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X. Kapitel.

Die Schwestern Brunszvik waren im Herbst nicht wieder nach Wien gekommen, obzwar Theresa in ihrem Abschiedsbrief an den Meister die Hoffnung durchschimmern hatte lassen.

Wie schwer hatte sich diesmal Theresa an das sonst gewohnte und geliebte Landleben gewöhnen können; wie schwer, ja unmöglich schien es ihr nun, als sich die Blätter rot färbten, der ländlichen Stille und Einsamkeit zu entsagen.

Gleich nach der Rückkehr auf Martonvásár fühlte sie sich namenlos unglücklich. Sie ging umher wie eine Abwesende. Mit Josephine sich auszusprechen wie früher, war ihr unmöglich. Sie hatte keine Worte. Auch keine Klage.

Und Josephine litt sichtbar selbst und mied es geflissentlich, das Gespräch auf den Meister zu bringen. Er schien für beide tot, begraben, eigentlich noch schlimmer: nie gewesen!

Aber der Sommer hatte Gäste gebracht, viel Arbeit, viel Abwechslung, viel Zerstreuung – und Vergessen.

Der junge Graf Deym war von Bruder Franz eingeladen worden, er lebte mehrere Wochen auf dem Schlosse; Josephine ritt mit ihm zu Pferde aus, ging auf die Jagd mit, tanzte, spielte, war glücklich und wieder unglücklich, je nachdem; denn der junge Deym war bis über die Ohren verliebt. Er machte Josephine einen Heiratsantrag.

Sie sagte nicht ja, nicht nein. Sie behielt sich Bedenkzeit vor: »Ein bis zwei Jahre!«

»Oho, Komtesse, warum denn nicht gleich ein halbes Jahrhundert?!«

Deym war wirklich unglücklich. Nicht einmal auf eine Verlobung wollte Josephine eingehen. Sie wollte völlig frei und unabhängig bleiben. In einem Jahr soll der Graf wieder anklopfen.

Der spannte was und zog Franz ins Vertrauen.

»Steht ein anderer dahinter?«

»I wo! Keine Spur! Du gehst am sichersten, wenn du auf ihre Kapricen eingehst!«

»Gut also! In einem Jahr!«

Machte kehrt, und ritt wieder heim.

Josephine, anfangs etwas angegriffen, sah wieder blühend aus, war munter und kreuzfidel, sang und pfiff den ganzen Tag wie ein Gassenjunge, fluchte mit den Pferden wie ein Roßknecht – und spielte wieder Beethoven.

Mit einem Wort, sie war wieder die Alte.

Anders Theresa. Ruhig wie immer. Aber sie war bleich wie eine weiße Rose. Gut und freundlich war sie ja stets; nun war sie doppelt sanft und geduldig. Eine Trösterin und Helferin für alle Armen und Leidenden, die nicht ahnten, wie sehr sie selbst des Trostes entbehrte, den sie anderen spendete. Die Heiligkeit des Schmerzes adelte ihr Wesen, und eine wunderbare Wirkung ging davon aus, daß das Volk im Dorf, das zur Schloßherrschaft gehörte, anfing, sie die »Heilige« zu nennen.

Ihr einziger Trost und ihre Zuflucht, als alles andere versagte, war ihr Tagebuch.

Da hinein spiegelte sie ihre Seele und ihr Leid, um aus dem Abbild wieder Halt und Kraft zu schöpfen.

»Also ist es doch wahr gewesen, was wir lange schon vorausgesehen haben,« schrieb sie bald nach der Rückkehr auf Schloß Martonvásár, »daß er Giulietta liebt. Gallenberg hat uns leid getan, als er nach seiner Niederlage unserer Mama sein Herz ausschüttete. Ich kann es dem Armen nachfühlen, wie traurig es ist, zu lieben und nicht wiedergeliebt zu werden. Und noch trauriger, den Geliebten oder die Geliebte an eine andere oder einen anderen verlieren zu müssen! Es ist schlimmer als der Tod! Der Tod trennt nicht so tief. Wir können dann zumindest wähnen, daß die geliebte Seele uns nahe ist, geheimnisvoll gegenwärtig, und daß wir hoffen dürfen, sie wiederzusehen. So bleibt man mit ihr doch immer verbunden und ist getröstet im Hinblick auf die ewige Wiedervereinigung. Wenn man aber jemanden durch das Leben verlieren muß, bleibt keine Hoffnung. Man hat nur ein Stück eigener Seele verloren und geht umher wie eine Halbgestorbene. Schlimmer noch! Man wünschte selbst, tot zu sein, und fände diesen Zustand als eine Wohltat gegen dieses elende Hinschmachten und stündliche, immerwährende Sterben und Ersterben. So lebe ich nun! Ich hatte dem Gallenberg nicht Glauben geschenkt, denn ich wußte, daß die Kusine ihn nicht recht mochte, und daß er auf B. eifersüchtig war und darum bloße Gespenster sehe. Aber es wurde uns Mehrfaches zugetragen. Fürstin Christiane nannte mich Märtyrerin, und die Erdödy schloß mich mitleidig in die Arme und weinte. Sie armes Kind! sagte sie voll Wehmut. Sie sprachen sich allerdings nicht näher aus. Schließlich hätten uns die anderen Zuträgereien nicht irremachen können, wenn wir nicht die Bestätigung durch unsere eigenen Wahrnehmungen fänden, die allerdings nur das vorbereitende Stadium dieser eigenartigen Liebe betreffen. Dann das unbegründete Fernbleiben Ludwigs, das uns am meisten schmerzte! Er hätte kommen müssen – ich hätte ihm nichts verargt! Wünsche ich doch nur sein Glück! Und fühle mich im Entsagen glücklich, wenn ich nur weiß, daß er seines gefunden hat. Wir waren ihm im Wege – er schämte sich vielleicht ein wenig vor uns – auch waren wir schon zuviel im Gerede: es blieb nichts Besseres zu tun, als eilige Flucht aus der Stadt in unsere tiefungarische Ebene und Einsamkeit! Ein Glück, daß Mama nicht merkte, was uns forttrieb und selbst wieder den Entschluß aufbrachte, aufs Gut zurückzukehren! So ist's geschehen! Oh, wieviel törichte Hoffnungen habe ich begraben müssen!«

»Wie freute ich mich sonst auf das Landleben, wenn wir im Frühjahr aus Ofen zurückkehrten! Jedes Gras, jede Blume betrachtete ich mit Entzücken! Die alten Bäume unseres Parkes waren meine Freunde, wie grüßte ich jeden einzelnen von ihnen! Sie kannten mich und rauschten mir zu. Ich fühlte ihren Segen, den ihre Kronen wie die Hand Gottes herabträufelten. Und jetzt gehe ich stumm und gleichgültig an allen vorüber, meine Freunde kennen mich nicht mehr! Wie köstlich empfand ich die Stille und die wohltuende Einsamkeit nach den anstrengenden Gesellschaftspflichten und Vergnügungen der Saison in der Stadt, die ich nie geliebt habe. Doch wie unerträglich ist mir nun diese Stille; wie schwer lastet die Einsamkeit auf mir. Ich vergehe! Oh, Entsagung! Was bist du für eine bittere Frucht! Es dünkte mir so leicht, und nun fühle ich, daß es meine Kräfte übersteigt! Und wandle suchend in der schweigenden Einsamkeit unter den Bäumen umher und fülle diese Stille mit meinen Seufzern! Oh, könnte ich doch wenigstens vergessen! Und gerade in diesem Schweigen werden die Schattenbilder der Vergangenheit lebendig und suchen mich heim wie Gespenster. Wenn ich schon entsagen muß – vergessen kann ich nicht!«

»Bei den Kindern in der Dorfschule, bei den armen Kranken in den Hütten finde ich ein wenig Beruhigung, die ich im Alleinsein vergeblich suchte. Wieviel Leid ist zu lindern, wieviel Hilfe vermag man doch zu bieten! Jetzt sehe ich erst, was man früher alles versäumt hat. Die Mädchen nähen und sticken lehren, den Frauen raten und helfen in der Kinderpflege, in der Hauswirtschaft, beim Kochen, in der Wartung der Kranken – oh, wieviel gibt es da zu tun! Und wie dankbar sind die guten Menschen dafür; um wieviel besser geht es ihnen jetzt in ihrem schweren Leben; ein bißchen Zuspruch, einige wenige Handreichungen, ein paar Gaben, und schon ist es, als sei ihnen die halbe Bürde abgenommen: alles in allem nur ein bißchen Liebe, und alles wird leicht und schön. Und doch sollte ich ihnen dankbar sein! Ich nehme mehr, als ich gebe. Unwiderstehlich zieht es mich zu den Armen und Ärmsten hin, ihnen fühle ich mich verwandt, und indem ich ihnen zu helfen glaube, empfange ich Trost und Stärkung in meinem eigenen Leid!«

»Gott sei Dank, daß nun wieder Gäste im Hause sind und etwas Leben beginnt! Ich bin für Josephine froh. Sie ist nicht Rivalin, sie ist Leidensschwester! Ich lese ihren Kummer, obwohl sie schweigt. Und verberge den meinigen vor ihr. Wir wollen nicht mehr rühren an dem Vergangenen! Nun bin ich so glücklich, zu sehen, daß sie wieder auflebt! Graf Deym ist ein so lieber Mensch! Ich würde viel darum geben, zu wissen, daß ihr Lebensglück gesichert ist. Sie verdient es, die Gute!«

»Sie spielt wieder Beethoven! Ich habe seit Wien keine Note angerührt. Und bin nun ganz benommen von den zauberischen Klängen! Ich wähnte vergeblich, daß in meinem Herzen alles abgestorben sei. Es sind Tote darinnen, die im Grabe leben! Wie mich diese Musik ergreift, ist unsagbar. Sie hat mein Innerstes ergriffen und aufgewühlt. Alles, was ich je empfunden, ist wieder lebendig. Ich spüre es zu mächtig, daß ich ihn lieben muß, wenn ich auch entsage. Daß ich liebe, kann niemand stören. Er wird es nie erfahren. Niemand. Mein Mund schweigt. Ich kann seine Musik noch nicht spielen. Sie erschüttert mich zu tief. Aber hören möchte ich sie; ich bin Josephine im stillen dankbar dafür. Aber sie soll nicht sehen, daß es mir Tränen entlockt!«

»Weinlesezeit, die mich sonst so fröhlich stimmt, ist vorüber, der Herbst ist da! Nie erschien er mir so wehmütig! Ich liebe ihn, er sagt meiner Stimmung zu. Josephine ist mit Mama und Franz nach Ofen gereist; der Bruder wird von dort nach Wien gehen und ihn wiedersehen! Wir haben beschlossen, Josephine und ich, nicht nach Wien zu fahren, es wäre mir ganz unmöglich. Mama ist es zufrieden und wird den Winter in Ofen verbringen. Ich werde Martonvásár kaum verlassen; die Stille, die mir anfangs so wehe tat, und die Einsamkeit sind mir jetzt Bedürfnis. Ich kann meine Pfleglinge im Dorf nicht im Stich lassen. Ich bin fast glücklich, jetzt allein zu sein. Und nun, wo mich niemand belauscht, in diesem köstlichen Alleinsein, bin ich nicht allein! Ich spiele Beethoven! Wie mächtig und zugleich liebreich spricht sein Geist zu mir! Er ist um mich! Die späte Herbstsonne ist so rührend mild! Täglich morgens, mittags und oft noch abends trat ich auf den runden Platz zur Schloßterrasse hinaus, der mit hohen edlen Linden bepflanzt ist. Jeder Baum trägt eine Inschrift, ist einem der erlesenen Menschen unserer Sozietätsrepublik gewidmet. Die schönste Linde trägt seinen Namen. Ich begrüße ihn jedesmal mit einem lieben guten Morgen und halte Zwiesprach mit ihm. Immer frage ich den Baum als Sinnbild für ihn, und frage ihn um dies und das, was ich gerne wissen möchte; er bleibt mir nie die Antwort schuldig! Nun rieseln sacht die Blätter und ich sehe schmerzlich zu, wie Blatt um Blatt fällt und im Winde hinwirbelt! Mir ist es, als ob auf jedem Blatt eine meiner Hoffnungen geschrieben wären und verwehen, dahin, dorthin. Bald wird der Baum leer stehen, nur mehr verzweigtes Geäst, das sich hilflos aufwärts wendet in Form eines großen Herzens! Mich fröstelt! Der Winter kommt früh. Wäre es doch bald Ostern, Auferstehung!«

Franz von Brunszvik ist gegen Wintersende nach Wien gereist, und hört zu seiner Verwunderung, daß Meister Ludwig sich bei seinen aristokratischen Freunden fast gar nicht habe blicken lassen. Man munkelt von einer schweren Krankheit, an der er laboriere, weshalb er jede Mitwirkung an den Gesellschaftskonzerten abgesagt und gebeten habe, von Besuchen abzusehen. Näheres weiß man nicht – oder will es nicht wissen.

Franz denkt, er müsse nun doch selbst nachsehen, und steigt mehrmals die Treppen auf der Seilerstätte in seine hohe luftige Behausung hinauf, ohne ihn anzutreffen.

Er versucht es schließlich ein letztes Mal; nach wiederholtem Klopfen und Läuten hört er Schritte in der Wohnung. Der Meister selbst öffnet ihm; es ist kein Diener da.

Das Vorzimmer ist nur trüb erleuchtet, Ludwig erkennt nicht sogleich seinen Freund und empfängt ihn still und finster. Und fällt ihm dann freudestrahlend um den Hals, als er merkt, daß es Brunszvik ist.

Sie sitzen nun eine Weile zusammen, es gibt Fragen hin und her, Ludwig erkundigt sich nach allem, nur nicht nach Theresa und Josephine; kein Wort. Er weicht dem Thema ängstlich aus, es will Brunszvik erscheinen, als ob sich der Meister nur auf Momente gewaltsam aus seiner finsteren Laune herausreiße und alsbald immer wieder in schweigende Trübseligkeit versinke. Er weiß nicht, daß der Unglückliche sich eine Art Maske zurechtgelegt hat und Misanthrop scheinen will, um seinen Zustand zu verbergen. Denn gerade heute hat er wieder einen Anfall von Ohrenschmerzen gehabt, wenn auch das Übel nicht mehr ganz so heftig auftritt wie im vorigen Sommer.

Sonst ist nicht viel aus ihm herauszubringen; der Freund wird nicht klug aus seinem Zustand; er empfiehlt ihm, mehr unter die Menschen zu gehen, sich zu erheitern, zu zerstreuen; alle Welt frage nach ihm und vermisse ihn schmerzlich.

Er ist ein lieber guter Kamerad, ein Herzensmensch, der edle Brunszvik, er denkt bei sich: der arme Ludwig ist ganz misanthropisch geworden, das ist seine Krankheit; man muß ihn aufheitern, und nimmt sich vor, ihn wieder der Gesellschaft zurückzuführen und nach Ofen und Martonvásár einzuladen. Aber der Meister atmet auf, als sich der Freund verabschiedet.

Ludwig arbeitet an einem Oratorium, das bis zum Sommer vollendet werden soll: »Christus am Ölberg«. Der heilige Stoff ist ihm Bedürfnis, aus seelischen Gründen. Er ist hoch und ernst gestimmt. Bruder Karl war von Krankheit heimgesucht; sein ehemaliger Gönner, der seelengute Kurfürst Maximilian Franz, den er kürzlich zum letztenmal sah, liegt im Hetzendorfer Schloß bei Schönbrunn im Sterben. Er selbst hat den Tod geschmeckt und Ölbergstunden gekostet. Noch ist das Übel nicht überwunden, der Dämon nicht besiegt.

Über seine Krankheit sind verschiedene Gerüchte im Umlauf. Sie gehen in der Hauptsache auf eine Quelle zurück.

Gallenberg, der sich eine Zeitlang still verhalten und durch eine Reise nach Paris von seiner Niederlage erholt hat, macht nach wie vor fleißig Besuch bei den Guicciardis, obgleich es ihm selten gelingt, Giulietta anzutreffen. Sie läßt sich entweder verleugnen oder weiß es so einzurichten, daß sie bei seinem Erscheinen nicht zu Hause oder gerade im Weggehen begriffen ist. Der Graf bleibt dann ruhig bei der Mama Guicciardi sitzen, die immer sehr erfreut und geschmeichelt ist und durch doppelte Liebenswürdigkeit die ablehnende Tochter zu entschuldigen sucht.

Von Gallenberg will nun Mama Guicciardi erfahren haben, daß Meister Ludwig an einer geheimen Krankheit leide, die die Folge seines ausschweifenden Lebens sei. Es heißt, daß er sich viel in gewöhnlichen Wirtschaften herumtreibe, bis spät in die Nacht beim Wein sitze und dann Händel suche. Hummel habe er dabei einmal recht übel mitgespielt. Durch seine unmäßige Lebensweise habe er seine Gesundheit untergraben und schließlich eine böse Krankheit erwischt, die ihn gesellschaftsunmöglich mache.

Die gute Guicciardi glaubte nun alles aufs Wort und war entsetzt. Sie war nun gerade auch keine, die ein Geheimnis länger als von 11 Uhr vormittags bis 4 Uhr nachmittags, nämlich zur Jause, wo man sich da und dort traf, bewahren konnte; und wenn man auch nicht alles für bare Münze nahm, etwas blieb doch hängen.

Giulietta war empört über diese neue Infamie Gallenbergs, der sich nun durch schlechte Nachrede zu rächen und vor allem die Stunden bei dem Meister zu unterbinden suchte, was ihm nur zu gut gelang. Die Eltern Guicciardi hatten längst Argwohn geschöpft und der Tochter Vorhaltungen gemacht über ihren allzu freien Umgang mit dem Lehrer; Giulietta jedoch wußte immer ihren Willen zu behaupten.

Aber auf diese entehrende Neuigkeit hin machten beide Eltern ihre Autorität geltend; es wurde Giulietta strengstens verboten, den Klavierunterricht bei dem anrüchigen Meister fortzusetzen.

Die Tochter fügte sich scheinbar, um weiteren Debatten vorzubeugen, und ging nun heimlich ihre eigenen Wege.

Das war nun freilich auch etwas erschwert; ihre Besuche wurden seltener. Aber gerade die Schwierigkeiten und Widerstände kitteten die Liebenden um so fester zusammen; heimliche Liebe ist ein Brand, der gerade in der Verborgenheit am heftigsten glüht.

Giulietta war von der Unschuld des Geliebten felsenfest überzeugt; sie wußte, daß alles nur Lüge und Intrige Gallenbergs war, der seine Hoffnung auf ihre Hand keineswegs aufgegeben hatte, mochte sie ihm noch so sehr ihre Verachtung zeigen; gerade seine beharrliche Werbung war es, die in ihr den Wunsch reifte, ihre Verlobung mit Ludwig bekanntzugeben und die Eltern vor eine vollendete Tatsache zu stellen. Hatte sie anfangs vielleicht nur mit dem Feuer gespielt, so war sie jetzt entschlossen, die Seine zu werden, um jeden Preis, mochten die Eltern nun dazu ja oder nein sagen. Dann hatte Gallenberg endgültig verspielt, und ihm diesen Streich anzutun, war sie zu allem bereit.

Jetzt war es allerdings der Meister, der zum Zuwarten riet. Die Sache mit der Oper schob sich ins Ungewisse hinaus, an ihrer Statt sollte wohl inzwischen das Oratorium herauskommen, das zweifellos großen Erfolg bringen werde, die Eroika war noch nicht zum Schluß gediehen; kurz es gab allerhand Gründe, den großen Augenblick abzuwarten, wo man als entscheidender Anwärter auftreten konnte.

Hauptsächlich aber war ihm um die Wiederherstellung seiner Gesundheit zu tun, was er im kommenden Sommer von einem abermaligen Aufenthalt in Heiligenstadt erhoffte. Über seinen Zustand äußerte er nichts zur Geliebten; sie ahnte nicht, daß ihm etwas fehle, denn so oft sie kam, war der Meister glückstrahlend, voll Kraft und kühner Zuversicht, voll von Ideen und Plänen, die alle reifen sollten. Die braune Hautfarbe seines Gesichtes war durch ein leichtes Rot wie von Sonne und Luft gehoben, die Backen voll und rund, sein Aussehen ein Bild kraftstrotzender, blühender Gesundheit. Nichts von stiller finsterer Miene, keine Spur von Misanthropie, auch nicht als angenommene Maske und Schein!

Wie erbärmlich sah doch der fahle, verlebte Gallenberg aus, dem ein wüstes Leben und frühe Ausschweifungen ins Gesicht geschrieben waren, eine deutliche Schrift! Und dagegen war Mama blind! Nun denn, Giulietta tut, was ihr Herz und Vernunft diktieren und nicht, was dieser Gallenberg will!

Mit Beginn der schönen Jahreszeit ist der Meister wieder hinaus nach Heiligenstadt gezogen. Die Guicciardis bleiben diesen Sommer in Wien: es ist also keine lange Trennung zu befürchten; Giulietta wird ihn draußen besuchen.

Zwischen Weinhügeln zieht die Herrengasse (Probusgasse) mit lieblich bescheidenen Winzerhäusern hin. Ein weites Gehöft, Haus Nr. 6, mit offenen Stiegen unter dem weit vorspringenden Dach, tut sich dem Eintretenden auf, Fässer und Karren, Weinbauergerätschaften stehen auf dem gepflasterten Hof umher; im Hintergrund erhebt sich ein freundliches Gebäude mit Hochparterre, ohne Obergeschoß, dessen Hauptfront mit großen Fenstern und Veranda jenseits in einen weitgestreckten Garten hinaussieht auf Rasengrün und Obstbäume.

In dieser lauschigen Verborgenheit schafft der Genius an seinem Werk. Lebensmut und Schaffensfreude sind wieder jäh aufgebrochen, zur Ekstase gesteigert; der Wunsch der Geliebten, mit den Eltern zu sprechen und um ihren Segen für den Seelenbund zu bitten, hat ihm Flügel gegeben – im Herbst muß viel erreicht werden, die Opernangelegenheit hat nun endlich greifbare Formen angenommen: die Zukunft steht herrlich da!

Den Kampfpreis wird er sich von keiner Macht auf Erden streitig machen lassen, am wenigsten von diesem Gallenberg, der ihn bereits einmal, und zwar für immer verloren hat!

Er hat seine Streichquartettinstrumente, jenes Geschenk Lichnowskys, mit aufs Land hinaus genommen und ist in sein geliebtes Cremoneser Cello von Guarneri versunken, das er gerne spielt.

Das Instrument mit den zierlichen Schnecken am Kopfende, dem schlanken Hals, den vollen und weichgerundeten Hüften, kokett geschürzt auf hohem Stachel, ist ihm geradezu Sinnbild der Geliebten. Er hält es zärtlich umfangen, als hielte er Giulietta im Arm, und spielt mit einer Innigkeit des Ausdrucks, als wollte seine Seele in der Seele der Geliebten ausströmen. Er fühlt ihre Nähe fast körperhaft; könnte er doch immer mit ihr in diesem innigen Austausch der Seelen leben, jenseits aller Worte!

In diesem Augenblick legen sich zwei weiche Hände von rückwärts um seine Augen; er sprang auf: Giulietta!

Sie stand schon lange hinter ihm; er hatte sie nicht gehört, als sie hereingetreten war!

»Ich wußte es nicht, aber ich fühlte deine Nähe; ich hielt Zwiesprache mit meiner Cremoneserin und dachte dabei nichts als dich!«

Die grünumrauschte Verborgenheit des Hauses hütete das Glück der Liebenden. Der Dämon war völlig gewichen, kein Sausen und Klopfen im Ohr, er war freudig gestimmt, und sie voll schalkhafter Anmut und Zärtlichkeit wie immer.

Dann, am Klavier, sang sie die schöne Arie: »Ah, perfido, spergiuro – –«, die er einmal in Prag, auf seiner einzigen Kunstreise nach Berlin, der reizenden Komtesse Josephine Clary gewidmet hatte.

Giulietta sang die italienische Bravour-Arie mit dem ganzen Temperament ihrer geradezu südlichen Leidenschaft.

Der geliebte Meister mußte es wohl zufrieden sein!

Doch um Gottes willen, welchen furchtbar erschreckenden Ausdruck nahm plötzlich sein Gesicht an! Sein Auge rollte wild, die Lippen zuckten, die Stirne zog sich finster zusammen, seine Züge verzerrten sich!

Eine entsetzliche Wildheit, halb Furcht, halb Zorn trat auf diesem Antlitz hervor, daß sie erschreckt plötzlich innehielt und von Angst geschüttelt war.

Er hatte wie ein Verzweifelter die Hände an die beiden Ohren gepreßt und schrie: »Fort, Dämon! Ich höre nichts! Ich höre die hohen Töne nicht mehr! Und habe kein Sausen, kein Klopfen im Ohr, nichts – – und kann diese Töne nicht vernehmen?! Oder willst du mich äffen?! Singst du die hohen Töne nicht?! Ach, Dämon! Weißt du schon, wie ich leide?!«

Er bemerkte ihre Ängstlichkeit; sie wollte im ersten Schreck nach der Tür fliehen und hinaus in der Meinung, er sei mit einemmal wahnsinnig geworden – aber er besann sich sofort und fragte sie mit tieftrauriger Stimme voll Sanftheit, ob sie absichtlich die hohen Lagen piano, pianissimo gesungen oder ungesungen gelassen habe, und bat sie um Wiederholung, allerdings im fortissimo, was sie mit zitternder Stimme tat: aber, o neuer Schreck! es klang wie von ferne, fast verhallend.

»Ich höre nichts!« sagte er in dumpfer Verzweiflung und ließ den Kopf sinken.

Sie sah ihn mit entsetzten Augen an, und verstand nicht sogleich.

Sein Geheimnis war ihm nun doch entschlüpft, und als sie ihn teilnehmend fragte, begann er stoßweise, mit fast schluchzender Stimme zu gestehen, welches Leiden ihn verfolge, welchen stillen Kampf er gegen diesen Dämon führe, wie dieses rätselhafte Toben im Ohr ihn gequält und unglücklich gemacht habe, wie er aber in den freien Momenten sich immer überzeugen konnte, daß sein Gehör ungeschwächt sei; nur jetzt, jetzt habe es ihn plötzlich verlassen, doch wieder nur bei den hohen Tönen – – –

»Aber das geht vorüber,« versuchte er sich und sie zu trösten mit einem schwachen Lächeln, »denken wir nicht mehr daran!«

Wie eine blitzartige Erleuchtung ging es über ihr Gesicht:

»Beginnende Ertaubung! Das also ist der wahre Grund des Geredes über seine geheime Krankheit. Fürchterlich!«

Ihre Herzlichkeit wurde künstlich.

Sobald es irgend anging, machte sie sich bereit zum Aufbruch. Früher, als er erwartete. Er bat sie dringend, bald, recht bald wiederzukommen. Morgen, übermorgen!

»Wenn möglich, ja!« erwiderte sie mit Vorbehalt.

Und eilte fort, als ob sie gejagt würde.

Der Wagen, mit dem sie gekommen war, wartete einige Gassen weit vor einer Schenke. Dort war sie ausgestiegen; der Kutscher sollte nicht wissen, wohin sie gegangen war. Sie trieb zur Eile an, als sie zurückfuhr.

Als sie heimkam, saß noch Gallenberg da. Es war zum erstenmal seit langer Zeit, daß sie ein freundliches Gesicht zeigte, zum Erstaunen ihrer Mama und nicht am wenigsten zu seinem eigenen Erstaunen.

Sie atmete auf, wie von einem Alp befreit.

Der Meister wartete an den folgenden Tagen; sie kam nicht.

Der treue Ries erschien zu Besuch und blieb ganze Tage und halbe Nächte.

Beethoven fühlte dankbar seine Nähe, er brauchte einen verläßlichen Menschen um sich.

Sie liefen stundenlang zusammen auf einsamen Spaziergängen.

Ries machte den Meister auf einen Hirten aufmerksam, der auf einer Flöte aus Hollunderholz recht artig blies.

»Hirte? Wo ist der Hirte?« Er hörte ihn nicht.

Nach einer halben Stunde fragte er, was mit dem Hirten ist, daß er verstummt sei.

Ries erklärte, daß er auch nichts mehr höre, indessen der Hirte noch immer recht kräftig und weithin vernehmbar blies.

Der Schüler hatte übrigens die beginnende Harthörigkeit des Meisters schon bemerkt, ehe dieser selbst noch eine Ahnung hatte.

Still und finster wanderte Ludwig weiter; auf dem ganzen Weg sprach er kein Wort mehr zu seinem Begleiter.

Vor dem Hause verabschiedete er Ries mit den Worten:

»Lassen Sie mich heute allein!«

Der Schüler sollte die Verzweiflung nicht sehen, die mit nie erhörter Gewalt über ihn kam, als er sich in seinem Zimmer allein wußte.

Acht Tage waren verstrichen, kein Zeichen von Giulietta!

Eine quälende Unruhe kommt über ihn. Sie, die einzige, die ihn aus der Verzweiflung retten kann und mit neuem Hoffen erfüllt! Weiß sie nicht, daß sie mit Sehnsucht erwartet wird, glühender als je?! Was zögert sie?! Ach ja, die Mutter! Man bewacht ihre Schritte! Sie kann sich schwer freimachen! Es gibt viele Entschuldigungen, aber keine einzige kann die Ungeduld bannen, mit der sie der Vereinsamte herbeisehnt.

Das Übel hat sich verschlimmert. Und das Beängstigende, daß es nicht der Klopfgeist im Ohr ist, der sich anscheinend zur Ruhe gelegt hat. Was er vordem nur befürchtete, ohne an die Möglichkeit zu glauben, war Gewißheit geworden: Ertaubung!

»Giulietta, mein Engel, meine Trösterin! Es sehnt sich nach Dir Dein Ludwig!«

Ries mußte das Brieflein besorgen.

Er hat es der jungen Gräfin selbst hinterbracht. Sie nahm es wortlos in Empfang.

Nun wieder Tage des Harrens.

Der Meister hat neue Ärzte konsultiert, den früheren traut er nicht mehr.

Er kommt heim, aschgrau, plötzlich gealtert, ein gebrochener Mann.

Seine Unheilbarkeit ist traurige Gewißheit geworden.

Auf dem Tische liegt ein Brief. Er kennt das Rosapapier, das zarte Parfüm, Maiglöckchen, die Schrift. Giulietta.

Er greift danach wie ein Versinkender nach einer rettenden Hand.

»Hab' Dank! Mein Engel, meine Hoffnung du! Mein alles!«

Er küßt den Brief demütig, eh er ihn öffnet.

Und dann bricht er auch schon zusammen.

Das Papier in den zitternden Händen, schwer stöhnend, läßt er sich in den Sessel fallen und liest immer wieder die paar dürftigen Worte, als faßte er den Sinn nicht:

»Teurer Meister!

Vergessen Sie mich, ich bin Ihrer nicht würdig! Ich muß den Willen meiner Eltern tun und bin nicht frei.

Ihre untröstliche
Giulietta Gräfin Guicciardi.«

Als sie neulich von ihm fortging, stand dieser Abschiedsbrief in ihr fest. Sie schrieb ihn erst, als er sie durch seine Liebesmahnung drängte. Sie war mit sich inzwischen vollkommen ins reine gekommen.

Liebe?! Wo ist sie? Verflogen, ein Rausch, ein Traum. Vorbei! Was hatte sie geliebt? Ihn?! Sie liebte sein Genie, seinen Ruhm, seine Zukunft! Die Geliebte, die Braut eines stolzen, vielumworbenen, genialen Mannes zu sein, ihn seinen Verehrerinnen, die ihn liebten, als Rivalinnen zu entreißen, den Sieg über sie davonzutragen, als er noch begehrenswert, dem nichtssagenden und ungeliebten Gallenberg zum Ärger, hatte ihrem Ehrgeiz geschmeichelt, sie wollte ihre Macht kosten, der Löwe mußte gebändigt zu ihren Füßen liegen, ein Herkules am Spinnrocken! Eigentlich war sie des Spiels schon längst überdrüssig, der Ernst reizte sie nicht. Er war nicht mehr begehrenswert! Ein tauber Musiker, mit dem es bergab gehen muß, und der nur mehr von einer Zukunft zehrt, die er bereits hinter sich hat, war doch keine Lockung für eine verwöhnte Gräfin Giulietta! Sie brauchte Reichtum, Wohlleben, Luxus um sich – dazu war nun Gallenberg gerade recht. Sie hatte eine romantische Episode hinter sich und einen Strich darunter gezogen. Diesen Brief noch, eine kleine Heuchelei – sie war getröstet. Und der Vorhang fiel über ein Geheimnis.

Ludwig schlug die Hände vor die Stirn; er wollte weinen und hatte keine Tränen. Er stürzte aufs Bett hin und blieb dort liegen, regungslos, stundenlang. Nur dieses furchtbare Stöhnen, das sich der gemarterten Brust entrang. Der letzte Halt war entglitten. Die Katastrophe vollkommen.

Todesgedanken, Selbstmordgedanken suchten ihn heim. Das Leben war wertlos geworden. Ein Ende damit machen – es schien ihm ein tröstlicher Ausweg.

Wo ist der Engel in dieser finstersten Stunde?! Ach, diese Pein verschmähter Liebe!

Die er für einen Engel hielt, sie war ihm nun eine Teufelin. Werkzeug seines Dämons, Dämon selbst!

O jene Nacht, wo er dem dunklen Zauber erlag, und sich sogleich die Krankheit meldete, die seiner empfindlichen Natur diese Wendung zum Schlimmen gab! Das Übel wäre nicht zu diesem unheilvollen Ausbruch gekommen, das ihn nun gänzlich ins Verderben stürzte!

So ist jetzt sein Denken, sein Fühlen.

Dort begann die Schuld, die unbewußte Schuld! Und jetzt die Reue!

Ein Engel war ferngeblieben – Leonore!

»Nein nicht, Leonore! Theresa!«

Wie ein milder Stern trat ihr gnadenvolles Bild nun aus dem zerrissenen Gewölk hervor, das seine Seele vernichtungsschwer umdräute.

»Der Engel Theresa! Sie war nicht fern – ich Unseliger!«

Der Mensch ist in Schuld geboren, und ehe er es ahnt, steht sie ungeheuer groß da und verlangt Sühne!

Vor ihm richtet sich das Kreuz auf, das Urzeichen alles Erdenschicksals und Erdenleids! Sein »Christus am Ölberg« ist aus eigener Schicksalsahnung geschöpft.

Engel Theresa! Es kommt wie schmerzensvolle Reue und Erkenntnis über ihn. Sie ist Sinnbild seiner Muse, unsterbliche Geliebte, nicht jene andere, die ihn treulos verlassen!

In der trostlosen Nacht dieser Verzweiflungszeit mit ihren Ölbergsstunden ist nur ein einziges fernes Lichtpünktchen: Engel Theresa!

Ein schwaches, ganz schwaches Pflänzchen Hoffnung ringt sich nach dem fernen winzigen Lichtpünktchen empor. Das Allerärgste ist dadurch verhütet.

Der winzige Strahl verschwindet wieder; Nacht ist, trostlose Nacht der Verzweiflung. Und nur noch die Ahnung, daß dort sternweit das Licht der Liebe wie ein kaum wahrnehmbarer Schein gegrüßt hatte, nur einen Augenblick lang.

Der Schleier des Geheimnisses breitet sich über die Tragödie von Heiligenstadt.

Verwühltes Antlitz, schmerzenswild, dreifach umschlungen
Vom Mantel seiner Einsamkeit, Verlassenheit und tauben Stille,
Hineingeweint die trocknen Tränen, die er seinem Dämon abgerungen.
Des Hirten Flötenlied, der Amsel Laut, lieblichste Ohrenweide –
Der taube Himmelsmusikant, er hört sie nicht!
Die Sterne rasen, Tonfluten über ihn und Gottesfülle,
Dem Lauscher in die Ewigkeit die taube Stille spricht,
Tragischer Sänger, du, des Liedes an die Freude!
Das Kleingetriebe hämmert in dem Hof, Weinfässer rollen,
Mißtönige Orchesterstimmen klangversöhnter Symphonica domestica
In bodenloser Kluft des Schweigens ohne Widerhall entsunken
Dem Menschensehnsuchtsvollen, menschenfern und sehnsuchtsnah
In seines Schicksals selig unseliger Verkettung!
In öder Zimmer admirablem Wirrwarr von Kleidungsstücken, Speiseresten, Notenrollen,
Der Gottheit zugewandt, in Ölbergsstunden aus dem Kelch getrunken,
Den ihm ein Engel dargereicht, Verzweiflung, innere Errettung!
Daß man aus seinem Leidenskelter Gotteswein verkoste!
Geschmiedet an den Fels der Einsamkeit, von der Gestirne Gang umschauert,
Wird Größe Kind, im Kleid der Demut hingekauert
Zum stammelnden Gebet, im Kreise würdiger Menschen würdig dazustehn!

O Menschen, wenn ihr einst dies lest zu eurem, unserm Troste,
Die wir, obschon wir litten, unbewußt hier glücklich waren
In unsren kleinren Leiden, werdet erst mit diesem Trank im Herzen wohlverstehn
Den heiligen Sinn, den diese Wege offenbaren!

Nur eine Kunde dringt aus der bodenlosen Kluft dieses Schweigens und wirft ein grelles Licht in das grauenvolle Dunkel: das Heiligenstädter Testament, das der Einsame, Unglückliche, Verlassene in diesen Tagen für seine Brüder Karl und (Johann) van Beethoven niederschreibt. Eigentümlich nur, daß er in der Überschrift den Namen des Bruders Johann ausläßt.

Ein erschütterndes Dokument, dieses Heiligenstädter Testament!

»Oh, Ihr Menschen, die Ihr mich für feindselig, oder misanthropisch haltet und erkläret, wie unrecht tut Ihr mir! Ihr wißt nicht die geheime Ursache von dem, was Euch so scheinet. Mein Herz und mein Sinn waren von Kindheit an für das zarte Gefühl des Wohlwollens; selbst große Handlungen zu verrichten, dazu war ich immer aufgelegt, aber bedenket nur, daß seit Jahren ein heilloser Zustand mich befallen, durch unvernünftige Ärzte verschlimmert. Von Jahr zu Jahr in der Hoffnung, gebessert zu werden betrogen, endlich zu dem Überblick eines dauernden Übels (dessen Heilung vielleicht Jahre dauern wird oder gar unmöglich ist) gezwungen, mit einem feurigen, lebhaften Temperament geboren, selbst empfänglich für die Zerstreuungen der Gesellschaft, muß ich früh mich absondern, einsam mein Leben zubringen. Wollte ich mich zuweilen einmal über alles das hinaussetzen, oh, wie hart wurde ich durch die verdoppelte traurige Erfahrung meines schlechten Gehörs dann zurückgestoßen, und doch war es mir dann noch nicht möglich, den Menschen zu sagen: sprecht lauter, schreit, denn ich bin taub! Ach, wie wäre es möglich, daß ich die Schwäche eines Sinnes angeben sollte, der bei mir in einem vollkommeneren Grade als bei anderen sein sollte, eines Sinnes, den ich einst in der größten Vollkommenheit besaß, in einer Vollkommenheit, wie ihn nur wenige von meinem Fache gewiß haben, noch gehabt haben – oh, ich kann es nicht! Darum verzeiht, wenn Ihr mich da zurückweichen sehen werdet, wo ich mich gern unter Euch mischte. Doppelt wehe tut mir mein Unglück, indem ich dabei verkannt werden muß. Für mich darf Erholung in menschlicher Gesellschaft, feinere Unterredungen, wechselseitige Ergießungen nicht statthaben. Ganz allein, fast nur soviel als es die höchste Notwendigkeit fordert, darf ich mich in Gesellschaft einlassen. Wie ein Verbannter muß ich leben; nahe ich mich einer Gesellschaft, so überfällt mich eine heiße Ängstlichkeit, indem ich befürchte, in Gefahr gesetzt zu werden, meinen Zustand merken zu lassen – – – – – – – – – – – –

– – – Aber welche Demütigung, wenn jemand neben mir stand und von weitem eine Flöte hörte und ich nichts hörte, oder jemand den Hirten singen hörte und ich auch nichts hörte. Solche Ereignisse brachten mich nahe an Verzweiflung, es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben. – Nur sie, die Kunst, sie hielt mich zurück. Ach, es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte, und so fristete ich dieses elende Leben – wahrhaft elend, einen so reizbaren Körper, daß eine etwas schnelle Veränderung mich aus dem besten Zustande in den schlechtesten versetzen kann – Geduld – so heißt es. Sie muß ich nun zur Führerin wählen, ich habe es. – Dauernd hoffe ich, soll mein Entschluß sein auszuharren, bis es den unerbittlichen Parzen gefällt, den Faden zu brechen. Vielleicht geht's besser, vielleicht nicht, ich bin gefaßt! – Schon in meinem 28. (?) Jahre gezwungen, Philosoph zu werden; es ist nicht leicht, für den Künstler schwerer als für irgend jemand. – Gottheit, Du siehst herab auf mein Inneres, Du kennst es, Du weißt, daß Menschenliebe und Neigung zum Wohltun drin hausen. O Menschen, wenn Ihr einst dies leset, so denkt, daß Ihr mir Unrecht getan, und der Unglückliche, er tröste sich, seinesgleichen zu finden, der trotz allen Hindernissen der Natur doch noch alles getan, was in seinem Vermögen stand, um in die Reihe würdiger Künstler und Menschen aufgenommen zu werden – – – .«

Im weiteren Verlauf dieses Testaments setzt er die beiden Brüder als Erben seines kleinen Vermögens ein und gedenkt mit Dank der ihm von Bruder Karl in der letzten Zeit bewiesenen Anhänglichkeit. Und dann heißt es weiter:

»Mein Wunsch ist, daß Euch ein besseres, sorgloseres Leben als mir werde. Empfehlt Euren Kindern Tugend: nur sie allein kann glücklich machen, nicht Geld; ich spreche aus Erfahrung; sie war es, die mich selbst im Elend gehoben, ihr danke ich nebst meiner Kunst, daß ich durch keinen Selbstmord mein Leben endigte. – Lebt wohl und liebt Euch!«

Auch der Freunde gedenkt er dankbar, besonders des Fürsten Lichnowsky und des Arztes Professor Schmitt, der ihn zuletzt behandelt hatte. Die Instrumente des Fürsten: die Violine und das Cello von Guarneri, die zweite Violine von Amati, die Viola von Vincenzo Ruger, sollen von den Brüdern aufbewahrt werden, doch möge kein Streit entstehen; er gestattet auch den Verkauf, wenn er ihnen dadurch auch noch unter dem Grabe nützen kann, und schließt mit den Worten:

»So wär's nun geschehen. – Mit Freuden eile ich dem Tode entgegen. – Kommt er früher, als ich Gelegenheit habe, noch alle meine Kunstfähigkeiten zu entfalten, so wird er mir trotz meinem harten Schicksal doch noch zu früh kommen und ich würde ihn wohl später wünschen. Doch auch dann bin ich zufrieden: befreit er mich nicht von meinem endlosen leidenden Zustand? – Komm, wann du willst: ich gehe dir mutig entgegen. – Lebt wohl und vergeßt mich nicht ganz im Tode. Ich habe es um Euch verdient, indem ich in meinem Leben oft an Euch gedacht, Euch glücklich zu machen: seid es!

Heiligenstadt am 6. Oktober 1802.
Ludwig van Beethoven

Einige Tage später fügte er einen Nachtrag bei, eine Anrufung an die geliebte Hoffnung, an die Vorsehung, an die Gottheit:

»Heiligenstadt am 10. Oktober 1802.

So nehme ich denn Abschied von Dir – und zwar traurig. – Ja, die geliebte Hoffnung – die ich mit hierher nahm – wenigstens bis zu einem gewissen Punkte geheilt zu sein – sie muß mich nun gänzlich verlassen. Wie die Blätter des Herbstes herabfallen, gewelkt sind, so ist – auch sie für mich dürr geworden. Fast wie ich hierher kam – gehe ich fort – selbst der hohe Mut – der mich oft in den schönen Sommertagen beseelte – er ist verschwunden. – Oh, Vorsehung – laß einmal einen reinen Tag der Freude mir erscheinen! So lange schon ist der wahren Freude inniger Widerhall mir fremd. O wann – o wann, o Gottheit – kann ich im Tempel der Natur unter Menschen ihn wieder fühlen! – Nie? – Nein – oh, es wäre zu hart! –«

Tief gebeugt, doch nicht gebrochen, obschon unendlich traurig erhebt sich der Überwinder zu neuer würdiger Fassung. Ein sittlicher Sieg ist errungen, die Seelenkrise überwunden. Er ist gerettet. Von außen kam keine Hilfe. Die Menschen konnten ihm nichts geben. Nur noch tieferes Leid ist ihm von ihnen geworden. Giulietta ist tot für ihn. Er hat sich diese hoffnungslose Liebe aus dem blutenden Herzen gerissen. Über Nacht ist sie abgeblüht, eine vom Frost befallene Blume.

Fast erleichtert atmet er auf, als wäre ein Alp von ihm genommen. Alle die Sorgen um ein standesgemäßes Leben, die Widerstände der Eltern, die Vorurteile, die zu überwinden waren – er fühlte sich diesen Dingen des realen Lebens nicht gewachsen; wie oft war ihm bänglich zumute in dem Gefühl, daß sie den Flug seines Genius niederdrücken, hemmen würden. Nun ist die Bahn frei – er denkt versöhnlicher von der Treulosen.

Er hat dem Schicksal wirklich in den Rachen gegriffen und es niedergezwungen. Es kann ihm nichts mehr anhaben. Er steht darüber und weiß seine Aufgabe.

Ruhig und gefaßt kehrt er in die Stadt, zu den Menschen zurück.


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