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VIII. Kapitel.

Es blieb kein Geheimnis, daß Gallenberg den Meister herausfordern wolle, um mit ihm um die Palme des künstlerischen Ruhmes zu ringen. In wenigen Tagen wußte es die ganze musikliebende Gesellschaft; im Lager der Gegner, die zahlreicher waren als die Freunde, frohlockte man bereits und freute sich, daß dem Hochmütigen der Kranz vom Haupte gerissen werden sollte.

Die tieferen Gründe blieben freilich verborgen; nur die Schwestern Brunszvik wußten, daß eine Tochter Evas die heimliche Anstifterin des Sängerkrieges war: Giulietta!

Josephine fragte den Meister, ob es wahr sei, daß er sich herbeilasse, dem eitlen jungen Menschen solche Ehre anzutun.

Ludwig verneinte; er sei nur zu dem Abend bei Fries geladen, wo sich Gallenberg produzieren wolle, das sei alles. Das übrige seien leere Kombinationen, die völlig aus der Luft gegriffen seien.

»Du siehst also, Theresa,« meinte Josephine erleichtert, »der Meister hat uns nichts verschweigen wollen; es ist also nichts an der ganzen Geschichte!«

Auch Theresa war beruhigt; Giulietta habe damals in dem Salongespräch den eifersüchtigen Gallenberg nur necken wollen, und damit habe es sein Bewenden gehabt. Es war also keine Ursache, dem Meister davon zu erzählen, der sich vielleicht nur ärgern würde darüber; es scheint, daß sie den Plan, Unterricht bei ihm zu nehmen, aufgegeben habe. Die Schwestern waren einig darüber, daß es das klügste sei, die Sache mit Stillschweigen zu übergehen.

Gallenberg ging bei Giucciardis aus und ein. Der beharrliche Werber fand es geraten, sich bei den Eltern Giuliettas Liebkind zu machen. Die Giucciardis waren nicht sehr vermögend und hätten eine Verbindung ihrer Tochter mit dem jungen wohlsituierten Grafen gerne gesehen. Ihm war es darum zu tun, die Eltern Giuliettas zu gewinnen; mit ihrer Hilfe hoffte er auf die Hand der Tochter. Das war freilich noch eine sehr unsichere Rechnung. Giulietta war gewohnt, ihren eigenen Willen durchzusetzen, und die Eltern, die ihre einzige Tochter abgöttisch liebten, waren viel zu schwach, dem eigenmächtigen Geschöpf und seinen bizarren Launen auch nur den geringsten Widerstand entgegenzusetzen. Was das verzogene Kind wollte, geschah.

Die Variationen, die ihr Beethoven gewidmet hatte, kannte sie schon fast auswendig. Es machte ihr eine diabolische Freude, ihren Amant damit zu quälen. Sie spielte ihm die Sache vor, ohne zunächst zu verraten, was es sei. Er horchte interessiert auf; die Musik kam ihm exzentrisch vor, aber interessant.

»Freilich ist es das, und noch mehr,« sagte sie belustigt, »ein echter Beethoven!«

Und beobachtete mit boshaftem Vergnügen die Wirkung, die solche Eröffnung auf den armen Gallenberg machte.

Er wand sich und schnitt Grimassen, als ob er Essig getrunken hätte, und fing auch sofort an, aufs schärfste zu kritisieren.

»Werden Sie mir solche Sachen zur Übung geben, wenn Sie mir Unterricht erteilen?« fragte sie naiv.

»Niemals!« erklärte er überzeugt.

»Schade!« sagte sie mit verstellter Trauer, »dann wird es recht langweilig für mich werden!«

»Wir pflegen klassische Musik,« fügte er hinzu, »Bach, Mozart, Clementi. Ich hasse diese neumodische romantische Art!«

»Ach, Lieber!« seufzte sie mit drolliger Schwermut; »dann müßten Sie mich hassen; ich bin eben furchtbar romantisch!«

Und lachte sich diebisch ins Fäustchen, wenn sie sah, was er für ein faltiges, unglückliches Gesicht machte.

In dem hübschen Barockschlößchen des Grafen de Fries in Hietzing, nahe dem kaiserlichen Lustschloß Schönbrunn, hatte sich eine erwartungsvolle Gesellschaft eingefunden.

Der elfenbeinweiße, schlichte Musiksaal war bald gefüllt; auf dem Podium standen zwei Klaviere.

Beethoven war mit dem Fürsten Lichnowsky und dessen Bruder, Grafen Moritz, erschienen, ein feiner, geistreicher Mann, der eine tiefe Verehrung und Freundschaft für den Meister hegte. Sie nahmen seitlich neben den Klavieren Platz.

Ihnen gegenüber, auf der anderen Seite, saß Giulietta mit ihren Eltern. Nur eine flüchtige Begrüßung fand statt.

Ludwig sah sich um. Viele Bekannte aus der Aristokratie waren da, aber auch Berufsmusiker, namentlich solche der Gegenpartei, die in dem Grafen de Fries ihren Protektor erblickten.

Der Hausherr fühlte sich als Sekundant des gräflichen Amateurs und begleitete ihn hinauf zu dem Klavier. Gallenberg sah auffallend bleich und nervös aus, immerhin ging der erste Teil seiner Vorführung glatt vor sich. Er spielte eine Mozart-Phantasie tadellos, ohne allen Mißgriff, was ihm ostentativen Beifall eintrug, und begann dann, auf ein bestimmtes Thema frei zu phantasieren. Das Spiel war flach, kalt und leer; es war keine Regung von Seele oder persönlicher Eigenart zu spüren. Seine Freunde rasten vor Begeisterung.

Nun sollte der große Augenblick kommen, auf den alle warteten. Gallenberg, von de Fries begleitet, ging auf Beethoven zu, machte ihm eine große Reverenz nach der Art eines ritterlichen Gegners, und richtete an ihn unter atemloser Spannung und Aufmerksamkeit der Zuhörer die Frage, wie ihm seine Phantasie gefallen habe.

»Phantasie?« versetzte der Meister trocken, »wann fangen Sie denn eigentlich an?«

Gallenberg wurde grün im Gesicht und stotterte, aus dem Konzept gebracht, daß er eben eine freie Phantasie gespielt habe.

»Ach so,« sagte der Meister gedehnt und so laut, daß es alle hören mußten: »ich dachte, Sie hätten erst so ein bißchen präludiert!«

Über diese robuste Bemerkung entstand schallendes Gelächter.

Der verdutzte Amateur wurde rot und wieder blaß und schnappte nach Luft.

Hilfesuchend sah er sich nach dem Grafen de Fries um, der mit den Lichnowskys und mit Lobkowitz eine Gruppe bildete, in ein eifriges, leise geführtes Gespräch vertieft.

Sofort trat de Fries näher, wechselte ein paar Worte mit Gallenberg und kam mit diesem an den Meister heran.

»Darf ich Sie auffordern, Meister, mit mir über ein gleiches Thema, das Sie selbst angeben mögen, zu phantasieren?« sagte Gallenberg.

Die anderen umringten alsogleich die beiden Gegner.

»Lieber Freund,« entgegnete Beethoven, »dazu verspüre ich gar keine Lust. Ich bin gekommen, zu hören und nicht zu spielen. Und außerdem kämpfen wir mit allzu ungleichen Waffen!«

Gallenberg wurde erregt; er fürchtete, er könnte um den Zweck der ganzen Sache kommen, wenn der Meister bei seiner Weigerung bliebe, und wandte sich zunächst fragend an de Fries. Dieser wieder wollte Lichnowsky als Gegensekundanten bitten, seinen Schützling aufzumuntern. Aber weder Lichnowsky noch Lobkowitz wollten sich zu dieser undankbaren Mission herbeilassen; sie wußten, daß es nur eine gegenteilige Wirkung haben könnte. Sie zuckten schweigend und ablehnend die Achsel.

Gallenberg versuchte es nun auf schärfere Art, und begann etwas hochfahrend: »Wenn Ihnen mein Spiel nicht gefallen hat, dann haben Sie die Pflicht, mir durch die Tat zu beweisen, ob Sie etwas Besseres dagegenzusetzen haben. Sie sind mir für Ihr Urteil Genugtuung schuldig; ich bitte Sie also, meine Aufforderung anzunehmen!«

Aber der gutmütige Bär war diesmal nicht aus der Fassung zu bringen, er blieb unerschütterlich.

»Sie haben mich um meine Meinung gefragt, und ich habe sie Ihnen offen gesagt,« erwiderte er kühl; »verpflichtet bin ich Ihnen zu nichts!«

Die Sache drohte ins Wasser zu fallen.

»Nichts zu machen«, sagte de Fries.

»Sie sind allzu vorsichtig, Meister«, sagte Gallenberg impertinent.

»Sind Sie froh!« meinte gutlaunig Beethoven.

»Ich müßte annehmen, daß Sie nicht den Mut haben«, wagte Gallenberg zu sagen, worauf ihm von Lichnowsky eine Zurechtweisung widerfuhr.

Dem guten Meister wallte nun allerdings sein Blut; er wollte dem Knaben eben eine derbe Abfuhr zuteil werden lassen, da fiel sein Blick auf Giulietta.

Sie war an die Gruppe nähergetreten und hielt den Meister fest im Auge, als ob sie ihn hypnotisieren wollte. Unwillkürlich, wie unter geheimem Bann, sah er nach der Richtung, wo sie stand. Sie hatte die Hände krampfhaft über die Brust gefaltet, wie zum innigen Flehen; zugleich blickte sie ihn so bittend, so dringend und zugleich so schmerzlich verlangend an, daß er nicht widerstehen konnte. Eine dämonische Macht lag in Blick und Gebärde. Er verstand sogleich und – gehorchte.

Niemand konnte das stumme Spiel bemerken; um so größer war die Überraschung, als er plötzlich den Grafen anherrschte: »Vorwärts, vorwärts, Don Rodrigo!«, und mit wuchtigen Schritten, dem andern voran, das Podium beschritt.

Ein Beifallssturm brach los.

Dann Stille.

Der Meister klopfte ein Thema heraus: vier Noten.

Gallenberg wiederholte es und begann suchend einen musikalischen Gedanken herauszuspinnen und aufzubauen. Aber es wollte sich nichts Rechtes gestalten, die Form zerfloß immer wieder; es kam nichts heraus.

Der Partner ließ ihn eine Weile zappeln, und als sich der andere erschöpft hatte, fing er an.

Zuerst tastend, scheinbar unentschlossen, den Weg prüfend, immer das simple Grundthema wie einen Ruf, ein geisterhaftes Klopfen aufklingen lassend, gleichsam nur wie eine unerfüllte Sehnsucht. Dann aber brach Leidenschaft jäh und unvermittelt hervor wie ein wildschäumender Katarakt von Tönen, und abflutend ein seliges Singen, eine seelenvolle Melodie im wundervollsten Legato wie die Umschlingung zweier Liebenden, daß es den Hörern wundersam ums Herz wurde; und immer wieder diese vier mahnenden Klopftöne, die ein plötzliches Düster über das eben noch so beglückende Tongemälde verbreiteten wie ein unerbittliches Verhängnis, ein grausam vernichtendes, dämonisches Element, dem leise Klagen antworteten, zerfließende Wehmut und schließlich, wie nach überwundenem Erdenleid, andachtsvolle himmelwärts gerichtete Klänge. Noch einmal kehrte das Klopfthema wieder, nicht als dunkler Schicksalston oder als Erdensehnsucht, sondern verklärt, wie das Pochen am Tor des Ewigen.

Die Gesellschaft konnte sich nur langsam aus dem Bann der Ergriffenheit lösen. Dann aber ging der Beifallssturm mit unerhörter Gewalt los. Auch die Gegner waren überwältigt und gebärdeten sich rasend vor Begeisterung. Es war ein entscheidender Sieg.

Als sich der Meister, der den Orkan über sich ergehen ließ, ohne sich zu rühren, nach seinem Klavierpartner umsah, war dieser verschwunden. Er hatte den Kampf als völlig aussichtslos aufgegeben und stillschweigend das Weite gesucht. Eigendünkel und völliges Verkennen der Urgewalten, die in dem Meister lebendig waren, hatten ihn verblendet, bis ihm seine schmähliche Niederlage die Augen geöffnet hatte.

Die Gesellschaft begab sich in die Salons, wo ein kaltes Büfett aufgestellt war und die Diener Speisen und Getränke herumreichten. Das Musikzimmer war leer geworden. Der Meister kam suchend zurück, er hatte nirgends Giulietta erblickt.

Da stand sie dort, in der Nähe der Klaviere, allein, als ob sie ihn erwartet hätte. Er eilte auf sie zu, von heißer Sehnsucht getrieben, und öffnete unwillkürlich die Arme, um sie zu umfangen. Sie ließ es geschehen und bot ihm ihre Lippen dar zum ersten Liebeskuß.

»Giulietta!« stammelte er. »Du hast mich in Baden besucht!«

Und sie: »Mein Meister, du! Der Kampfpreis ich! Du hast heute unser Schicksalslied gesungen!«

Er kehrte nicht in den Gesellschaftsraum zurück. Es litt ihn nicht unter den Menschen. Es war ihm wirr zu Sinn, er mußte fort, fort in die dunkle sternenflimmernde Nacht hinaus. Draußen ward ihm wohler; seine wirren Gedanken ordneten sich allmählich. Eines konnte er nicht fassen, es stand wie ein Rätsel über ihm: wie kam das nur alles? Eine Seligkeit sang in seinen Sinnen, und trotzdem dieses dumpfe, brennende Weh in der Tiefe des Herzens!

Er war lange umhergeirrt und kam endlich spät nach Mitternacht heim.

Dann setzte er sich hin und schrieb in sein Notizbuch die Worte: »Ich bin nicht schlimm – heißes Blut ist meine Bosheit – mein Verbrechen Jugend – schlimm bin ich nicht – schlimm wahrlich nicht – wenn auch so oft wilde Wallungen – mein Herz verklagen – mein Herz ist gut. – Wohltun, wo man kann – Freiheit über alles lieben, Wahrheit nie – auch sogar am Throne nicht verleugnen!«

Er war erhitzt, die Wanderung in der Nacht, das heiße Blut; er warf den Oberrock ab – wie dumpf und schwül war es doch im Zimmer! Er riß alle Fenster auf: der kühle Luftzug tat wohl und trocknete die feuchte Stirn; in vollen Zügen sog er den kalten Atem der Nacht ein, das beruhigte.

Er begab sich zu Bett und lag wie im Fieber; kein erquickender Schlaf wollte kommen, nur bleischwere Müdigkeit drückte ihn nieder. Am anderen Morgen fühlte er sich wie zerschlagen; es kam über ihn wie eine Krankheit, er schleppte sich hin und wußte nicht, was und wo es ihm fehle. Das böse Ohrensausen, an dem er früher litt, stellte sich wieder ein.

An den Unterricht bei den Brunszviks war nicht zu denken; er erschien heute nicht bei den Schwestern; auch nicht an den folgenden Tagen. Auch schreiben mochte er nicht, um sein Fernbleiben zu entschuldigen; er konnte keinen Entschluß finden und lebte wie in einer Art Betäubung dahin.

So vergingen acht Tage; er fing an, sich etwas zu erholen. Auch das Ohrensausen hatte aufgehört.

Merkwürdig, wie schwer es ihm war, den Unterricht bei den Schwestern wieder aufzunehmen, während es ihn sonst mit tausend Händen hinzog, so daß er in liebender Ungeduld die Stunde herbeisehnte und früher kam und um so später ging.

Und jetzt! Ein Schuldgefühl drückte ihn; wie sollte er vor Theresa erscheinen, der reinen, lieben, guten! Und vor der anmutigen Josephine!

»Morgen,« dachte er, »morgen!«

So verstrich wieder ein Tag um den anderen.

Eines Morgens brachte der Diener einen Brief, der abgegeben worden war.

Der Meister drehte den Brief in seinen Händen lange um und um; es ahnte ihm nichts Gutes. Das große feine Papier, Elfenbeinton, die klare, großzügige Schrift, die ihm bekannt dünkte; das Herz schlug ihm in der Brust – er betrachtete aufmerksam das Siegel: es war das Brunszviksche Wappen.

Hastig riß er das Kuvert auf und las:

»Teurer Meister!

Wenn Sie diesen Brief lesen, sind wir schon in weiter Ferne. Mama wünschte, daß wir nach Martonvásár zurückkehren. Wir haben so lange und schmerzlich Ihre liebe Anwesenheit entbehrt und sagen Ihnen nun durch diese Zeilen Lebewohl! Der Sommer gehört den Arbeiten auf dem Gut, der ländlichen Stille und Einsamkeit. Gebe Gott, daß wir uns im Herbst wieder in Wien finden. Josephine und ich danken Ihnen aus vollem Herzen für die kostbaren Stunden, die uns unvergeßlich bleiben. Wir sind tief betrübt.

Ihre treue Theresa.«

Das Blatt entsank seinen zitternden Händen.

Heiß quoll ein würgender Schmerz in seiner Brust herauf und stieg siedend in die Augen. Er warf sich stöhnend aufs Bett und weinte im wilden Sturm des Wehs und der Verzweiflung. So kam es über ihn, was er lange zurückgedrängt und kaum gewußt hatte.

»Verloren, verloren, o meine geliebte Theresa, mein Engel, mein Alles! Warum es so kommen mußte, warum, warum?«

Aber was er auch klagte – da lag der Brief am Boden, den er wieder sorgfältig aufhob und küßte und an seiner Brust verwahrte: was er in wenigen Worten enthielt, es war ein Abschied.

Für immer?!

»Es kann nicht sein, es darf nicht sein! Du darfst nicht von mir gehen, wie Leonore von mir ging! Meine Geliebte, meine Muse, mein Teuerstes!«

Jetzt war es ihm klar: er liebte Theresa wie sein besseres Ich, wie ein Idealbild, wie die Göttin Kunst, der sein Leben geweiht war.

Warum hatte er nicht gesprochen, als es noch Zeit war; warum hatte er ihr nicht gesagt, daß er in heißer Verehrung zu ihr betete wie zu einer Himmlischen, daß sie seinen Lebensweg begleite? Warum blieb sein Mund verschlossen in scheuer, stummer Verehrung?

So ging sein vergebliches Fragen.

Aber immer meldete sich der quälende Gedanke:

»Durch eigene Schuld!«

Und sein Gewissen schrieb mit dem Finger in feurigen Lettern dieses eine Wort in seine Seele, das alles Schuldbewußtsein umfaßte:

»Giulietta!«

Ja, das war es! In dem verführerischen Bild Giuliettas verkörperte sich das, was er sich jetzt in bitteren Selbstanklagen vorwarf: die Untreue gegen sein Ideal Theresa! Sie, das keusche Idealbild, hat es geahnt oder vielleicht gar gewußt, und ist ihm entschwunden! Er wollte sich nicht beschönigen vor sich, und führte es sich mit aller Schärfe vor Augen, daß er um Giuliettas willen die hehre Geliebte verleugnet habe. Daß all sein Sinnen und Denken sich der Koketten zuwandte, daß er in Sehnsucht nach ihr verging und in Sinnenlust entbrannt war, von dem ersten Augenblick an, da er sie sah, und daß von dieser Stunde an nicht mehr Theresa als Verkörperung der himmlischen Liebe in seinem Herzen thronte, sondern sie, Giulietta, dieses betörende Trugbild der irdischen Liebe, das sein Fühlen und Denken verwirrte und umnebelte.

Liebe auf den ersten Blick!

»Wäre ich ihr doch nie begegnet! Ich Unseliger, Elender! Warum mußte sie mich als geheimnisvoll verschleierte Versucherin in Baden aufsuchen, und mir diese Unruhe ins Gemüt legen, daran ich seit damals litt! Warum kam sie zu den Schwestern, wo mir plötzlich die Ahnung aufstieg, sie ist es! Und nun doppelt heißes Verlangen in mir entbrannte?! Und dann bei Lobkowitz, und schließlich neulich – – –?! Warum, warum das alles?! Oh, wie ich sie hasse, hasse, hasse!«

Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen; ein Wahnbild, das von seinem Hirn und Herzen Besitz ergriffen und ihn verlockt und verstört hatte, zerfloß in nichts; in ungetrübter Reinheit thronte wieder Theresa auf dem Altar, den er ihr in seinem Innern errichtet hatte; sie war keineswegs verstoßen, nur sein umflorter Blick war trübe geworden und hatte ihre segnende Gegenwart nicht mehr gesehen in dieser Klarheit und Helle, wie er sie jetzt sah – und doch war sie nun entrückt, unerreichbar wie einst seine jugendliche Leonore, die ihm Theresa mehr als reichlich ersetzt hatte.

»Unerreichbar? Nein!«

Sein nächster Gedanke war, nach Martonvásár zu schreiben und Theresa alles zu beichten.

Er setzte sich sofort hin und fing den Brief an.

»Geliebte Theresa!«

Nein, das geht nicht!

Er zerriß das Blatt und nahm ein anderes her.

»Verehrungswürdige Theresa!«

Ja, das klingt besser. Nicht so vertraulich, was etwas verfrüht wäre.

Er schrieb ein bis zwei Zeilen, dann stockte er wieder.

Wie soll man nur das Unsagbare fassen?

Wieder zerriß er das Blatt und fing ein drittes an.

Aber er kam nicht weiter.

»Mit dem Schreiben geht's nicht!«

»Halt! Am besten mündlich! Franz Brunszvik als guter Freund wird mich verstehen und den Dolmetsch meines Gewissens machen. Mit dem Schreiben hat's dann immer noch Zeit!«

Aber o weh! Franz war nicht in Wien; der Meister erinnerte sich jetzt, daß er bereits vor einigen Wochen nach dem Gut in Ungarn abgereist war.

Ludwig fühlte sich wieder elend, seine Hoffnungslosigkeit und Verlassenheit kam ihm nun mit voller Schärfe zum Bewußtsein.

Er brütete vor sich hin und fand keinen Ausweg. Die Stunden verrannen.

Herzog steckte den Kopf zur Tür herein und reichte seinem Herrn ein Briefchen hin. Rosa Papier, parfümiert.

»Von einer Dame abgegeben. Sie kommt morgen wieder, Punkt elf!«

Sagte es und zog sich zurück.

Der Tiefbekümmerte las:

»Meister! Ich wartete – vergebens! Nun komme ich selber! Ich erinnere an das Versprechen. Wann beginnen die Unterrichtsstunden? Morgen elf Uhr vormittag bin ich hier. Es harrt in treuem Gedenken –

Giulietta!«

In einem Anfall heftigen Zornes zerriß Ludwig das Briefchen in tausend kleine Fetzen.

»Ach, dieser Vampir! Diese falsche Hexe! Diese Räuberin!«

Dann schrie er zur Tür hinaus:

»Morgen um elf Uhr nicht zu sprechen!«

Er bekam keine Antwort, die er übrigens auch nicht zu erwarten schien, und schlug krachend die Tür wieder zu.

Mit großen Schritten stampfte er hin und her, wütend. Er war wieder ganz lebendig geworden.

»Warte nur, du böse kleine Hexe!«

Er freute sich grimmig auf morgen, wo sie mit langer Miene wird abziehen müssen.

»Einen Strich unter die ganze verdammte Geschichte setzen und reumütig alles bekennen – – von vorne anfangen, besser, schöner! Oh, Theresa wird verstehen und verzeihen – sie ist edel, sie ist gut!«

Er war mit starken Entschlüssen gewappnet.

»Es muß alles wieder gut werden! So wie es vorher war. Und dann – – – Nun, wenn alles wieder in Ordnung ist, dann hat die üble Sache doch auch ein Gutes gehabt!«

Er setzte sich ans Klavier und tobte stundenlang.

Am nächsten Vormittag stand er gegen elf Uhr an der Zimmertür und horchte in das Vorzimmer hinaus.

Es schlug elf; niemand kam.

Er wurde unruhig. Sollte sie ihn wirklich sitzen lassen? Er wünschte, daß sie käme; er wollte die Genugtuung haben, sie abweisen zu lassen.

»Ist Herzog nicht da? Hat er vielleicht das Klingeln nicht gehört?«

Er wollte eben hinaustreten, um sich von der Anwesenheit des Dieners zu überzeugen, da ging die Glocke.

Er hörte, wie Herzog öffnete und eine bekannte wohlklingende Stimme sprach.

»Bei Gott, das ist sie!«

Das Herz schlug ihm gewaltig.

Es tat ihm plötzlich weh, der Armen eine herbe Enttäuschung zu bereiten.

»Man könnte vielleicht eine andere, bessere Form wählen! Sie war doch eigentlich liebreich und hatte ihm nichts Böses getan. Was konnte sie dafür, daß er an solchem Zwiespalt und Gewissensqualen litt. Sie konnte ja von allem nichts wissen!«

Das Mitgefühl wollte Oberhand gewinnen.

»Was, zum Teufel, fällt dem Kerl ein zu sagen, daß ich zu Hause bin und sie erwarte! Hatte er gestern keine Ohren, oder vergessen, was ich befohlen habe?! Nun gut, sie wird einen gehörigen Empfang haben – einmal und nicht wieder!«

Er trat von der Tür zurück, herein schwebte mit unbefangenem, glücklichem Lächeln: Giulietta.

Kalt schnitt der Meister jedes weitere Wort ab und sagte mit trockener Sachlichkeit:

»Setzen Sie sich gleich ans Klavier, Gräfin, wir wollen noch einmal eine Probe machen, ob ich Sie als Schülerin annehmen kann.«

Folgsam und ohne Widerrede, wie ein braves Schulmädchen, gehorchte sie und wartete am Klavier stumm und aufmerksam, was er ihr vorlegen werde.

Dann fing sie zu spielen an.

Er traute seinen Ohren nicht: wo ist das feurige Temperament, das hinreißende Spiel geblieben, mit dem sie bei der ersten Begegnung im Hause Brunszvik seine Variationen aus dem Gedächtnis wiederholte? Nicht eine Spur ist davon zu merken! Nur fades Geklimper! Keine Spur von dem Geist Theresas, von dem frischen Talent Josephinens!

»Was ist mit Ihnen?! Ich kenne Sie gar nicht mehr?!«

Zornig riß er das Notenblatt vom Pult weg, daß es entzweiging.

»Ich kenne ja meine eigenen Noten nicht mehr, wenn Sie spielen! Ich muß mich getäuscht haben, Gräfin, als ich Sie das erstemal hörte; aber ich kann Sie nicht als Schülerin aufnehmen; es scheint, Sie haben gar kein Talent dafür!«

Giulietta war aufgestanden, ihre Augen schwammen in Tränen.

»Es ist nur, weil Sie böse auf mich sind!«

Diese Tränen, diese Worte, der weiche kindliche Ton wandelten ihn augenblicklich um; das Eis schmolz in der Brust, er fühlte es plötzlich warm von innen her.

»Nein, Giulietta,« sagte er ganz verändert, »ich bin nicht böse auf Sie!«

Doch er besann sich rasch und ließ sie rauh an:

»Doch gehen Sie, gehen Sie! Ich wollte, ich hätte Sie nie gesehen!«

Sie hob ihren feuchten Blick zu ihm empor voll rührender Trauer, bittend:

»Ich weiß es, ich bin an allem schuld: Verzeihen Sie mir!«

Er sah verwundert auf:

»Schuld, woran? Wieso?! Ach, Sie können ja doch nichts dafür!«

»Doch, doch!« ereiferte sie sich. »Oh, Sie wissen es noch nicht? Ich war es, die ihn zum Wettkampf trieb, weil ich seine Niederlage voraussah!«

»Ach so!« Er war ganz erstaunt, und sie erzählte den Hergang. »Ich sagte Ihnen doch, daß ich der Kampfpreis bin und nur dessen Schülerin werde, der obsiegt!«

»Ja, warum das alles?!« Die Sache wurde für ihn immer merkwürdiger.

»Weil ich ihn nicht anders los werden konnte!«

»Ah, weil Sie ihn also los sein wollten! Das ist aber raffiniert!«

»Nun muß ich ja doch zu Gallenberg zurück! Sie verstoßen mich ja!«

»Zu Gallenberg?« schrie Ludwig, »nie und nimmermehr! Sie bleiben bei mir!«

»Er wirbt um meine Hand bei den Eltern – – –«

Ludwig stampfte mit dem Fuße auf: »Dieser greisenhafte Jüngling! Es wäre schade um Sie! Er verdient Sie nicht! Lieben Sie ihn?!«

»Ich verabscheue ihn! Ich wollte ihm entgehen, als Lehrer – und als Freier! Lieben kann ich nur einen genialen Mann von der Bedeutung wie – – nun wie Sie, Meister!«

»Giulietta!«

»Ich muß zurück, zu Gallenberg – er liebt mich, und Sie – – – Sie hassen mich!«

»Nein, Giulietta, tausendmal nein – ich hasse dich nicht – – – Giulietta, ich liebe dich! Es mußte ja alles so kommen! Mein – mein, vor aller Welt!«

»Still, still!« Sie verschloß ihm den Mund.

Er hatte sie in seine Arme gerissen, trunken von Liebe und Seligkeit. Vergessen war Theresa, vergessen das Leid und die Reue – er wußte nur, daß er die eine mit heißem Verlangen liebte und von ihr wieder geliebt wurde, von dem ersten Augenblick an, da sie sich gesehen, eigentlich damals schon, da sie verschleiert vor ihm stand, noch fremd und unbekannt.

»Sag' mir das eine, Giulietta, warum hast du mich damals in Baden heimgesucht? Du kanntest mich so wenig, wie ich dich kannte.«

»Oh,« plauderte sie ganz vergnügt, »ich kannte dich aus den Reden meiner Kusinen, die furchtbar schwärmten von dir und ein großes Geheimnis aus dir machten. Sie waren eifersüchtig –«

Ludwig stieß sie von sich. Er fühlte einen brennenden Stachel in der Brust.

»Kein schiefes Wort gegen sie!« gebot er, »Theresa ist eine Heilige!«

»Ich war neugierig,« fuhr Giulietta fort, »mich reizte die Idee, schließlich gewann sie Herrschaft über mich; ich mußte, ich konnte einfach nicht anders. Es war wie eine unwiderstehliche Macht, die mich zu dir zwang. Es war Schicksal! Und nun bin ich stolz auf meinen Löwen! Große, bedeutende Männer waren immer mein Schwarm. Nicht dieser schwächliche Gallenberg. Je mehr er gegen dich eiferte, desto mehr war ich für dich. Ich sage nichts gegen meine Kusinen, aber ich wollte triumphieren über sie; ihr Stolz tat mir weh! Nun bin ich es zufrieden! Wir gehören zusammen – ich fühlte es und gehorchte, das ist alles!«

Er schwieg; irgendwie drückte ihn eine Schuld; aber er fühlte das gleiche, dieses schöne junge, pantherhafte Wesen war unentrinnbares Schicksal, Bestimmung, Liebe, die wie ein Frühlingssturm über ihn hereinbrach, ein Elementarereignis, dagegen alle Vernunft und Besonnenheit ohnmächtig war.

Nun blieb keine andere Wahl, als besinnungslos dem Ruf dieser schicksalshaften Liebe zu folgen nach einem dunklen Ziel, das seiner wartete, ohne umzusehen nach jener Lichtgestalt, die in der Ferne nach ihm trauerte – Vielleicht, vielleicht auch nicht! Denn er sagte sich jetzt: sie denken wohl gar nicht an dich, wenigstens nicht so, wie du ihrer gedachtest, und Theresa, die Kühle, Keusche, Reine, liebt dich ja gar nicht, sie verehren dich als ihren Lehrer, nicht anders – Giulietta aber liebt dich als Weib, und ich liebe sie wieder; was also hast du dir vorzuwerfen?

Indem er also eine mahnende Stimme in seinem Innern überredete und sich ganz dem süßen Zauber dieser neuen stürmischen Liebe hingab, fühlte er ein ungekanntes Glück aus verborgenen Tiefen strömen, das ihn kühn und übermütig machte: er fühlte Riesenkräfte in sich; die Zukunft stand groß und glänzend vor ihm. Aus der Leidenschaft wuchsen seine starken Entschlüsse und gewaltigen Schöpfungen.

Er setzte sich ans Klavier und begann zu phantasieren.

»Horch!« sagte er, »was in jener Mondscheinnacht entstand, als du bei mir warst und ich dich stundenlang suchte in dem silberhell überglänzten Tal«, und er spielte ihr sein Opus 27 vor, das den Titel Mondscheinsonate führt. »Sie war dir bestimmt, sie ist das Denkmal unserer Liebe – unser Kind!«

Sie versuchte, das Werk nach ihm zu spielen; er war erstaunt über die Kraft der Einfühlung; während sie bei der Probe vorhin ganz versagt hatte, war sie jetzt eine andere, ihr Spiel hinreißend wie damals, als er sie bei den Brunszviks gehört hatte.

»Wunderliches Wesen,« dachte er, »sie lebt und webt in der Liebe; aus ihr schöpft sie ungeahnte Kräfte, die sie zu allem befähigen, zum Höchsten wie zum Tiefsten, und dann ist es unmöglich, ihr zu widerstehen. Das nenne ich Rasse! Aber außerhalb der Liebe ist sie leblos, uninteressant, tot. Fürwahr, es ist eine Wonne, von ihr geliebt zu werden, und doppelte Wonne, sie wieder zu lieben! Oh, unnennbares Glück!«

Sie lachten und scherzten zusammen wie sorglose Kinder, heiter und selig, weltvergessen. Die Stunden glitten vorüber; sie waren ihnen wie ein Augenblick, und sie erschraken, als sie merkten, daß es spät geworden war.

Giulietta machte sich eilends auf. Indem er sie zum Abschied umarmte, flüsterte er:

»Erlaubt will ich mein dich nennen!«

Lächelnd enteilte sie.


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