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V. Kapitel.

Der alte Diener Herzog hatte seine liebe Not. Er wußte, sein Herr liebte Damenbesuche nicht, und nun standen zwei blitzsaubere Frauenzimmer da und wollten durchaus vorgelassen werden. Sie gingen dem alten Grantian so liebreich um den Bart, daß er nicht umhin konnte, in seiner Frostigkeit einige Grade aufzutauen und ein wenig gesprächiger zu werden.

»Werden sehen, Euer Gnaden, auf mich geht das Donnerwetter nieder, wenn ich Euer Gnaden hinein laß!« beteuerte er. »Er hat mir's streng verboten; er will heut ganz ungestört sein. Nicht einmal den Fürsten Lichnowsky hat er empfangen; Seine Exzellenz ist ganz umsonst die vier Stiegen heraufgestiegen. Und der Fürst ist doch eine gewaltige Respektsperson und außerdem ein guter Freund meines Herrn – aber es hat alles nichts g'nutzt! Ich hab' auch nur den Kopf hineingesteckt bei der Tür, aber kaum hab' ich g'sagt: es ist wer da, gnädiger Herr! hab' ich schon einen solchen Binkel Grobheiten auf meinem grauen Schädel gehabt, daß ich g'schwind wieder retiriert bin. Nicht einmal Zeit hab' ich g'habt zu sagen: der Fürst ist draußen; vielleicht wär' er dann ein bisserl gnädiger umg'sprungen, aber ich glaub's nöt. I glaub's nöt! Da kennt er kein' Spaß, mein Herr; 's ist ihm alles eins, wer's is! Der Fürst ist ein guter Herr, der hat g'lacht, hat mir schöne Grüße auf'geben und ist halt wieder gegangen, 's ist wohl möglich, daß mein Herr freundliche Saiten aufziehen tät, wenn er wüßt, daß ein paar so saubere Frauenzimmer da sind – aber i trau mich nöt, i trau mich halt nöt! Und i glaub, er ist schief g'wickelt heut! Da ist er g'fährlich! Ich bin kein Hasenfuß, aber i trau mi nöt; er kann soviel schiach sein!«

»Es ist auch wahr,« sagte die größere, schlankere der beiden Besucherinnen, »wir können nicht zudringlich sein. So gehen wir halt wieder in Gottes Namen!«

»Pfui, Herzog,« sagte die andere lebhaft, »da haben wir Frauenzimmer wirklich mehr Courage als ihr Männer. Ich fürchte mich gar nicht. Und wenn Sie sich nicht trauen, so gehe ich selber und melde uns beide an; ich bin überzeugt, er wird uns nichts tun.«

»Das ist wohl möglich,« entgegnete Herzog bedächtig, »aber es muß doch wieder ich das Bad ausgießen. Ich hab' schon bei vielen gestrengen Herren gedient, aber was ich hier alles hab' anhören müssen – – – es ist nur ein Glück, daß ich eine Ehre im Leib hab', die hieb- und stichfest ist. Und er ist ja kehr-um-die-Hand wieder ein recht guter Herr, nein, da gibt's nichts zu sagen; mein Gott, Eigenheiten hat ein jeder Mensch; und wenn man lang gedient hat, lernt man allerhand kennen – –«

»Nun seien Sie nur beruhigt, Herzog,« tröstete die Entschiedene, »wir werden schon ein gutes Wort für Sie einlegen und alles auf uns nehmen.«

»Ich bitte dich, gehen wir«, sagte die andere. »Wir würden uns nur alles verderben; mir zittert sowieso schon das Herz!«

»Fällt mir gar nicht ein,« behauptete die erstere; »so nahe am Ziel und wieder umkehren? Dann wär's erst recht verloren! Ich habe es mir nun einmal in den Kopf gesetzt: jetzt oder nie!«

Der brave Herzog war schwankend geworden und überlegte, ob er's nicht doch wagen sollte, nachdem er dieses Beispiel von Mut und Entschlossenheit sah. Er stellte die übliche Vorfrage, die schon den Entschluß verkündete, daß er die Damen nun doch anmelden wolle.

»Mit wem hab' ich eigentlich die Ehr'?!«

»Sagen Sie nur, die beiden Damen Brunszvik – –«

Den Diener riß es sofort zu einer tiefen Verbeugung zusammen: »Ich bitt' tausendmal um Verzeihung, gnädigste Komtessinnen, daß ich vorhin so ungeschickt war und hab' von sauberen Frauenzimmern geredet; ich hab' nämlich gemeint, es wären vielleicht Damen vom Theater – – Aber die durchlauchtigsten Frau Gräfinnen, halten zu Gnaden, ich hab' noch den seligen Herrn Großvater gekannt, sind doch nicht saubere Frauenzimmer – – das heißt – –«

»Aber Herzog,« lachte die Lebhaftere, »sind wir also wirklich nicht sauber?«

»Aber ja, freilich, oh, was das betrifft,« beeilte sich der Alte zu sagen; »ich meine ja auch nur, weil ich mich so despektierlich ausgedrückt hab'; Frau Gräfin verzeihen mir's schon – – dafür aber geh' ich gleich, Sie anzumelden, koste es, was es wolle!«

Schon nach wenigen Augenblicken kehrte der Alte freudestrahlend wieder und bat die beiden Komtessen, Theresa und Josephine, einzutreten.

Der standhaften Josephine war jetzt aller Mut entsunken, sie fühlte sich mit einem Male als kleines Schulmädchen, das vor einer Prüfung steht. Auch Theresa, die gefaßter war, kämpfte mit Befangenheit. Vierspännig durch einen finsteren Wald von Räubern zu fahren, erschien ihr eine Kleinigkeit gegen das jetzige Unternehmen; János konnte sich damals nicht mehr fürchten, als sie es nun tat.

Meister Ludwig war selbst in einiger Verlegenheit. Er sah fast erschreckt aus, als ob er plötzlich eine himmlische Erscheinung erblickte; und wenn ihm auch war, als ob unvermutet das Glück in eigener Person sein Zimmer beträte und mit goldenem Sonnenglanz erfüllte, so war er doch im ersten Augenblick viel zu sehr überrascht, um die innere Freude, die er gleichwohl zutiefst empfand, so recht genießen zu können. Er war wie gelähmt und fand nicht gleich die rechten Worte des Willkomms; es sah aus, als sei er mißmutig und gar nicht erbaut über den ungewöhnlichen Besuch. So verlief die Unterhaltung anfangs steif und konventionell.

Der Meister hatte in der Eile ein paar Stühle zurechtgeschoben; auf dem einen lagen Kleider, die er kurzerhand auf den Boden warf; der andere hatte zerrissenes Strohgeflecht.

Die jungen Gräfinnen waren sichtlich berührt von dem Eindruck der Armut, den die unordentliche Behausung auf Frauengemüter machen mußte, die obendrein an vornehme häusliche Umgebung gewöhnt waren; Theresa schnitt es ins Herz, den gefeierten Meister, um den sich der kunstliebende Hochadel drängte, in solcher Dürftigkeit zu sehen, die nicht einmal in der schlechtesten Dienerwohnung anzutreffen war. Sie war von Mitleid ergriffen und doch zugleich voll Bewunderung über den Reichtum des Genius, der in solcher äußerer Entsagung sich so königlich zu verschenken wußte.

Josephine hatte indessen recht artig ihren Spruch aufgesagt, den sie schulmädelhaft sich zurechtgelegt.

Sie habe sich von Mama ein Namenstagsgeschenk erbettelt, nämlich die Erlaubnis, den Meister bitten zu dürfen, daß er ihren Musikunterricht übernehme. Das gelte auch für Theresa. Es wäre beider Herzenswunsch. Ob der Meister nicht ungehalten wäre über die Keckheit?

»Jetzt sag' du auch was!« fuhr sie heraus, zu Theresa gewendet.

Theresa wußte nichts zu sagen. Sie meinte nur, Josephine habe nach ihrem eigenen Herzen gesprochen. Das heißt, auch nach Theresas Herzen.

Meister Ludwig lächelte. Zwei edle Frauenwesen, die ihm in den glänzenden Rahmen der aristokratischen Gesellschaft so hoheitsvoll erschienen waren, als hätten nur sie Gnaden zu vergeben, so daß seine Seele zu ihnen im stillen beten ging, konnten nun in so bescheidener kindlicher Art bitten um etwas, das von vornherein gewährt war, wenn sie sich nur herablassen wollten, es zu nehmen. Nichts Lieberes konnte ihm ja geschehen, als sich ihnen nähern zu dürfen und sie an der Tafel seiner Kunst zu bewirten! Und was er in seinen kühnsten Träumen nicht zu hoffen wagte, das verlangten sie nun selbst, und wie demütig sie es verlangen, die nur zu befehlen brauchten!

Aber er sagte nicht, was er dachte, denn er war selbst viel zu befangen in seiner Verwunderung und seinem glücklichen Erschrecken.

Josephine wollte es bedünken, als ob dieses Lächeln nichts Gutes bedeute, und er sich lustig mache, um sie für ihre Verwegenheit zu strafen. Sie ärgerte sich schon, jemals einen solchen törichten Wunsch gehegt zu haben, und dachte schon an den Rückzug.

Aber da sagte Meister Ludwig wieder zum höchsten Erstaunen der beiden Bittstellerinnen, die auf alles andere gefaßt waren:

»Also, fangen wir gleich an!« Indem er Theresa anblickte, die fast wie ein Schulmädel eine Musiktasche unterm Arm trug: »Was haben Sie denn da?«

Sie zog eine Sonate Beethovens hervor, die für Klavier, Violine und Cello gesetzt war. Er ließ sie sofort an den Flügel setzen; sie wunderte sich insgeheim darüber, daß das Instrument so verstimmt war, und spielte darauf los. Und sang unbekümmert die Violin- und Cellobegleitung dazu. Dabei schwand alle Furcht und Befangenheit. Als sie geendet hatte, dachte sie ängstlich:

»Mein Gott, was wird er wohl denken! Es war doch eine recht große Stümperei, mit der ich den anspruchsvollen Meister gequält habe! Schon viel zu viel kostbare Zeit habe ich ihm geraubt!«

Aber er war sehr liebreich und gut und lobte Spiel und Gesang; und als auch Josephine ihren Part vorgespielt hatte, erklärte er, daß er von beiden Leistungen entzückt sei und gern ins Haus kommen wolle.

Darüber war unbändige Freude, und beide Mädchen erzählten nun, wie sehr sie sich vor der Probe gefürchtet hätten, und wie sie im Vorzimmer schon alle Hoffnung begraben hätten, ans Ziel ihrer Wünsche zu kommen. Dann lachten alle zusammen über die Szene im Vorzimmer und über den guten Herzog, der sie in treuer Besorgnis für seinen Herrn weggeschickt hätte.

»Das wäre ihm übel bekommen«, äußerte der Meister.

Das mit den »sauberen Frauenzimmern« machte ihnen den größten Spaß.

Es war beschlossen, daß der Meister schon am nächsten Tag, etwa um 12 Uhr mittags, im Hause Brunszvik erscheinen sollte, die Woche ein- oder zweimal, je nachdem er Zeit und Lust habe.

Zum Schluß schieden sie wie alte Freunde, die seit vielen Jahren miteinander vertraut sind.

Die gräfliche Mama, die sich mit der romantischen Idee ihrer Töchter noch gar nicht abgefunden hatte und im stillen hoffte, der Künstler werde hochmütig ablehnen, sah sich sehr enttäuscht. Die Töchter konnten nicht genug rühmen, wie freundlich und zuvorkommend der Meister war.

Giulietta, die auf einen Fünfminutenbesuch gekommen war, weil sie gerade »zufällig« vorbeigegangen war und nun schon seit fünf Viertelstunden auf die Rückkehr der Kusinen harrte, hörte alles ruhig an. Je mehr die beiden Glücklichen schwärmten, desto schweigsamer wurde sie.

Josephine konnte sich nicht versagen, der schönen Kusine einen Stachel zu versetzen:

»Aber es war doch recht albern von dir, daß du nicht mitgekommen bist.«

»Du weißt doch, daß ich mich nicht interessiere! War übrigens sein Schüler da?«

Josephine stutzte: »Sein Schüler?! Was für ein Schüler?«

Giulietta verbesserte rasch: »Wer sagt denn sein Schüler? Er ist doch Klavierlehrer und hat gewiß viele Schüler. Ich meinte nur, ob überhaupt noch ein anderer Schüler außer euch anwesend war.«

»Nun aber, Klavierlehrer in diesem Sinne kann man doch nicht sagen!« entrüstete sich Josephine. »Es ist eine besondere Gunst oder Auszeichnung für jeden, dem er gestattet, sich Schüler zu nennen; er ist kein Professionist.«

»Wenn du mitgekommen wärest, würdest du ihn besser kennen, Giulietta«, sagte sanft verweisend Theresa.

»Aber ich kenne ihn ja«, entgegnete die Giucciardi.

»Du kennst ihn?« Josephine sah sie gespannt an.

»Nun ja, durch euch!« erwiderte der Neckteufel mit der unschuldigsten Miene.

Als die Kusine fort war, meinte Josephine: »Du wirst sehen, sie kommt jetzt jedesmal, wenn wir Stunde haben. Sie ist ja geplatzt vor Neugier, sonst wär' sie nicht um jeden Preis so lange dagesessen, bis wir kommen!«

Josephine hatte sich geirrt. Giulietta kam nicht während der nächsten vierzehn Tage, als der Unterricht bereits im Gang war.

»Du hast ihr Unrecht getan, Pepi«, sagte Theresa vorwurfsvoll.

»Sie schmollt, weil wir sie nicht mitgenommen haben«, erwiderte wegwerfend Josephine. »Laß sie trotzen.«

»Wir müssen sie wieder gutstimmen«, war Theresas Absicht.

Josephine dachte anders.

»Laß sie nur selber kommen. Du wirst sehen, sie kommt zuckersüß, ohne daß du sie rufst.«

Meister Ludwig war auf Tag und Stunde pünktlich erschienen, war aber statt einer Stunde deren vier bis fünf geblieben.

Und auf die Frage Theresas: »Wann dürfen wir Sie wieder erwarten?« sagte er, statt in einer Woche, mit größter Bestimmtheit:

»Selbstverständlich morgen!«

Die Gräfin-Mutter wollte etwas einwenden; aber Josephine klatschte freudig in die Hände, und Theresa dankte mit solcher Emphase, daß ihr selbst nichts anderes übrigblieb, als mit süßsaurer Miene ihre Freude über den Eifer auszudrücken, der ihre Töchter in der Klavierkunst so rasch vorwärtsbringen sollte.

Er kam denn auch durch Wochen fast jeden Tag um die festgesetzte Stunde und blieb bis zum späten Nachmittag oder Abend.

Der eigentliche Unterricht nahm die geringste Zeit in Anspruch und trat immer mehr in den Hintergrund. In der Hauptsache wurde gemeinsam musiziert; Franz, der Bruder, nahm häufig daran Anteil und wurde mit dem Meister eng befreundet; oft aber phantasierte der Künstler allein auf dem Klavier, und das waren die Stunden der höchsten musikalischen Erbauung. In dem gräflichen Hause, umhegt von der Verehrung der beiden Mädchenseelen und von der Freundschaft ihres Bruders, fühlte sich der Künstler, stets angeregt zur Aussprache in Tönen, zu jener geheimnisvollen Zwiesprache der Seelen, die so unbeschwert nur in der Musik möglich ist.

Die Mama saß anfangs steif da im Bewußtsein ihrer Verantwortung als Mutter und Gardedame; allmählich wurde sie geschmeidiger; ihre vorgefaßte Abneigung gegen den Meister wich einer freundlicheren Auffassung, sie gestand, daß er, je mehr man ihn kenne, desto mehr gewinne; die orphische Kunst des Meisters hatte auch dieses versteinerte Herz bezwungen; sie wachte jetzt nicht mehr so argwöhnisch auf die Etikette, sondern ließ die jungen Leute oft allein, und es schien, als betrachtete sie Ludwig gewissermaßen zum Familienkreise gehörig – so kam es, daß der Meister oft mit den beiden Mädchen oder auch nur mit Josephine oder Theresa allein war.

Selbstverständlich wurde auch nicht immer Musik gemacht, sondern von allerlei Dingen geplaudert, wie es unter Menschen geschieht, die sich liebhaben und einander entdecken wollen, um voneinander seelisch mehr und mehr Besitz zu nehmen. Dann will man gern auch das Vergangene wissen, alles was vorher oder jenseits des Beginns der Bekanntschaft liegt. Josephine erzählte mehr von sich und von dem Leben und Treiben auf dem Schloß Martonvásár, wo die Familie größtenteils lebte, von den Gutsherrlichkeiten und Vergnügungen auf dem Lande; Theresa hingegen war für alles interessiert, was den Meister und seine Jugend betraf, und war unermüdlich in ihren unauffällig zudringlichen Fragen, die gerne beantwortet wurden, weil der Künstler stets mit Vorliebe in Erinnerungen an seine Bonner Jugend, die selige Insel der Kindheit, schwelgte, die nun, ewig entrückt, im Verklärungslicht lag, höchstens von dem hohen Flug der Sehnsucht heimgesucht.

»Erzählen Sie mir doch etwas von Ihrer Frau Mutter«, bat Theresa mit sanfter, fast zärtlicher Stimme, als ihre Hände am Klavier ruhten.

Das war das rechte Thema für Ludwig.

»Meine liebe, gute Mutter«, begann der Meister, der von ihr immer mit großer Liebe und Verehrung redete, »war eine schöne, stille Frau, die das Leben einer Dulderin führte. Ich habe sie fast niemals lachen gesehen. Das besorgte schon der Vater, der immer guter Dinge war, wenn auch oft recht barsch und aufbrausend.« Vom Vater erzählte Ludwig übrigens nicht viel; es lag wie ein Schatten in seinem Gemüt, daß der Vater oft betrunken war und daß die Kinder dann häßliche Szenen mit ansehen mußten. Schon als Knabe hatte sich Ludwig geschämt, wenn der Vater dem Wein mehr zugesprochen hatte, als ihm gut tat, und dann zu tollen Streichen aufgelegt war. Er erinnerte sich, wie er mit den Brüdern oft den Vater Johann aus lustiger Weingesellschaft fortgeschmeichelt und nach Hause gebracht hatte unter fortwährenden liebreichen Anrufungen: »O Papächen! Papächen!«, und wie er später nach dem Tode der Mutter, als es mit dem Manne immer mehr bergab ging, ihn aus den Händen der Polizei entriß, die den lärmenden Trunkenbold wegen nächtlicher Ruhestörung verhaften wollte. Die Sache hatte damals ein böses Nachspiel gehabt; der Vater, der schließlich auch den Hofdienst vernachlässigte, hatte seine Entlassung erhalten, nachdem seine Stimme als Tenorist unbrauchbar geworden war; die Hälfte seiner Pension wurde Ludwig zugesprochen, der für die Erziehung seiner Brüder zu sorgen hatte und gleichsam die Vaterstelle an ihnen vertrat; aber auch diese Hälfte des Jahresgehaltes hatte der Vater unterschlagen und vertrunken – – – Oh, es waren bittere Zeiten! Er wischt sich über die Stirn, um eine flüchtige Trübnis fortzuscheuchen, die sich immer ungerufen einstellt, sobald seine Gedanken in das Elternhaus zurückkehren.

Es war eine Jugend im Schatten. Trotzdem findet er sie nicht unglücklich. Jugend kann nicht eigentlich unglücklich sein. Sie hat ein Glück in sich, ein Himmelsgeschenk, unabhängig von allem Äußeren. Und dieses geheime Glück hat auch der kleine Ludwig genossen. Musik und Natur waren die Genien seiner Kindereinsamkeit. Einsam war er wohl, denn die Mutter nähte und strickte von früh bis abends, sie verfertigte kunstvollen Kopfputz, den vornehme Damen schätzten, ein unentbehrlicher Wirtschaftsposten, damit sie das Notwendigste bestritt, daran es der lebenslustige Vater nur zu oft fehlen ließ. Nur daß leider die Anstrengungen, auch Gram und Sorge, ihre Gesundheit erschütterten und Grund legten zu dem Lungenübel, daran sie litt. So blieb der Knabe Ludwig meistens sich selbst überlassen, was übrigens seinem Hang zur Einsamkeit recht entsprach. Es fehlte trotzdem nicht an freundlichen Nachbarn, die ein Auge auf den Jungen hatten. Das waren der Bäckermeister Gottfried Fischer und seine ältere Schwester Cäcilie, in deren Hause in der Rheingasse zu Bonn die Eltern Beethovens wohnten und Ludwig den größten Teil seiner Jugend verbrachte. Die Fischers führten eine Hauschronik, darin viel von Ludwig und seinen Knabenstreichen die Rede war, denn der Vater Johann hatte früh die Aufmerksamkeit seiner Umwelt auf seinen Ältesten gelenkt, den er durchaus zum Wunderkind nach Art des Knaben Mozart stempeln wollte, was indessen nicht nach Wunsch gelungen ist. In allen Tonarten rühmte er den Sohn und sagte oft voll Stolz den Fischers: »Mein Ludwig wird von allen bewundernswürdig angesehen. Die wir hier versammelt sind, werden es noch erleben – –« Die Fischers vermerkten alles getreulich in ihrer Hauschronik. Eine angehende Berühmtheit im Hause zu haben, war doch auch eine Sache, auf die man als Hauseigentümer sich was einbilden durfte. Der Bäckermeister zog darum auch immer wieder die Wohnungskündigung zurück, mit der er jedesmal drohte, wenn Vater Johann es mit seiner Hausmusik zu arg trieb und bis in die Nacht hinein fiedelte, wozu meistens Gäste geladen waren, die seinen Ludwig gebührend bewundern sollten. Das war indessen gar nicht nach dem Sinn des scheuen Knaben, dem es das liebste war, wenn er allein sein konnte. Dann war er ganz er selbst. Langeweile fühlte er nicht. Oft lag er morgens im Fenster, den Kopf in beide Hände gestützt, den Blick starr auf einen Punkt gerichtet, ohne auf Cäcilie Fischer zu reagieren, die über den Hof ging und ihn vergeblich anrief.

»Nun schön,« sagte sie, »keine Antwort ist auch eine Antwort.«

»O nein, das nicht,« hatte der kleine Ludwig sich entschuldigend geantwortet, »ich war da in einem so schönen tiefen Gedanken versunken, da konnte ich mich gar nicht stören lassen.«

Es steckte in dem kleinen Ludwig eben schon der große Ludwig. Was der alte Diener Herzog mit Besuchern wie den Fürsten Lichnowsky, den Brunszviks und anderen erlebte, das zeigte sich schon in jungen Tagen als die wurzelhafte Anlage, die alle äußere Welt um sich her vergessen und versinken ließ, wenn die Muse ihren Liebling segnete und mit »schönen tiefen Gedanken« heimsuchte.

Der Meister mußte kindhaft lächeln, als ihm die kleinen Kindererlebnisse einfielen, die er nun zum besten gab.

»Eines Tages war es uns eingefallen, das Eiernest im Hühnerstall auszuheben. Das trieben wir, meine beiden Brüder und ich, eine Weile fort, bis mich Cäcilie Fischer im Stall ertappte. Ich tat, als wäre mein Taschentuch hineingefallen, das ich suchen wollte. ›Also darum sind so wenig Eier da?‹ meinte die Bäckerin. Und ich: ›Es gibt Füchse, die die Eier holen.‹ Darauf sie: ›Ich glaube, du bist einer der Füchse!‹ ›Ja,‹ sagte ich, ›ein Notenfuchs!‹ Und sie flink: ›Nein, ein Eierfuchs!‹ Aber sie nahm die Sache nicht weiter tragisch, und wir ließen das Geschäft künftig sein.«

Der Meister sann eine Weile nach: »Habe ich die Geschichte von dem Hahn schon erzählt?«

Theresa, die nicht genug hören konnte, bat darum.

»Wir hatten einmal einen verflogenen Hahn abgefangen. Meine Brüder hielten ihm den Hals zu, daß er nicht schreien konnte, und brachten ihn auf den Speicher. Ich hatte indessen die Magd ins Vertrauen gezogen und angeordnet, daß er für Papa und Mama gebraten werden sollte, die nicht wenig überrascht waren über das unerwartete Geschenk. Ich war übrigens der Meinung, es sei ein altes Recht, daß man behalten darf, was einem morgens früh auf dem Hofe zufliegt. Der Haussohn Johann Fischer meinte allerdings am anderen Tag, der Hahn müsse ein Musiker gewesen sein, denn er habe mit Altstimme gesungen. Nun denn, als er genug gebraten war, ist er auch der Altstimme müde gewesen.«

Am liebsten erzählt er von der Mutter, zu ihr kehren die Erinnerungen im Kreise immer wieder zurück.

»Der Magdalenentag war wohl der schönste Tag im Jahre. Es war Mutters Namenstag. Der einzige im Jahre, wo sie zu gebührenden Ehren kam. Da ließ der Vater am Vorabend die Notenpulte herbeischaffen; die beiden Zimmer nach der Straße wurden festlich geschmückt mit Lorbeerbäumen, Blumen und sonstigem Laubwerk; an der Wand, wo das Porträt meines seligen Großvaters hing – Sie haben es in meinem Zimmer gesehen, Theresa, das Brustbild im grünen Pelzkostüm, ein Notenheft in der Hand – an der Wand also wurde ein Baldachin aufgeschlagen und ein Prunksessel darunter gesetzt. Mutter war inzwischen schlafen geschickt worden, in größter Stille und Eile wurde alles fertiggemacht. Um zehn Uhr abends war der Thron fertig, die Mutter mußte sich erheben und schön anziehen, dann wurde sie als Königin des Festes zu dem Thronsessel geführt. Ein herrliches Musizieren fing dann an, die Nachbarschaft, aufgeweckt und ermuntert, fand sich ein, es wurde getafelt und getrunken und schließlich auf bloßen Strümpfen getanzt, damit der Lärm nicht zu groß wurde. Oh, man verstand es, fröhlich zu sein und Feste zu feiern bei uns am Rhein, wenn auch die Zeiten manchmal gar ernst und traurig waren.«

Der Meister machte eine kleine Pause, er verlor sich in nachdenkliches Sinnen und fügte dann hinzu: »Wieviel die große sanfte Frau mit den schwermütigen dunklen Augen als der gute Genius des Hauses bedeutete, war uns freilich erst nach ihrem Tode klar. Ich war damals gerade einige Monate in Wien und versuchte, einiges bei Mozart zu lernen – wir waren leider zu verschiedene Naturen, oder soll ich sagen: glücklicherweise –, als mich die Nachricht von ihrer schweren Erkrankung erreichte. Hals über Kopf reiste ich über Augsburg heim, wo mir das Reisegeld ausging; indessen waren Freunde da, der Klavierfabrikant Stein, seine Tochter Nannette ist jetzt nach Wien verheiratet, die Frau des Klaviermachers Streicher; wenige Tage später traf ich die Mutter sterbend an – ich selber fühlte mich krank und litt an Engbrüstigkeit, an körperlicher und seelischer Not. Von Wien habe ich damals wenig gewonnen, das den Aufwand an Mühen, Zeit und Kosten lohnte, außer daß ich durch die liebe Gräfin Thun einige Freunde kennenlernte und eben auch mit Mozart in Berührung kam. Sein Spiel kam mir abgehackt vor; er hinwiederum fand auch an dem meinigen wenig Gefallen, als ich ihm vorphantasierte, er hielt das Ganze für ein eingelerntes Paradestück. Darüber geriet ich in Wallung und bat ihn um ein Thema für eine freie Phantasie. Da spitzte er aber doch und meinte während des Spiels zu seinen Freunden, die im Nebenzimmer saßen, indem er auf den Zehen durch die Tür schlich: »Auf den gebt acht, der wird in der Welt von sich reden machen!« Ich ging leichten Herzens von Wien fort; aber kaum war ich abermals in der Heimat, da stand die Stadt wieder leuchtend vor meinen Augen wie eine ferne geheimnisvolle Geliebte voll unwiderstehlicher Lockung, sirenenhaft, und ich kannte nichts als die Sehnsucht und die Melancholie, die mich damals überfiel und nicht losließ – sie ist meine treueste Gefährtin geblieben – –«

»Haben Sie denn nicht Freunde gehabt?« fragte Josephine, die den Rest der Erzählung voll Teilnahme angehört hatte, und das Gespräch klug zu lenken wußte, damit sie auf seine persönlichen Beziehungen kam. Sie interessierte sich für die Menschen, die sein Vertrauen und vielleicht seine Liebe hatten.

Er erzählte von der Hofrätin Breuning, in deren Hause er ein zweites Heim gefunden hatte, besonders nach dem Tode der Mutter, und von den geselligen Freunden in diesem Freundeskreis, zu denen außer den Kindern Breuning, der Leonore und ihren Brüdern, auch Wegeler gehörte, und von den Fernerstehenden Graf Waldstein, der Ratgeber des Fürsten, der selber komponierte und dem jungen Meister in aufrichtiger Freundschaft anhing. Waldstein war es ja, der ihm einige Jahre später vom Fürsten den neuerlichen unbeschränkten Aufenthalt in Wien und die Mittel dazu erwirkte, ein Glück für den Künstler, denn kaum hatte er 1792 Bonn auf Nimmerwiedersehen verlassen, als dort schon die Franzosen einzogen, durch deren Besatzungsheere er mit der letzten Eilpost gereist und glücklich durchgekommen war. Leider waren mit der Bonner Fürstenherrlichkeit auch die Zuschüsse versiegt, aber der Meister stand in Wien inzwischen schon auf eigenen Füßen.

Besonders viel mußte er von Leonore erzählen, die glühende Kohlen auf sein Herz gesammelt hatte, denn nun ging die Sehnsucht wieder heim nach der Vaterstadt, und jetzt war Leonore die ferne Geliebte. Josephine wußte immer und immer wieder zu fragen, bis sie die ganze Herzensgeschichte wußte. Theresa war still geworden.

»Glückliche Leonore!« rief Josephine empfindsam aus und dann, als sie von deren Verlobung mit Wegeler hörte:

»Oh, die Undankbare!« und war so ehrlich entrüstet, daß auch Theresa lachen mußte.

»Das war nicht schön von Leonore,« ereiferte sich Josephine, »an ihrer Stelle hätte ich gewiß anders gehandelt!«

Sie erntete damit neues Lachen, aber sie blieb ganz ernsthaft und beharrte dabei: »Da gibt es doch nichts zu lachen, es ist mein voller Ernst!«

Das unfreiwillige Geständnis war nun eine etwas gefährliche Klippe, und hätte leicht verhängnisvoll werden können, zumal der Künstler rasch entflammt war; aber in dem hurtigen Geplauder der kleinen Gesellschaft wog es nicht allzu schwer, und Theresa griff jetzt in die Zügel und lenkte vorsichtig um, wobei es freilich wieder auf eine Huldigung in anderer Form hinauslief:

»Wir müssen Leonore dankbar sein, denn sie hat ganz folgerichtig gehandelt; sonst säße übrigens unser Meister Ludwig nicht hier, sondern wäre vielleicht Hofkapellmeister in Bonn!«

»Ohne Amt und Gehalt«, fügte Ludwig hinzu; »nach der Flucht des Fürsten wurde der ganze Hofstaat aufgelöst. Danken wir also dem Himmel, daß es so gekommen ist, obzwar ich manchmal recht unglücklich darüber war.«

Und mit unbefangenem Freimut erzählte er von den Herzenswirren, in der die junge Seele verstrickt war.

»Eigentlich waren es damals drei Grazien, denen die Huldigungen galten«, und er berichtete von der »Werther-Liebe« zu dem schönen Fräulein Wilhelmine von Westerholt, der Tochter des Oberstallmeisters, und zur Jeannette d'Horvath, einer Freundin Leonorens, der koketten Blondine, die sein betrübtes Herz mit Brandpfeilen der Liebe spickte. »Werther« war ja Zeitstimmung; Neigungen und Verliebtheiten jugendlicher Übergangszeit stilisierten sich gern in diesem Spiegel.

»Arme Leonore!« seufzte Theresa.

Josephine mußte plötzlich an Giulietta denken, als von der koketten Blondine die Rede war; es wären wieder drei Grazien hier, wenn sie etwa die Verwegenheit hätte, plötzlich zu erscheinen; wer von uns wäre sodann die arme Leonore?

»Ich würde mich für eine solche Freundin bedanken, wie diese Blondine«, bemerkte Josephine spitz; »aber was sagte denn Leonore dazu, als sie sah, daß Sie sich in fremde Netze verstrickten?! Da war sie am Ende doch im Rechte, als sie – – –«

»Nun, nun, die kleine Jugendschwärmerei war auch nicht länger als ein Sommernachtstraum,« beruhigte Ludwig, »und hoch über all diesen vorübergehenden Begegnungen stand Leonore, das immer und unverändert verehrte Ideal der Seele – – –«

Mit solchen und ähnlichen Gesprächen flogen die Stunden dahin, ohne daß dabei der Unterricht zu kurz kam; zwischendurch wurde stets ein wenig geübt, und so blieb man immer aufnahmefähig und frisch bei der Sache. Mit unermüdlicher Geduld bemühte sich der sonst so leicht ungeduldige Meister, die Finger Theresas niederzudrücken, die sie ihrer früheren Schule gemäß emporzustrecken und flachzuhalten gewohnt war, und er wurde es nicht müde. Die Zeit war nicht fruchtlos; das Spiel der Schwestern wurde ausdrucksvoller, tiefer, beseelter, und das kam nicht bloß von der Fingerhaltung und nicht bloß von dem berühmten Legato, sondern war wohl auch die Folge der Verinnerlichung durch den geistigen und menschlichen Einfluß des Meisters, der innere Entfaltungen reifte. Psyche wollte erwachen. Die Stunden waren nicht unnütz verplaudert.

Eine neue Welt hatte sich den Schwestern aufgetan, von der sie in ihren bisherigen Kreisen nichts ahnen konnten. Eine Welt der Empfindungen, der Ideen, der Gestaltungen. Voll Neugier, voll Staunen, aber auch voll persönlicher Teilnahme sahen sie ein Schicksal vor sich, das nach und nach den Schleier hob. Sie durften in das Seelenleben eines bedeutenden Menschen und großen Künstlers blicken, und ehe sie daran dachten, waren sie darin verflochten.

Eine eigentümliche süße Unruhe kam über Theresa. Wenn Ludwig ging, war der Rest des Tages dem Nachgenuß der allzu flüchtigen Stunden gewidmet und der Sehnsucht nach Morgen. Die Erwartung seines Kommens war stille Vorbereitung, aber auch leise Ungeduld, die oft und oft nach der Uhr sah und die trägen Stunden gerne beflügelt hätte. Sie steigerte sich zur peinigenden Spannung, die sich erst in dem Augenblick wohlig löste, wo sie ihn die Treppe heraufkommen hörte, die er wie gewöhnlich im Sturm nahm. Und wie ein Windstoß trat er in die Tür und hin zum Klavier, wo die erste halbe Stunde ziemlich schweigsam mit strengen Übungen verlief; dann erst kam nach und nach das Gespräch in Fluß, und alsbald entwickelte sich ein lebhaftes Kreuzfeuer, oft in halben Worten, in bloßen Andeutungen, die im Kontakt der Seelen aufgefangen und sogleich verstanden wurden und einen neuen, vertieften Sinn bekamen.

Solange Ludwig zugegen war, fühlte Theresa eine große Ruhe, ja fast eine Wunschlosigkeit; nur wenn er ging, begann das alte Spiel von neuem. Ganz schlimm war es, wenn er einmal nicht um die gewohnte Zeit kam oder gar einen oder zwei Tage fernblieb, was indessen nur selten der Fall war. Dann war sie wie traumverloren, ganz zerflattert, unstet; sie nahm bald dieses, bald jenes Ding zur Hand, ein Buch, eine kleine Arbeit, und legte sie wieder hin; selbst beim Klavier hielt sie nicht lange aus; sie fühlte sich hin und her getrieben und war sich selbst zur Last. Aber was sie sich auch mit Selbstvorwürfen peinigte, es half nichts, und alle guten Vorsätze waren vergeblich.

In dieser Not nahm sie Zuflucht zu ihrem Tagebuch, es wurde Spiegel ihrer geheimsten Seelenvorgänge. Sie mußte sich über ihren rätselvollen Zustand aussprechen können, aber zu wem? Zur Mama? Undenkbar! Sie würde alles falsch verstehen, Gefahren wittern, vielleicht gar die so kostbaren Stunden verbieten – nein, nein, das darf nicht sein, niemals! Mama muß ahnungslos bleiben!

Also zur Schwester! Die Schwestern hatten keine Geheimnisse voreinander, sie waren gewohnt, sich voreinander rückhaltlos auszusprechen; was sie taten, unternahmen sie gemeinsam; was sie dachten oder fühlten, war gemeinsam gedacht und gefühlt.

Und merkwürdig! Diesmal konnte sie sich auch nicht vor der Schwester aussprechen. Zum erstenmal, daß sie sich vor der Josephine verbarg! Zum erstenmal, daß sie ein Geheimnis vor ihr hatte! Ja, daß sie sie ängstlich beobachtete, ob Pepi von ihrer Unruhe nichts bemerke. Gott sei Dank, die Schwester bemerkt nichts! Natürlich, noch weniger hätte sie dem Bruder sich entdecken können. Er hätte sie höchstens ausgelacht. Was überhaupt könnte sie ihm oder der Mama oder auch der Schwester sagen? Es gibt keine Worte dafür. Und wenn man es in Worten versucht, ist es nichts, nichts, absolut nichts, was man überhaupt sagen könnte. Nichts als Grillen, Grillen, Grillen! Und doch!

Nur dem Tagebuch, dem geduldigen stillen Zeugen ihres Herzens, konnte sie sich anvertrauen. Das Tagebuch war ihre Zuflucht, ihr Trost, ihre Stärkung. Hier brauchte es keines gesprochenen Wortes, vor dessen Ton man erschrecken müßte, und das sie um keinen Preis über die Lippen brächte; stumm wie sinnende Gedanken flossen die Geständnisse aufs Papier, leicht und sonder Müh übertrug sich die süße und doch so schwer zu tragende Seelenlast auf diesen schweigsamen Vertrauten; und sieh da, die Unrast wich, die Seele fühlte sich wie befreit, solange sie vor dem Heft saß und Zug um Zug ihre Stimmungen niederschrieb. War es doch, als ob sie geheime Zwiesprach hielt mit ihm, dem Freunde Ludwig! Nun hatte sie das Heilmittel gefunden, das tiefe und sensible Naturen immer für sich entdecken und bald als unentbehrliche Ergänzung ihres Innenlebens empfinden, ein Tagebuch, mit dem sie sich ihrer Geheimnisse entlasten; ein Tagebuch, darin sie ihr Selbst verlieren konnte, um es wieder zu finden und damit alle Ruhe, Beherrschtheit und Befreiung. So hatte das Leben jetzt zwei Takte: einen, der durch die Anwesenheit Ludwigs bestimmt war, und den anderen, der den Kontakt mit ihm durch das Tagebuch fortsetzte und einigermaßen wenigstens das Gleichgewicht zu wahren half.

Aber Josephine hatte doch etwas bemerkt. Denn sie selber litt an dem gleichen Übel. Aber auch sie verbarg sich vor der Schwester; auch sie hatte zum erstenmal ein Geheimnis vor ihr. Auch sie beobachtete Theresa und fühlte sich zugleich von ihr beobachtet. Und nahm sich vor, sich nicht zu verraten.

Doch Josephine beobachtete in doppelter Weise. Einmal, um sich zu überzeugen, daß Theresa keinen Verdacht gegen sie schöpfte, und zum anderen Mal, um zu wissen, wie es mit Theresa stand. Zu fragen, wie sie es sonst gewohnt war, schien ihr unmöglich. Es fehlte ihr dazu jede Unbefangenheit. Lieber hätte sie sich die Zunge abgebissen. Aber ein klein wenig auch spürte sie eine keimende Eifersucht gegen die Schwester. Wie kommt es doch, daß Theresa plötzlich ruhiger schien?

Sie stand vor einem neuen Rätsel. Sollte die Schwester etwa eine Aussprache mit ihm gehabt haben? Nein, nein, daran war nicht zu denken. Ludwig war ja auch mit beiden gleich kameradschaftlich, gleich vertraut und doch wieder gleich zurückhaltend. Der gute, liebe Louis! Wie aber brachte Theresa es fertig, anscheinend wieder ihren Gleichmut zu finden, der ihr stetes sanftes Wesen bestimmte, während Josephine immer nervöser, aggressiver, launenhafter wurde? Nicht einmal das schien Theresa zu bemerken. Oder vielleicht bemerkte sie es und war aus Mitwissen und Mitleid um so nachsichtiger? Dieser Argwohn erhöhte nur ihre Mißstimmung und Seelenpein.

Eines Tages aber sollte Josephine doch des Rätsels Lösung finden und noch etwas mehr, eine Entdeckung, die sie in einen Abgrund von Verwirrung und Seelenaufruhr stürzte.

Sie trat in das Zimmer Theresas, fand aber das Gemach leer; die Schwester war ausgegangen.

Josephine sah sich in dem keuschen Raum um, der ganz auf weiß gestimmt war, darin die Blumen in den Vasen um so farbiger und frischer wirkten. Der verschließbare Schreibtisch stand offen, ganz gegen alle Gewohnheit, was die scharfsinnige Josephine sofort bemerkte. Sie trat näher, um ihn zu schließen, schon wegen der Dienerschaft, die indiskret genug wäre, neugierig herumzukramen; ihr selbst fiel es keinen Augenblick ein, in den Sachen der Schwester nach irgendwelchen Geheimnissen zu forschen.

Aber da lag ein artig in Leder gebundener Band auf dem Pult, aufgeschlagen, ein Album mit handschriftlichen Aufzeichnungen in den großen klaren Schriftzügen Theresas. Das Tagebuch. Die aufgeschlagene Seite war nur halb beschrieben, die Tinte noch ganz frisch; die Schwester mußte eben noch vor ihrem Weggang Eintragungen gemacht haben; offenbar hatte sie vergessen, das sorgfältig gehütete Tagebuch zu verwahren und den Schreibtisch zu schließen.

Wie gebannt blieb Josephine stehen. Mechanisch, fast wider Willen, gleichsam unter einem unwiderstehlichen Zwang las sie die Schrift der aufgeschlagenen Seite. Was sie nie getan hätte und auch tief verabscheute, als unbefugten Eingriff in fremde Angelegenheit, das tat sie jetzt unter dem Verdacht, den sie schon lange hegte und der ihr wie eine innere dämonische Stimme zuflüsterte, daß sie vor der Enträtselung des so lange gesuchten Geheimnisses stehe. Hier war der Schlüssel zu dem Herzensschrein Theresas. Durfte sie hier eindringen? Sie kam sich wie eine Diebin vor. Und doch ließen ihre Augen die Schriftzüge nicht mehr los, sie saugten sich an dem Blatte fest und tranken gierig die Lettern, Worte, Sätze in sich hinein, einen Strom von glühenden Gedanken, daß es ihr heiß wurde ums Herz und rot im Gesicht aufstieg.

Hastig wendete sie Blatt um Blatt um und las und las:

»Gestern erzählte uns der liebe unsterbliche Louis viel von seiner Jugendfreundin Leonore. Ach, wie ich diese Leonore um eine so einzigartige Freundschaft beneide! Wie glücklich wäre ich, wenn ich hoffen könnte, je so hoch in seiner Wertschätzung zu stehen. Jedes Wort dieses seltenen Mannes ist mir ein kostbares Geschenk und prägt sich unverlöschlich in meine Seele ein. Daß er seine Mutter so verehrt, ist mir ein Zeichen, daß er gut und edel ist, wenn ich nicht soviel andere Zeichen seiner Güte hätte. Er ist wohl oft heftig und aufbrausend, ach, sein Zorn ist erhaben wie ein prachtvolles Gewitter, aber er ist auch gleich wieder sanftmütig und fromm wie ein Lamm. Man nannte ihn anmaßend; aber er könnte in Wirklichkeit nicht bescheidener und demütiger sein. Sein Unabhängigkeitssinn ist es und das Bewußtsein seiner künstlerischen Würde, die so viele mißverstehen. Er ist zugleich stolz und zieht die Armut einem bequemen Wohlleben vor, wie er es bei Lichnowsky gehabt hat. Als ich mit Pepi zum erstenmal seine Behausung betrat, hätte ich weinen mögen vor Schmerz, den begnadeten Künstler in solcher Dürftigkeit leben zu sehen ... Und habe mich nachher geschämt über die Pracht der Wohnungen, in denen wir leben. Ist es nicht ein Unrecht, daß er, der so hoch über uns steht, alles entbehren soll, was wir an Annehmlichkeiten für selbstverständlich empfinden? Ach, es ist doch eine verkehrte Welt. Mama ist freilich anderer Meinung. Neulich berührte Mama diskret die Honorarfrage. Ich zitterte schon, denn er wurde ernstlich böse und war ganz beleidigt über die Zumutung, daß er Geld nehmen solle für einen Freundschaftsdienst, der ihm ein Vergnügen und eine Erholung sei. Wie dankbar und glücklich war ich über dieses schöne, stolze Wort. Wie arm sind wir gegen ihn, der uns so reich beschenkt! So arm, daß wir seine Güte gar nicht erwidern können, außer durch Geld. Wie aber sollen wir ihm zeigen, welchen Schatz von Dankbarkeit wir ihm in unserem Herzen hinterlegen?! Es ist der Schatz, den er selbst in uns aufspeichert: seine guten Werke sind es. Neulich zeigte er mir die schöne Halsbinde, die ihm seine Leonore beschert hat. Ich fragte, ob ich ihm nicht auch ein solches Angebinde bescheren dürfe. O ja, erwiderte er lebhaft, wenn Sie mir etwas Liebes erweisen wollen, dann nähen Sie mir schöne Wäsche, ich kann mich selbst um solche Dinge nicht kümmern! Wie glücklich war ich, einen Wunsch von ihm zu wissen, obzwar ich wieder in tausend Verlegenheiten bin und nicht weiß, wie ich es anfangen soll. Ich müßte Pepi ins Vertrauen ziehen, aber ich scheue mich davor und fürchte, daß sie mich verlachen werde oder weiß Gott sonst was denkt – – –«

»– – – Recht wehe hat es mir getan, als der Edle von seinen Herzensbeziehungen zur Westerholt und zur blonden Horvath erzählte. Die Horvath dürfte eine Ungarin sein. Ich habe recht lebhaft gefühlt, wie traurig es für Leonore sein mußte. Sonderbar, daß ich mich ganz eins weiß mit Leonore, die ich gar nicht kenne. Ich sollte doch eigentlich gleichgültig sein, und bin es nicht. Als Ludwig gestern nicht erschien, war ich unglücklich, halb gelähmt, zu nichts fähig. Was ist das? Es ist doch recht dumm von mir. Ich hatte die größte Mühe, mir vor Mama und Pepi nichts anmerken zu lassen – – –«

»– – Pepi ahnt glücklicherweise nichts davon, wie sehr ich mich innerlich mit ihm beschäftige. Sie ist burschikos wie immer, und seit einiger Zeit recht kurz angebunden mit mir. Ich bin froh darüber und ertrage ihre Kapricen recht gern, um so besser kann ich mein Inneres verbergen. Ich fühle es immer mehr, er ist mir nicht gleichgültig. Ich verehre ihn als Künstler; ein bißchen Schwärmerei ist wohl erlaubt. Aber ich fürchte, es ist mehr ... Mein Gott, wohin soll das noch führen?! Manchmal möchte ich fliehen und denke mir, wie schön es draußen sein muß in Martonvásár. Und sehne mich nach dem Landfrieden und der Stille in der freien Natur. Aber Ludwig müßte mit uns kommen. Sonst würde ich auch draußen den Frieden nicht finden, den ich so dringend nötig habe. Ich möchte auf die Knie sinken und ihn bitten und anflehen: gib mir die Ruhe, den Frieden zurück! Und wenn er zugegen ist, erscheint mir das alles töricht, dann bin ich so ruhig wie je, und begreife nicht, daß ich mir je solche Gedanken machen konnte. Ich verehre ihn, das ist wohl erlaubt, ja ich empfinde eine aufrichtige Freundschaft für ihn – aber man kann dabei doch nicht von Liebe reden ... Dazu bin ich auch viel zu vernünftig. Nein, nein, Gott sei Dank, ich bin nun einmal nicht verliebter Natur – – –«

»– – – Es hat mir einen Stich ins Herz gegeben, als Mama heute beim Frühstück über Künstlerehen sprach, von denen sie meinte, daß sie notwendig unglücklich sein müßten. Sie nannte den Grafen Gallenberg einen Künstler und behauptete, wenn Giulietta ihn wirklich heirate, wie es der Wunsch der Eltern sei, sie es noch sehr zu bedauern haben werde. Pepi meinte darauf, das könne nicht stimmen; Gallenberg sei kein Künstler, wenn er auch Ballettmusik mache; ganz bestimmt verdiene er neben Beethoven nicht den Namen Künstler. Die Mutter entgegnete, sie spräche in diesem Zusammenhang nicht von Beethoven, weil er für eine Verbindung mit unseren Kreisen doch überhaupt nie in Frage käme. Warum nicht? war Pepis Frage. Ich bin der Schwester dankbar für diese Frage, die mir selbst auf der Zunge lag; aber ich war unfähig, ein Wort hervorzubringen; es schnürte mir die Kehle zu. Ich fühlte mich den ganzen Tag elend. Die Antwort Mamas machte mich unglücklich. Sie sagte: Ganz abgesehen von seinem Charakter, der ihn überhaupt zur Ehe untauglich mache, und auch abgesehen von seiner Häßlichkeit, die ihn ohnehin aus der Reihe der möglichen Kandidaten ausschließe, würde eine Dame von Stand sich nie so tief erniedrigen und einem Manne die Hand reichen, der so weit unter dem Range stehe und ungeachtet seiner Kunst als Virtuose doch nur eine bessere Art unsteten Zigeunertums verkörpere, das ganz außerhalb der Gesellschaft stehe und hier niemals aufgenommen werden würde, wie groß auch der Kult sei, den man mit dem Künstler als solchem treibe – – –«

»Mir geht das Gespräch nicht mehr aus dem Sinn. Der edle Mensch, dem Gott den höchsten Adel des Geistes und Talents verliehen hat, soll uns nicht ebenbürtig sein? Was haben wir ihm eigentlich entgegenzusetzen als unsere angemaßten Vorrechte und etwa unseren Reichtum? Ist sein Reichtum und sein Adel nicht zehnmal, hundertmal größer? Wenn man ihn mit der oberflächlichen und oft rohen Gesellschaft unseres Landadels oder auch unserer nur durch Sitte und Konvention übertünchten Hocharistokratie vergleicht, müssen wir uns da nicht vor ihm geradezu schämen? Ist nicht vielmehr er der eigentliche Aristokrat?! Aber ich mag mit Mama über diesen Punkt nicht streiten; sie hält nun einmal an ihrer Ansicht fest, die wir ohnehin seit jeher kennen, und ich möchte nicht alles preisgeben, was ich für meine Person empfinde und denke. Aber ich könnte mir eine Ehe mit Ludwig sehr wohl denken; ich meine, es müßte für eine Frau das größte Glück sein, mit dem Genius durch das Band der Liebe und Ehe dauernd verbunden zu sein und sein Los mit ihm zu teilen – – –«

»Ich bin nie auf den Gedanken einer möglichen Heirat mit B. gekommen; aber jetzt fange ich an, die Sache zu erwägen. Sie beschäftigt mich Tag und Nacht. Daran ist Mama schuld. Warum mußte sie auch ihre unzeitgemäßen Anschauungen wieder aufs Tapet bringen? Es hat praktisch freilich keinen Sinn, wenn ich mich in solchen Träumereien wiege, schon deshalb nicht, weil ich mir gar nicht einbilden darf, daß B. mich überhaupt lieben könnte – er ist lieb und gut zu mir, aber auch weiter schon gar nichts. Eher glaube ich, daß er Pepi verehrt; die ist immer lustiger Dinge mit ihm, neckt ihn und scherzt; wenn er sie auf die Finger klopft, gibt sie ihm den Schlag zurück; er hält ihre Hände fest – – sie spielen wie zwei artig-unartige Kinder –, und ich sitze dabei und werde immer trauriger, je lustiger es die zwei treiben. Sooft er mir die Finger auf dem Klavier niederdrückt oder meine Hand nimmt, um mir die gekrümmte Hammerstellung der Finger zu zeigen, die ich mir gar nicht angewöhnen kann, vergehen mir fast die Sinne, daß es mir ganz dunkel vor Augen wird. Aber gerade, weil ich nie hoffen kann, die Seine zu werden, ist es mir ein desto ungefährlicheres, müßiges Gedankenspiel, mich als seine Frau zu fühlen und zu denken, was ich in diesem oder jenem Fall tun würde. Ich finde eine eigentümliche Beruhigung und ein wahres Vergnügen in diesem gedachten idealen Zustand, der mich in der Phantasie mit einer neuen Würde bekleidet. Aber leider erwache ich immer alsbald aus diesem glücklichen Traumzustand und fühle mich dann doppelt einsam und verlassen. Und kann es doch niemand klagen als diesem verschwiegenen Buch und meinem Nachtkissen, das ganz feucht ist von den vergossenen Tränen – – –«

»Zwei Tage war Louis nicht dagewesen. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Es wird mit jedem Tag schlimmer. Hundertmal frage ich Pepi: Vielleicht ist er krank? Sollen wir hinschicken? Vielleicht wartet er, daß wir kommen und ihn pflegen?! Wie gern, o wie gern eilte ich auf der Stelle zu ihm – – – Aber Pepi will nichts wissen davon und meint ganz unwirsch, das seien Einbildungen – – – Ich wage nun auch gar nichts mehr zu sagen – – –«

»Glücklicher Tag heute. Der liebe B. ist wieder dagewesen. Er blieb bis über die Essenszeit hinaus. Wir haben ihn fast den ganzen Tag genossen. Er sah so frisch und gesund aus, das braune Gesicht heiter und zufrieden, wie ich selten gesehen habe. Er lachte, als ich meine Befürchtungen, er sei etwa krank gewesen, äußerte. Gott sei Dank, er war es nicht. Die Proben zur bevorstehenden Aufführung seines Septetts haben ihn hingehalten; eine neue Komposition hat er gemacht, die er mitgebracht und uns vorgespielt hat: Sonate pathétique. Unmöglich zu schildern, wie mich seine Musik ergreift und erregt. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Es war mir immer, als ob ich seine Stimme hörte, seinen dröhnenden Schritt, seinen heroischen Gang. Deutlich hatte ich das Gefühl, als wollte er durch die Töne zu mir sprechen, als wollte er mir etwas sagen, wofür sich nicht Worte finden, sondern nur Klänge, die unmittelbar aus seiner Seele quellen und die, obschon sie nichts Bestimmtes, Begreifliches auszudrücken scheinen, doch einen ganz bestimmten Gefühlsinhalt haben und dann eine klare, eindringliche Sprache führen. Es pochte und rüttelte etwas darinnen, das direkt ans Herz greift und tragisch berührt, etwas sehr Schmerzliches, das er mir klagen will mit diesem dumpfen Wirbel der Bässe; dann aber wird er bittend, stürmisch, leidenschaftlich wie ein feuriger Werber, seine Ekstase tritt ins Unermeßliche – – und plötzlich ist es, als ob er sich selbst ein donnerndes Halt zuriefe und mit einem klagenden Zucken Abschied nehmen wollte – – Zwar braust er noch einmal jäh auf, wie um noch einmal zu fordern, und dann ist seine Stimme wieder fern und ganz erfüllt von weher Entsagung. Ich bin ganz ergriffen und möchte ihn trösten und zurückrufen: umsonst! Mein Mund hat keine Überredungskunst – ich müßte in Tönen, in Klängen, durch den holden Mund der Kunst erwidern können, um mit seiner Seele vertraute Zwiesprache zu halten und sie zu mir herzuziehen – aber ach! ich bin ja in dieser Seelensprache stumm geboren, und kann, was ich auch ringe und weine, nicht zu ihm, und er, weil er mein Inneres nicht kennt, nicht zu mir – – –«

»Was verberge ich mich denn feige vor mir selbst? Es hilft kein Sträuben, kein Leugnen, kein Nichtwissenwollen vor mir selbst: ich kann es nicht länger vor mir verstecken, weil es ja meine Lippen flüstern, meine Zunge formt, meine Sinne und Gedanken bei Tag und Nacht zurufen und eines Tages hinausschreien würden, wenn ich länger so täte, als ginge das eigentlich mich nichts an: ja ich muß es vor mir selber gestehen: – ich liebe ihn wahnsinnig – – –«

Josephine hatte atemlos gelesen, flammenden Gesichts, hochklopfenden Herzens. Plötzlich hielt sie erschrocken inne und horchte gespannt auf. Sie glaubte ein Geräusch vernommen zu haben. In fiebernder Eile legte sie das Tagebuch mit der aufgeschlagenen Seite an den Platz, genau so, wie es vorhin dort gelegen war, und flüchtete ganz leise, auf den Zehenspitzen, hinein in ihr eigenes Zimmer, wo sie sich abschloß und sich aufs Bett warf, in Tränen aufgelöst.

Wie unglücklich war sie doch vorhin, wo sie von dem Geheimnis der Schwester gar nichts wußte; und wie unglücklich fühlte sie sich erst jetzt, wo sie alles wußte! Sie schämte sich zugleich, daß sie auf eine so unerlaubte, eigenmächtige Weise Mitwisserin geworden sei.

Sie hörte die Schwester heimkommen und rührte sich nicht. Sie lauschte. »Wahrscheinlich schreibt Theresa wieder an ihrem Tagebuch,« dachte sie, »und setzt ihren Liebeserguß fort.« Fast entrüstete sie sich darüber. »Ein Tagebuch führe ich freilich nicht,« haderte sie, »ich muß alles hübsch drin behalten in der Brust und kann es nicht ausbreiten vor mir, aber darum fühle ich nicht weniger tief und warm; ich bin doch auch kein Eisstock! Warum versteckt sie sich denn vor mir, wenn sie es nicht als ungehörig empfindet, die Falsche, die Scheinheilige! Aber darüber werden wir noch zur Sprache kommen! Schau, schau, die eigene Schwester, die sich in den verliebt, der eigentlich von Rechts wegen mir gehört!«

Freilich, mit welchem Rechte sie die Schwester zur Rede stellen solle, war ihr selbst nicht klar. Sie dachte nach.

»Soll ich ihr sagen, daß ich das Tagebuch gelesen? Nein, unmöglich; denn eigentlich war es eine Gemeinheit von mir! Also schweigen, schweigen, reinen Mund! Und beobachten! Aber was nützt denn das alles!«

Sie warf sich wieder hin und wollte schier verzweifeln. Allmählich gewannen ruhigere Gedanken die Oberhand.

»Warum soll ihn Theresa nicht lieben, wie ich ihn liebe? Sie wußte ja gar nichts von meinem Schwarm! So wenig wie ich etwas von dem ihrigen wußte! Aber recht ist mir geschehen! Was hab' ich es auch nötig gehabt, meine Nase in fremde Sachen hineinzustecken und das dumme Büchel zu lesen! Jetzt bleibt mir doch nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen und mir den ganzen Unsinn aus dem Kopf zu schlagen. Wie das möglich sein wird, weiß ich noch nicht!«

Sie erhob sich und trocknete die Tränen. Sie mußte sich unbefangen zeigen, aber im Spiegel merkte sie die verweinten Augen. So konnte sie nicht vor den Ihrigen erscheinen.

Sie hörte, wie die Schwester nebenan den Schreibtisch verschloß und über die Treppe hinab ins Musikzimmer ging.

Josephine blieb noch oben, bis die Spuren der Tränen ganz verwischt waren.

»Ach,« seufzte sie ein übers andere Mal, »was sind wir doch für unglückliche Geschöpfe!«

Sie blieb in ihrem Zimmer sitzen, in stumpfem Hinbrüten versunken, bis die Dämmerung kam.

Nun war es Zeit, hinunter zu gehen und sich der Mama oder der Schwester zu zeigen, ehe noch eins heraufkäme, um sich nach ihr umzusehen.

Ihr Elend durfte niemand bemerken.

Sie hörte ein Kleiderrauschen vor der Tür und erhob sich rasch.

Doch ehe sie noch einen bis zwei Schritte getan, stand schon Theresa im Zimmer.

Ein Glück, daß es schon dunkelte; so konnte man wenigstens die noch immer geröteten Augen nicht bemerken.

Aber Theresa erriet sofort mit angeborenem Feingefühl. Die Stimme Josephinens klang umflort.

»Du hast geweint«, sagte Theresa.

Statt aller Antwort sank ihr Josephine schluchzend um den Hals.

Theresa tröstete sie liebreich.

»Armes Kind!«

Eigentlich bedurfte sie selbst des Trostes, und hielt nur mit größter Mühe ihre eigenen Tränen zurück.

So standen sie eine Weile und hielten sich in tiefer Rührung umarmt, indessen es die arme Josephine schüttelte.

Theresa hob ihr tränenüberströmtes Gesicht empor, küßte sie auf den Mund und sagte weich und zärtlich:

»Pepi, sag' mir aufrichtig: liebst du ihn?!«

Sofort hörte das Schluchzen auf, überrascht sah Josephine der Schwester voll ins Gesicht, schüttelte den Kopf und sagte dann mit großer Bestimmtheit:

»Nein, Theresa, du liebst ihn!«

Theresa ließ sie sofort los, trat einen Schritt zurück und tat etwas betroffen mit abgewendetem Gesicht die Frage:

»Wieso? was weißt du?!«

»Theresa, ich weiß es!«

»Du hast in meinem Tagebuch gelesen!« Fast drohend war Theresa auf die Schwester zugetreten, so voll empörtem Unwillen und beleidigter Würde, daß Josephine scheu zurücktrat und eine Ausflucht suchte. »Du warst in meinem Zimmer! Ich habe vergessen, das Buch einzuschließen und den Schreibtisch abzusperren – ich habe es gleich gefühlt, daß jemand im Zimmer war: du warst es!«

»Nein,« leugnete die Schwester, »du verrätst dich ja eben selbst. Gestehe nur, daß du ihn liebst!«

Theresa ließ den Kopf sinken.

»Nein,« hauchte sie tonlos, »nicht so!«

»Du lügst!« schrie Josephine.

»Was soll ich dir sagen?« Bittend hob Theresa die Hände: »Schone mich!«

»Ich will nicht lügen, Theresa,« rief die Schwester mit starkem Entschluß aus: »ja, ich habe dein Tagebuch gelesen! Ich kam zufällig in dein Zimmer, um dich zu suchen; du warst nicht da, das Buch lag offen auf dem Tisch. Ich wollte nicht lesen – nur ein Wort fiel mir auf, eine ganze Reihe von Worten, da stand es – – – ich wußte nicht mehr, was ich tat und blätterte und las, aber nicht alles, doch genug! Verzeihe mir, es war häßlich; ich schämte mich darüber, aber es ist nicht mehr zu ändern: ich weiß es nun, du liebst ihn!«

»Ich weiß es nicht, wenn ich es auch niederschrieb. Aber was geht es dich an, Pepi! Es ist mein Geheimnis und soll es bleiben!«

Josephine schloß nun Theresa in die Arme:

»Arme Theresa! Mit deinem Geheimnis weißt du auch meins! Ich bin so unglücklich als du!«

»Du liebst ihn also, Pepi!«

»Mm!« bejahte die Schwester, lebhaft mit dem Kopf nickend, »wozu es noch leugnen!«

Beide lachten und weinten vor Leid und Seligkeit.

»Nun bin ich nicht mehr so unglücklich als zuvor, ich habe ja eine Leidensgefährtin«, scherzte Josephine.

»Du sollst nicht unglücklich sein, Pepi, ich werde dir nie im Wege stehen!«

»Nein, Theresa, so ist es nicht gemeint! Daß du ihn liebst, das ist gut und recht; nur eine andere dürfte es nicht sein, da würde ich rabiat! Du paßt ohnehin besser zu ihm als ich; dich verehrt er, nicht mich!«

»Aber Pepi, das kann gar nicht sein; dich liebt er, mich nicht!«

»Theresa, was sind wir doch für alberne Dinger! Ich fürchte, er macht sich aus uns beiden nicht viel. Und wir verlieren schon beide den Kopf!«

»Vielleicht hast du recht, Pepi! Aber das hindert nicht, daß wir ihn lieben und verehren! Ich meine, er verdient es doch auch um uns!«

»Ach ja,« seufzte die Schwester, »ich kann mir ohnedies nicht anders helfen! Aber er soll es nie merken von meiner Seite!«

»Du hast dich ganz gut verstellt, Pepi; ich hatte keine Ahnung bis jetzt, wo ich heraufkam zu dir und plötzlich der Gedanke in mir aufstieg. Da wußt' ich schon – – –«

»Dich hab' ich wohl längst im Verdacht gehabt, Theresa; du kannst dich halt gar nicht verbergen. Ich hab' dir's immer gleich angemerkt, die Unruhe und die Sorge um ihn, wenn er einmal nicht gekommen ist. Aber, daß es so schlimm steht, hab ich mir freilich nicht gedacht!«

So brachte ein Geständnis das andere, und was viele Wochen hindurch versäumt war, wurde nun nachgeholt.

Ganz glücklich und getröstet waren nun beide und lachten und schwatzten durcheinander.

»Sind wir nicht ohnedies glücklich?« meinte Josephine.

»Ja warum haben wir denn geweint?« fragte Theresa. Und Josephine, die um eine Antwort selten verlegen war:

»Weißt du, das ist halt beim Glück immer so!«


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