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XIX. Kapitel.

Still ist es um den Meister wieder geworden, doppelt still und einsam nach den geräuschvollen, begeisterungsfrohen Tagen.

Schuppanzigh, das »Falstafferl«, löst nach der Brandkatastrophe sein Quartett auf; Fürst Rasumoffsky hat die Kapelle entlassen; der Geiger geht nach Rußland; Hummel hat Aussicht auf eine Kapellmeisterstelle in Weimar: der Kreis zerstiebt.

Aber auch die Zeit ist still geworden. Unzufriedenheit ist die allgemeine Stimmung nach dem Kongreß; Katzenjammer stellt sich nach dem Festrausch ein, auch politisch. Zu hoch waren die Hoffnungen und Erwartungen gespannt – nichts ist geblieben als Mangel und Teuerung, Armut und Sorge, diese grauen Schwestern, wie immer in den Nachkriegsjahren.

Die grauen Schwestern umschweben nun den Meister mit ihrem dunklen Flor; der Gefeierte ist schon wieder ein Vergessener. Wandelbar ist die Gunst der Großen und der Menge. Er ist doppelt einsam, nachdem sich auch die Gräfin Erdödy zurückgezogen hat. Ihr Söhnchen ist nach kurzer Krankheit gestorben. Der Schmerz der trauernden Mutter drängt alles andere zurück, selbst die holden Pflichten liebender Freundschaft.

Die Stimmung des Meisters ist wirklich nicht rosig. Seine Hypochondrie wächst bedenklich. Er wettert gegen alles und gegen alle. Gegen den Hof, der für die Kunst nichts tue, gegen den Adel, der verarmt ist, gegen das neue reich gewordene Bürgertum, das von Kunst nichts versteht und sich musikalisch an den Bravourarien Rossinis berauscht.

»Alles Lump, von oben bis unten«, ist seine stehende Redensart. Die Polizei, die alles bespitzelt und jeden Unzufriedenen mundtot macht, läßt ihn indessen unbehelligt. Man hat Respekt vor ihm und läßt ihn schimpfen. Er macht reichlich Gebrauch von dieser Redefreiheit, die ihm allein erlaubt ist. Besuchern gegenüber und am Wirtshaustisch gießt er die Schale seines Unmuts über alles Bestehende aus: »Es geht hier lumpig und schmutzig zu. Niemandem kann man trauen. Was man nicht schwarz auf weiß hat, das tut und hält kein Mensch. Sie wollen, man soll arbeiten, und bezahlen wie die Lumpe und nicht einmal das Verabredete!«

Es ist eine deutliche Anspielung auf die Zahlungseinstellung seiner Rente und auf die sonstige Geldentwertung. Daß man ihn ob seiner Tiraden unbehelligt läßt, erweckt in ihm den Eindruck, daß Wien die freieste Stadt sei, wo man wenigstens seine Meinung sagen könne, wenn es auch weiter nichts nütze.

Da fällt mitten in seine graue Katerstimmung ein heller Sonnenstrahl. Die Prozesse gegen die Erben Kinskys und Lobkowitz' werden zu seinen Gunsten entschieden. Er ist wieder im Vollgenuß seiner Rente, wenngleich sie seit dem Staatskrach auch nur mehr ein Drittel wert ist. Immerhin! Es reicht ja zur Not – ein bescheidenes Heim zu zweien, der Kunst geweiht; einen Kreis erlesener Freunde um sich; ein Glück im Winkel an der Seite der Erwählten! Die Zeiten sind ja einfach geworden; die aristokratischen Bedürfnisse von einst sind ohnehin außer Kurs, und der Adel selbst lebt eingeschränkt wie der schlichte Bürger. Die Umstände sind also seinem Plane günstig: er ist entschlossen, der Misere des Junggesellendaseins ein Ende zu bereiten. Was er früher aus allzu großer Bedenklichkeit nicht gewagt hat, das ist er nun bedingungslos zu verwirklichen bereit: die Gründung eines eigenen Hausstandes.

»Auf Martonvásár!« Das Abschiedswort tönt in seiner Seele wie ein lieblicher Ruf von Klang und Kraft. Eine Sehnsuchtsmelodie. Von dort klingt es in Briefen immer schon fragend zu ihm herüber.

»Ich komme, ich komme!« jubelt er jetzt freudig auf. Er ist mit dem Schicksal ausgesöhnt: »Ich habe in Prozessen mit Fürsten und Grafen erfahren, daß Rang und Stand vor Gericht nichts gilt, denn ich habe meine gerechte Sache, auf der ich bestanden, gegen mächtige Herren durchgeführt und gewonnen!« Sein Lebensmut ist wieder hoch auf; seine Vorstellungen malen ihm die nächste Zukunft in berückenden Farben:

»Das stimmungsvolle Dorfkirchlein – die Unsterbliche im Brautschleier an seiner Seite – nur wenige Trauzeugen – dann die gesamte Dorfbewohnerschaft in ihren farbigen Trachten wie ein Blumenreigen – die quiekenden Dorfmusikanten: eine innigere Pastorale ist nicht zu denken – – –!« Auf Martonvásár harrt man seiner – – –

Kein Aufschub mehr; er betreibt alle Vorbereitung und setzt den Zeitpunkt fest: im Herbst zur Weinlese. Wenn das Laub sich rot färbt, ist es am schönsten auf Martonvásár. Die sanfte Elegie des Herbstes paßt schön zur Stimmung des späten Hochzeitspaares. Vielleicht, daß man sich dann in Ofen-Pesth häuslich einrichtet und in Wien nur ein kleines Absteigequartier unterhält für die eigentliche Saison. Arbeiten, Schaffen in der Landstille von Martonvásár; Anwenden und Erwerben in Pesth und Wien – – – Alte Träume und Wünsche stehen auf und werden Zwang und Wille.

Doch das Spiel dunkler Mächte setzt eine neue unbekannte Ziffer in die genaue Berechnung und verändert das Resultat.

Mitten in die Zurüstungen treten die grauen Schwestern ein, Sendbotinnen des »Dämons«, und bringen üble Botschaft:

»Bruder Karl liegt im Sterben!«

»O Gott, was ist denn geschehen!«

Mit fliegender Eile stürzt Ludwig ans Krankenlager des Bruders, den er schon lange Zeit nicht mehr gesehen hat. Noch findet er ihn am Leben; aber es geht zu Ende mit ihm. Ein Lungenübel, an dem er schon lange litt, Familienerbe, hat ihn hingestreckt. Aller Hader ist begraben und vergessen: die Bruderliebe Ludwigs flammt auf: er verwünscht Karls Vorgesetzte, die dem Bruder den Erholungsurlaub verweigert haben, und die er als Mörder Karls bezeichnet – –

Mit erlöschender Stimme bittet ihn der Bruder: daß er sich des verwaisten Sohnes annehme und ihm Vater sei mit Rat und Tat!

»Auf Handschlag!«

Sein Familiensinn ist nicht taub für solchen Appell. Ludwig war einst den Brüdern Vater und wird es auch dem Neffen sein. Diese Dinge sind ihm hoch und heilig; vor ihnen schweigt auch sein Eigeninteresse.

Sofort läßt Karl ein Testament aufsetzen und setzt darin den Bruder Ludwig zum Vormund ein. Eine Klausel fügt er hinein: es sei gegen seinen Willen, daß sein Sohn Karl von seiner Mutter entfernt werde. Ludwig und Frau Johanna sollen sich in die Aufgabe teilen und die Vormundschaft gemeinsam führen.

Seufzend lehnt sich Karl zurück; nun kann er ruhig sterben, und alsbald ist er erlöst.

Für Ludwig beginnen neue Aufregungen, Sorgen und Geschäfte.

Weit, weit sind alle Hochzeitsgedanken entwichen. Von der Reise nach Martonvásár ist jetzt keine Rede mehr. Neuerlich entschwebt vor seinen Augen das Glück, das er noch einmal am Kleidersaum erfaßt hatte, wähnend, es schon in seine Arme schließen zu können.

Aber diesmal tobt er nicht gegen sein fatales Geschick. Nicht einmal ein Klagewort findet er über die abermalige Enttäuschung. Das Unglück hat keinen Stachel mehr. Er ist unverwundbar geworden. Ja, er empfindet es gar nicht als ein Unglück. Ein neues Glück ist ihm beschert, darüber ist alles andere vergessen, vorläufig wenigstens.

»Ich bin Vater geworden – –!«

Er jubelt es fast; die Vormundschaft hat seine Gesinnung, Lebensverhältnisse und Ziele völlig verwandelt und in eine gänzlich andere Richtung gewendet. Weitab liegt Martonvásár.

Er hat keine Ehe, keine Familie – nur Familienlasten, und ist glücklich darüber.

»Ich bin Vater geworden – –!« Ein neuer Daseinszweck ist gefunden; er hat einen Gefährten seiner Einsamkeit gewonnen, eine Kinderseele, die er ganz an sich ziehen möchte und die er sofort zu etwas Großem bestimmt: »Der Knabe muß Künstler werden oder Gelehrter, um ein höheres Leben zu leben und nicht ganz im gemeinen zu versinken. Nur der Künstler oder der Gelehrte tragen ihr Glück in sich.«

Dieser naive Gedanke erfüllt ihn ganz und gar; sein bisheriges Vermögen soll für den »Sohn« Karl hinterlegt und vermehrt werden durch alle weiteren Einkünfte; er legt sich persönliche Einschränkungen auf und fühlt sich dadurch wieder »arm« geworden; er verschiebt künstlerische Pläne oder gibt sie ganz auf, ebenso wie seine Heiratsgedanken und sein persönliches Glück, um sich intensiver der neuen Aufgabe zu widmen. Mit Martonvásár kann jetzt ohnehin nichts werden, schon wegen des Trauerjahres, und überdies hat er Eiligeres zu tun – – –

Dieses »Eiligere« ist, das Kind von der Mutter zu trennen, deren Einfluß auf den Knaben dem strengen Vormund unheilvoll erscheint. Ein Gerichtsbeschluß ist bald erwirkt, nachdem der Meister den Beweis erbracht hat, daß die Mutter eine »unmoralische Person« sei.

Der Sohn wird von ihr weggenommen und von Onkel Ludwig in das Knabeninstitut des Kajetan Giannatasio del Rio gebracht, in dessen Familie der Meister freundschaftlich verkehrt.

Die Mutter wehrt sich wie eine Löwin, der man das Junge rauben will; sie strengt einen Prozeß an, der zum offenen Skandal wird und der ganz Wien in Atem hält, bis Ludwig als Vormund den Neffen Karl endgültig zugesprochen erhält. Er glaubt einen Treffer gezogen zu haben und will nicht erkennen, daß es eine Niete ist.

Zunächst hat er den Neffen im Institut glücklich untergebracht und wähnt ihn sicher gegen »den Einfluß seiner bestialischen Mutter«, dieser »Königin der Nacht«, die er also nennt, nachdem er in Erfahrung gebracht hat, daß sie bis 3 Uhr früh auf einem Künstlerball gewesen sei, und zwar: »nicht allein mit ihrer Verstandesblöße, sondern auch mit ihrer körperlichen – – –«

Die »Königin der Nacht« läßt nicht locker; sie weiß den Knaben immer wieder zu entführen; sie steckt ihm heimlich Naschwerk und Geld zu und schürt gegen den Onkel. Der Kampf um Karl wogt hin und her und wird mit äußerster Erbitterung geführt, nicht zum Vorteil des Knaben, der naturgemäß zur Mutter neigt und als Spielball oder Zankapfel zwischen den Parteien hin- und hergeworfen wird, wobei er Dinge sieht und hört, die ihm besser erspart geblieben wären und die seiner Charakterbildung nicht förderlich sind. Der Institutsdirektor merkt auch allzubald, daß der gute Meister das Talent des Jungen viel zu stark überschätzt hat; Karl, der nur äußerst mäßig begabt ist, scheint zwar weich und gutmütig veranlagt, läßt aber schon früh einen Hang zum Leichtsinn und vor allem zur Nichtstuerei erkennen. Del Rio prophezeit dem Freund schlimme Erfahrungen, worüber der liebende Vormund völlig aufgebracht ist.

»Karl ist ein ganz anderes Kind, wenn er einige Stunden bei mir ist!«

Und Karl versteht es bereits ganz gut, den guten Onkel bei der schwachen Seite zu nehmen, der oft ganz weich vor Rührung über die »liebe Waise« ist. So schroff und abweisend er auch sonst oft sein kann, seinem Karl gegenüber versagt der hilflose Mann in übertriebener Vaterliebe vollständig.

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel schlägt in Martonvásár die Nachricht ein, die Ludwig vom Tode seines Bruders und von seinen veränderten Verhältnissen gibt.

»Ich bin Vater geworden – – –« so beginnt sein Absagebrief, der indirekt eine Entschuldigung ist, indem er Klage führt über die atemraubenden Vormundschaftspflichten, die selbst seiner Muse den Zutritt rauben. In weltschmerzlicher Stimmung klingt das Schreiben aus.

Theresa ist bestürzt über die unerklärlichen Worte: »Gott helfe, du siehst mich von der ganzen Menschheit verlassen, denn Unrechtes will ich nicht begehen; erhöre mein Flehen doch für die Zukunft nur, mit meinem Karl zusammen zu sein, da nirgends jetzt sich eine Möglichkeit dazu zeigt – o hartes Geschick, o grausames Verhängnis, nein, nein, mein unglücklicher Zustand endet nie!«

Kein Wort über das Verhältnis zu ihr, und wie es damit in Zukunft sein wird.

Sie starrt in ein Rätsel. Die Zeilen erschließen einen Tiefblick in sein Inneres; sie sieht in ein düsteres Chaos von Empfindungen und kann es nicht entwirren. Denn sie weiß ja nicht, aus welchen Erfahrungen dieses schier unwillkürliche Geständnis erflossen ist. Sie weiß nichts von den Prozessen gegen Karls Mutter, die sein Leben unterwühlen und bald dem einen, bald dem anderen Teil Recht zusprechen; sie weiß nichts von den Geldsorgen, die er andeutet; sie weiß nicht, warum er sich so verlassen fühlt – – – Kann sich denn eine Seele verlassen fühlen, wenn die Liebe sie nicht verlassen hat?!

»Bin ich ihm nichts mehr? Zweifelt er an meiner Liebe? Oder ist es der Zweifel an seiner Liebe? Diese Sorge und Zärtlichkeit für Karl – – – und ich?!«

Furchtbar quälende Fragen, die sie in der Einsamkeit des Parks bestürmen!

Sie legt die Hände in den Schoß und träumt vor sich hin.

Die Vergangenheit zieht vor ihrem träumenden Sinn vorüber: die Tage der aufkeimenden Liebe in der frühen Mädchenzeit; der Liebesstreit mit der Schwester, mit Giulietta – sie muß lächeln zu diesen Erinnerungsbildern mit ihren Herzensstürmen und Tränenfluten, aus denen ihr seltsames Glück entsproßen war; dann die seligen Tage von Martonvásár, als ihr heimliches Brautglück auf diesem Leidensplatz erblühte; die lange, bange Zeit des Harrens bis zu Ludwigs Wiederkehr mit den Festen in Ofen und der stillen innigen Seelenfeier in Martonvásár zum zweitenmal, die einer nochmaligen Verlobung glich und neue festere Entschlüsse reifte, durch Treue und Standhaftigkeit zu siegen; die glanzvolle Kongreßzeit, die den Geliebten auf den Gipfelpunkt seines Ruhmes erhoben und zu dem Lorbeer den Brautkranz fügen wollte – um dicht vor dem Lebensziel den doppelten Kranz, der schon sichtbar über dem Haupt des Paares schwebte, wieder zu entreißen in jener unseligen Katastrophe; schließlich die Hoffnung auf eine stille Vermählung in Martonvásár, die dieser Brief zunichte gemacht hat – – –: es ist der Genius der Jugend und ihrer Liebesideale, der in solchen Erinnerungen vorüberzieht und Abschied nimmt – – –

Tränen entstürzen der armen Theresa; sie weint bitterlich wie um ein Verlorenes und schier Niewiederkehrendes: mit der Jugend ist die Hoffnung gegangen, und die Liebe trauert über ihrem eigenen Grabe – –

Der Herbstwind weht die Blätter von den Linden; sie stehen leer und recken die nackten Äste wie hilflos flehende Arme zum ungnädigen Himmel – – –

»Es scheint uns nicht bestimmt, das ersehnte Land der Verheißung zu betreten; nur von ferne dürfen wir das Glück erspähen, ergreifen nie! Dein Glück, nenn es Entsagung!«

Sie erwägt den Gedanken, das Verlöbnis aufzuheben und ihm einen Abschiedsbrief zu schreiben.

»Bin ich nicht schon eine Verlassene? Er hat mich vergessen: sein dunkler Brief verrät, was er sich selbst noch kaum gesteht.«

Da kommt plötzlich wieder ein Zeichen von ihm, das alle ihre Vermutungen und Absichten widerlegt und über den Haufen wirft.

Aus Leonorens großer Arie schreibt er ihr die Worte:

»Komm, Hoffnung, laß den letzten Stern des Müden nicht erbleichen,
O komm, erhell sein Ziel, sei's noch zu fern!«

Und als Beweis treuen Gedenkens sendet er ihr seinen neuen Liederkreis »An die ferne Geliebte«.

Die rührenden Zeugnisse eines unzerstörbaren Einklangs haben sie aus ihrer Schwermut erlöst und mit neuer Zuversicht gestärkt, so daß sie wieder vertrauensvoll in die Zukunft blickt, wo der Stern der Hoffnung nicht untergeht.

»Herr, ich will demütig sein und mich geduldig in alles schicken, was kommt! Meine Treue wankt nicht – in meinem Herzen hat kein anderes Idol Raum als er – – auch im Verzicht, wenn's anders nicht sein soll, bin ich sein – – –!«

So entladet sie in ihrem Tagebuch ihre bedrängte Seele.

Sie fühlt sich wunderbar getröstet. Ja, eine heroisch starke Leonore will sie ihm sein, ihm, ihrem Fidelio! Sie will nicht entsagen und verzichten, sondern ihm selbst der rettende Engel der Liebe sein, der ihn aus der finsteren Kerkerhaft seiner Qualen und Mißgeschicke herausführt.

Josephine ist mit ihrem Gatten Deym auf Besuch in Martonvásár; die Schwester faßt die Sache in ihrer zupackenden Art ohne Umstände an und fragt ganz unvermittelt:

»Was ist denn eigentlich mit euch?! Du verträumst die schönsten Jahre, und ehe du denkst, bist du eine alte Jungfer!«

»Ist das ein solches Unglück?« gibt Theresa zurück.

»Nun ja, Unglück ist's ja gerade keins«, meint Pipschen etwas verwundert darüber, daß man die Sache auch so ansehen könnte. »Nicht wahr, es wird ohnedies nichts aus eurer Verlobung?!«

»Das will ich nicht sagen«, antwortet Theresa ausweichend.

»Aber was überlegt ihr denn so lang? Wenn's noch eine Weile so fortgeht, wird's überhaupt zu spät!«

»Zu spät? Zu was?«

»Ich mein' halt, er denkt überhaupt nicht daran im Ernst.«

»Du, sei so gut!«

»Mit seiner Taubheit soll's ganz schrecklich sein – –«

»Ja, es ist recht arg damit; der Arme leidet sehr darunter – – –«

»Schreibt ihr euch noch?!«

»Du bist aber kindisch, Pips!«

»Na,« bemerkt sie nach einigem Nachdenken, »es wär' nichts für mich! Wenn ich denk', daß ich so verschossen war einmal! Na, ich war dir nicht neidisch deswegen, das weißt du, und hab' dir's immer vergönnt, das heißt, nicht so, nein, besser: ich hab' mir doch gedacht, daß ihr leichter euer Glück finden würdet – – –«

»Aber Pips, ich hab's doch gefunden – – –«

Pips macht ein etwas ungläubiges Gesicht.

»Du bist halt eine Heilige und machst Hochzeit im Himmel!«

»Aber Pips!«

»Na ja, ich sag's halt, wie ich mir's denk'; wenn er sich gar nicht rührt! Aufriegeln möcht' ich ihn! Herrschaft noch einmal! Entweder – oder! Auf was wartet ihr denn noch!«

»Oh, Pips, wir haben Zeit!«

Josephine zuckt die Achseln.

»Mit dir kann man aber auch kein gescheites Wort reden! Was sagt denn die Mama dazu?«

»Oh, Mama! Die ist es recht zufrieden so.«

»Weiß sie überhaupt schon von eurem Verhältnis?«

»Nein, wozu auch? Sie erfährt's noch früh genug, sobald es einmal Ernst wird.«

Es ist wirklich nichts zu machen für Josephine, sie blitzt mit ihren guten Absichten immer ab.

»Reden wir von etwas Gescheiterem, Pips; kennst du schon die neuen Lieder, die er mir geschickt hat?«

Sein Fühlen, seine Sehnsucht, seine Liebe strömte in diese Lieder: »An die ferne Geliebte«, sie waren der Ausklang seines Herzens und kündeten besser als seine Worte, wie es um ihn stand. Von der »Adelaide« bis zu diesem Liederkreis hatte er die Geliebte mit einem Kranz der Huldigung umflochten in immer steigender Verklärung, bis zu diesem höchsten schmerzverklärten Sehnsuchtslaut.

Theresa setzte sich ans Klavier und sang:

»Auf dem Hügel sitz' ich, spähend in das blaue Nebelland,
Nach den fernen Triften sehend, wo ich dich, Geliebte, fand.
Weit bin ich von dir geschieden, trennend liegen Berg und Tal
Zwischen uns und unserm Frieden, unserm Glück und unsrer Qual.
Ach, den Blick kannst du nicht sehen, der zu dir so glühend eilt,
Und die Seufzer, sie verwehen in dem Raume, der uns teilt.
Will denn nichts mehr zu dir dringen, nichts der Liebe Bote sein?
Singen will ich, Lieder singen, die dir klagen meine Pein!«

Pips war ganz weichmütig geworden und umschlang Theresa, indem sie ihr mädchenhaft zuflüsterte wie einst:

»Ach, es ist doch schön, so angehimmelt zu werden! Der Meinige ist ja ein guter Mensch, aber er tut's schon lang nimmer! Es ist doch auch wirklich was Schönes um so eine ewige Brautliebe! Bei uns geht's halt ganz hausbacken zu! Theresa, ich mein', am End hast du's doch noch besser, trotz allem!«

Sie war freilich rasch getröstet, als sie den wehen Klang verspürte und den leisen Verzicht, der in den Versen lag:

»Es kehret der Maien, es blühet die Au,
Die Lüfte, sie wehen so milde, so lau,
Geschwätzig die Bäche nun rinnen.
Die Schwalbe, die kehret zum wirtlichen Dach,
Sie baut sich so emsig ihr bräutlich's Gemach,
Die Liebe soll wohnen da drinnen.
Sie bringt sich geschäftig von kreuz und von quer
Manch weicheres Stück zu dem Brautbette her,
Manch weicheres Stück für die Kleinen.
Nun wohnen die Gatten beisammen so treu,
Was Winter geschieden, verband nun der Mai,
Was liebet, das weiß er zu einen.
– – – – – – – – – –
Wenn alles, was liebet, der Frühling vereint,
Nur unserer Liebe kein Frühling erscheint,
Und Tränen sind all ihr Gewinnen – –«

Theresa erhob sich und lächelte der Schwester zu. Ein Lächeln unter Tränen.

Pipschen umarmte sie stumm. Hier gab es keine Worte. Auch Theresa sprach nicht.

Das Geheimnis von Martonvásár blieb fest verschlossen in ihrer Brust. – –

Meister Ludwig hatte wieder die Wohnung gewechselt – wie oft schon? Er war aus dem Pasqualatischen Hause auf die Schottenbastei übersiedelt, von hier auf die Seilerstätte, in die Nähe der früheren Wohnung, die er dort inne hatte; aber er war auch hier nicht lange geblieben, dann auf die Landstraße gezogen, um dem Erziehungsinstitut näher zu sein. Also Karls wegen.

In der Familie Giannatasio ist er täglich abends Gast, der häusliche Kreis, in den er nun einbezogen ist, wird für den Einsamen eine Zuflucht; die beiden Töchter Fanny und Nanny tun ihm schön. Besonders Fanny, die jüngere, ist voll zärtlicher Aufmerksamkeit für ihn. Nanny ist Braut; ihr Verlobter, der gute Schmerling, ist auch taub, das gibt Verwandtschaft.

Der Meister ladet den Direktor mit seinen Töchtern und Karl nach Baden ein, wo er sich im Sommer immer wieder aufhält; der achtsamen Fanny fällt es auf, daß er im Gasthof mit dem Kellner um jede Semmel rechnet.

Er hat ein Loch im Ellbogen und will geschwind den Überrock anziehen, aber die Mädchen lachen, und er zieht ihn wieder aus:

»Jetzt haben Sie's ja doch schon gesehen!«

Fanny erkennt, daß es mit seiner Wirtschaft schlecht stehen muß. Sie ist voll Mitleid und möchte ihm gerne helfen.

Man kann sich nur mit ihm verständlich machen, wenn man sich ganz dicht an sein Ohr hält.

Fanny ist in arger Verlegenheit wegen der wirren Haare, die sein Ohr umfluten und ganz bedecken.

»Ja, ja,« sagt er, »ich muß mir die Haare schneiden lassen.« Aber es bleibt beim Vorsatz.

Sie sehen steif und struppig aus; Fanny findet, daß sie sehr fein sind, und fährt ihm mit den Fingern durch die Locken, der liebe, lose Racker.

Die Mädchen bekommen sein Klavierzimmer zur Übernachtung. Fanny durchstöbert neugierig das Notizbuch, das auf dem Tisch liegt; unter einem unleserlichen Durcheinander von wirtschaftlichen Aufzeichnungen findet sie. einen Satz, der ihr viel Nachdenken verursacht:

»Mein Herz strömt über beim Anblick der schönen Natur, obschon ohne sie.«

Sie kann darüber stundenlang nicht einschlafen.

Am anderen Tag beim Spaziergang durchs Helenental hört sie den Vater zu Beethoven sagen, während beide einige Schritte voraus sind, ob er sich von den traurigen Übelständen seiner Junggesellenwirtschaft nicht durch ein eheliches Band befreien könne, ob er niemanden kenne und dergleichen.

Fanny spitzt die Ohren. Sie ist neugierig auf seine Antwort.

Richtig, ihre langgehegte Ahnung bestätigt sich: er liebt unglücklich! Vor Jahren habe er eine Person kennengelernt, eine Verbindung mit ihr hätte er für das höchste Glück seines Lebens gehalten; es war eine Schimäre, und doch ist es noch wie am ersten Tag – – Er spricht von dem Verlust seines Gehörs, von dem elenden Leben, das er nun führen müsse – – –

Fanny ist ganz gerührt; die Schwester Nanny gibt ihr den guten Rat, sich nicht in Beethoven zu verlieben.

Die Arme ist wirklich in Konflikt mit sich selbst.

»Es ist ein Elend mit mir!« schilt sie sich, »immer diese Gedanken, die um so zudringlicher werden, je mehr man sie abschüttelt! Du hast es gut, Nanny, du hast deinen Bräutigam, und jetzt komponiert der Meister sogar dein Hochzeitslied – und ich?!«

Sie kämpft gegen die Schwester und eigentlich gegen das widerspenstige Herz.

»Weil's auch wahr ist! Doch besser ein Leben mit Liebe verwebt, wenn es auch manche unruhige Stunde bringt, als dieses leere tote Fortvegetieren eines warmen Herzens!«

Die gute Fanny faßt es beim rechten Ende an, die Schwester neckt sie damit; Fanny leugnet indessen:

»Und doch ist es nicht wahr! Ja, er könnte mir teuer, sehr teuer werden. Das soll er ja und darf es werden! Aber warum denn gleich an eine nähere Verbindung denken?!«

»Du denkst aber doch, Fanny!«

»Ach, wie könnte ich so eitel sein zu glauben, diesen Geist zu fesseln!« Diesen Geist? Oder dieses Herz? Ja, dieses vortreffliche Herz!

So streitet sie mit sich.

»Genug, genug!«

Sie will gar nicht mehr daran denken, es könnte ihr noch die Unbefangenheit rauben!

Die arme Fanny.

Ach, so gerne hörte sie ihn spielen! Sie deutet es oft an, ohne ihn gerade darum zu bitten; nie noch hat er ihren Wunsch erfüllt!

Daran ist der Vater Giannatasio schuld!

Hatte er doch zu Anfang der näheren Bekanntschaft zu dem Meister gesagt in der Meinung, ihm ein Kompliment zu machen:

»Meine Töchter spielen auch von Ihnen – – –«

Wie hat sich der Meister lustig gemacht über Eltern, von denen er so oft die Phrase hören mußte, die seine Geduld auf eine zu harte Probe stellte!

Seitdem wird kein Klavier beim Giannatasio angerührt; so schämen sich die Töchter wegen des Spottes.

Fanny ist die erste, die die Scheu überwindet; während er bei ihnen abends am runden Tische sitzt und in die Zeitung blickt, spielt sie sein »Kennst du das Land – – –«

Er tritt sofort näher, taktiert und gibt einige Unterweisungen.

Das nächste Mal bringt er sogar seine Lieder »An die ferne Geliebte« mit.

Fanny wagt einen kühnen Vorstoß.

Indem sie auf den Goldring an seinem Finger deutet, fragt sie ihn, ob er noch eine andere als die ferne Geliebte habe.

Ein Gespräch über Liebe und Ehe entspinnt sich, Fanny will ihm Herz und Nieren prüfen.

Er erklärt, daß ihm jede Art gebundenes Verhältnis unangenehm sei.

Fanny giftet sich über seine sonderbaren Ansichten.

Er hinwieder scheint es darauf angelegt zu haben, den Widerspruch der beiden Mädchen hervorzurufen, und erzählt ihnen, er sei sehr glücklich, daß keines der Mädchen, die er sich einmal eingebildet habe, seine Frau geworden sei; es sei ganz gut, wenn oft Wünsche nicht erfüllt werden.

»Ach, Sie werden Ihre Kunst immer mehr lieben als Ihre Frau«, bemerkt darauf die Schwester Nanny.

Und er sofort:

»Das ist auch ganz in Ordnung; nie könnte ich eine Frau lieben, die meine Kunst nicht zu würdigen verstände und nicht bereit wäre, vor ihr zurückzustehen und sich mit der zweiten Rolle zu begnügen oder mit der Stellung einer Hüterin meiner Muse!«

»Nun, wenn nicht anders, so wäre ich auch mit der zweiten Rolle zufrieden«, denkt Fanny, und ist sehr unwillig, daß sie der Meister wegen ihres Schlüsselkorbes »Frau Äbtissin« nennt. Sie will nicht Nonne sein. Daß er das gar nicht begreift!

Im Frühling bringt er ihr Veilchen:

»Ich bringe Ihnen den Frühling«, sagt er und klagt gleichzeitig über seine Koliken: »Das wird einmal mein Ende sein.«

»Nun,« versetzt Fanny flink, »das wollen wir noch lange hinausschieben!«

Und er:

»Ein schlechter Mann, der nicht zu sterben weiß; ich wußte es schon als Knabe von fünfzehn Jahren; freilich für die Kunst habe ich noch wenig getan!«

»Oh, deswegen können Sie keck sterben!« gibt sie schnippisch zurück.

»Auf mein Leben«, äußert er, »halte ich gar nichts, nur wegen meines Neffen!«

Und er spuckt in sein Taschentuch, fürchtend, darin Blutspuren zu entdecken. Der Arzt hat ihn ängstlich gemacht, er könnte lungenkrank werden: die Mutter und Bruder Karl sind an diesem Leiden gestorben, er hatte sich in der Jugend ja auch engbrüstig gefühlt.

Um diesen Neffen kreist sein Sinnen und Denken.

Fanny ist recht böse darüber. Man könnte wirklich eifersüchtig auf den Jungen werden!

Sie redet ihm ins Gewissen; es wäre besser, wenn er ihn mit seiner Liebe weniger tyrannisieren würde!

Das Wort Tyrann hat ihn schon früher einmal tief verwundet. Er will kein Tyrann sein. »Sieht man denn nicht, daß der Neffe mich tyrannisiert?!«

»Das ist wohl wahr«, gibt Fanny zu und wendet den Spieß wieder um: »So sehr, daß neben dieser Liebe für Karl jede andere in Ihnen verkümmern muß oder überhaupt gar nicht Wurzel fassen kann!«

Leider nützt das alles nichts; wie sie es auch versucht, alle Liebespfeile prallen ab oder gehen daneben.

Der Meister ist blind für die stille Liebe, die im Schatten blüht und sich vergeblich nach einem Blicke sehnt. Die kindliche Fanny ist in der Musenzahl die neunte, die ihm hold ist.

In Bonn waren es drei, die ihn umschwärmten und denen seine »Wertherliebe« galt: die Wilhelmine von Westerholt, die Jeannette von Horvath und Leonore von Breuning, die Unvergeßliche; alle drei aus dem Hof- und Beamtenadel. Eine unschuldige Zeit.

Im aristokratischen Wien waren es wieder drei, die dem Hochadel angehörten und ihn zutiefst ebenso glücklich als unglücklich machten: Giulietta, Josephine und Theresa, die Unsterbliche.

Und in der nachfolgenden romantischen Biedermeierzeit sind es abermals drei, bürgerliche Genien, die sentimentalische Gefühle nähren: Therese Malfatti, Amalie Sebald und Fanny del Rio.

Glücklicher, unglücklicher Meister! Er hatte sich immer nach treuer, aufrichtiger Liebe um seiner selbst willen gesehnt und seine Wünsche an Idealgestalten gehangen, die wieder zerfließen mußten, so daß nichts blieb als die »ferne Geliebte«.

Er sehnt sich nach einem geordneten Hausstand, nach Familienglück und glaubt keine Seele zu finden, die ihn verstehen mochte. Und doch verzehrt sich die ferne Geliebte auf Martonvásár und findet eine unbewußte Fürsprecherin in Fannys stiller Liebe, obwohl diese für sich selbst wirbt und ihm alles sein möchte, was er dunkel sucht und wünscht, oder jedenfalls braucht, wie Vater Giannatasio wohlmeinend auf den Busch klopfte – und der Einsame, Schwerhörige merkt es nicht!

Aber das gehört mit zu seiner Tragik oder zur Bestimmung seines Lebens, und die kluge Fanny, die fein Erratende, wird schon recht gehabt haben, daß neben seiner Kunst keine Frau bestehen könnte, außer der »fernen Geliebten – – – – – –«


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