiber fortzufahren und hörte selbst mit sinnend zu Boden gerichteten Blicken zu, während ringsum lauter und immer steigender Beifall die patriotischen Worte begleitete, mit denen Iwan Aksakow den nationalen Geist des russischen Volkes wachrief.

Als der Schreiber zu Ende gelesen, erhob sich ein brausender Jubel, Hochrufe für den Zaren, Verwünschungen gegen die Türken, Verwünschungen gegen die Fremden, welche sich in den Rat des Zaren drängten und ihn von seinem Volke entfremdeten, mischten sich miteinander. Der Student eilte von einem zum andern, man drückte ihm die Hände, und der junge Mensch, den man vor einem Jahre in das Gefängnis geworfen hatte, wurde fast zu einem Gegenstande der ehrfurchtsvollsten Bewunderung.

Der Starost hatte inzwischen den Brief, welchen er sogleich mit dem Paket erhalten, geöffnet und dem Schreiber gegeben; dieser durchlas den Inhalt und sprach leise mit dem Starosten, der dann mit ernster und feierlicher Miene Stille gebot.

»Unser großmächtiger, erhabener Zar«, sagte er, »ist entschlossen, gegen die Ungläubigen zu Felde zu ziehen, und ruft das ganze Volk auf, seine Pflicht im heiligen Kriege zu tun. Auch unser Armeekorps wird mobil gemacht; ihr alle,« fuhr er zu den jungen Burschen gewendet fort, »die ihr verzeichnet seid, habt euch zum Dienst zu stellen, in einer Woche müßt ihr bei dem Regiment sein – auch du, Stephan Sacharjew«, sagte er mit ernstem, trübem Blick zu seinem Schwiegersohn, »mußt eintreten, obgleich du der einzige Besitzer deines Hofes bist, jede Befreiung ist aufgehoben, der Zar braucht alle seine Untertanen im großen Kriege.«

Diese Mitteilung hätte zu jeder anderen Zeit vielleicht Bestürzung und Trauer erregt, aber in diesem Augenblick war der Eindruck der feurigen, begeisternden Worte, welche der Schreiber soeben aus dem Zeitungsblatt verlesen hatte, noch so mächtig, daß ein allgemeines lautes Hurra auf die Worte des Starosten antwortete, und selbst Stephan Sacharjew, obgleich er bei dem Gedanken, seine Frau und seinen neugeborenen Sohn verlassen zu müssen, erbleichte, schwang seine Mütze in der Luft und stimmte in den allgemeinen Ruf mit ein.

Bis spät in die Nacht blieb man beisammen, der Branntwein und der Quas, welchen der Fürst gespendet hatte, wurden bis auf den letzten Tropfen vertilgt, und wenn alle die kühnen, kampfesdurstigen Wünsche, welche hier gesprochen wurden, die Kraft der Verwirklichung gehabt hätten, so wäre in dieser Nacht schon das türkische Reich zusammengebrochen und das griechische Kreuz auf der Hagia Sophia wieder aufgerichtet worden.

Der Student aber war der Held des Augenblicks, ehrerbietig lauschte man seinen Worten, und der Starost, der ernst und traurig sich unter der immer aufgeregteren Versammlung bewegte, hätte in diesem Augenblick nicht wagen dürfen, so hoch sein Ansehen auch war, dem jungen Menschen zu widersprechen.


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