Mirok Li
Iyagi
Mirok Li

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27. Das rote Tor

In der alten guten Zeit verlieh der König den Auserlesenen seiner Untertanen das rote Tor. Es waren zwei haushohe Säulen, die oben mit einem Querbalken verbunden wurden, der viele lanzenförmige Verzierungen trug. An einer der Säulen steht der Titel und Name des Ausgezeichneten eingraviert, und das Ganze wurde rot angestrichen, weshalb man es »rotes Tor« nannte. An einem solchen Tor durfte man nicht vorbeireiten, man durfte auch nicht durch ein solches Tor hindurchgehen.

Wann die gute Frau Kang gelebt hat, von der diese Geschichte erzählt wird, weiß man nicht genau. Man sagt nur, daß ihr Dorf in einer still verborgenen Bucht Westkoreas gelegen war. Sie war ein schönes Mädchen, so daß sie trotz der Armut ihrer Eltern von vielen Familien als Schwiegertochter begehrt wurde. Der Sohn einer reichen Familie 148 aus dem benachbarten Dorf hatte das Glück, sich mit ihr zu vermählen.

Ihn schien aber kein guter Stern durchs Leben zu begleiten; ein harter Schicksalsschlag traf ihn, bevor er die ersehnte Hochzeit feiern durfte. Sein großes Haus wurde von Räubern geplündert und in Brand gesteckt, wobei seine Eltern lahmgeschlagen und er selbst geblendet wurde. So war die Familie mit einem Schlag so verarmt, daß man kaum mehr an eine Hochzeit denken konnte. Trotzdem kam die junge Braut zu ihm, um als seine Frau die kranken Schwiegereltern pflegen zu können.

Sie mußte viel arbeiten, ohne Ruhe und ohne Rast, um die Familie erhalten zu können. Sie kochte, wusch, säte und erntete. Im Sommer ging sie jäten, im Winter blieb sie die halbe Nacht auf dem Webstuhl, ohne zu seufzen oder ihr hartes Schicksal zu beklagen. So lebte sie Jahre und Jahre. Die Eltern starben und Kinder kamen zur Welt, sie 149 arbeitete aber immer noch in Ruhe und Stille, damit ihr Mann alles haben könnte, was nur ein Mensch sich wünscht. Nur das Augenlicht konnte sie ihm nicht schenken. Er sagte aber, daß er sie sähe, daß er sähe, wie schön sie sei und wie fleißig sie arbeite.

»Oh, ich sehe, meine gute Gemahlin, wie ihr auf dem Webstuhl sitzt«, sagte er lächelnd an einem Abend.

In diesem Augenblick stand sie aber daneben, sie setzte sich schnell und geräuschlos auf den Webstuhl.

»Ich sehe, daß ihr das Schiffchen in eurer Hand habt«, sagte er. Sie nahm es schnell in die Hand und webte.

Draußen stand ein Bettler und bat die Hausfrau um Unterkunft für eine Nacht. Sie gewährte ihm die Bitte. Er blieb aber nicht die ganze Nacht da. Nach Mitternacht wanderte er wieder fort. Er hatte Eile mit seiner Reise, er wanderte von einem Dorf zum anderen, um nachzusehen, ob nirgendwo im Lande Unrecht geschähe. Er war ein Osha, ein 150 rechtschaffener Mensch, den der König heimlich hinausschickte, mit der Aufgabe, die Taten seiner Beamten im Geheimen zu prüfen und gute Menschen aus der Not zu retten. Er berichtete seinem König von der treuen Frau des blinden Mannes. Sie war noch eine junge Frau, stand vor ihrem dreißigsten Lebensjahr, als man in ihrem Dorf, in der Nähe dieses armseligen Häuschens, ein rotes Tor entstehen sah, das Tor, das nur die auserlesenen Menschen als Geschenk des Königs erhielten. Vor dem Hause eines Mannes, der sich für seine Eltern, oder einer Frau, die sich für ihren Mann opferte, stand ein solches Tor. Keinem anderen Menschen als diesem gehorsamen Sohn und dieser treuen Frau und dem König selbst war es erlaubt, durch das rote Tor zu schreiten.

An dem Tor und um ihr Haus versammelten sich die Menschen von fern und nah. Der jungen Frau wurde es ängstlich zumute, so daß sie zu ihrem 151 Mann flüchtete. »Der Himmel hat euch erhört«, sagte er aber. »Er hat euer treues Herz gesehen, genauso wie ich es ohne Augen gesehen habe. Kommt, ich führe euch zu euerem roten Tor und will sehen, wie ihr durch das Tor schreitet.«

Da ging sie mit ihm aus dem Hause, schritt ruhig durch das rote Tor und empfing den hohen Besuch, den König des Landes. 152

 


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