Mirok Li
Iyagi
Mirok Li

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21. Der Dieb an Sylvester

Das Jahr war wieder einmal zu Ende gelaufen. In allen Häusern braute man Wein, buk Kuchen und bereitete die wohlschmeckendsten Speisen für den kommenden Tag, den ersten Januar, den größten Feiertag des Landes. Die Läden der Stadt waren heute bis Mitternacht offen, weil jedermann noch schnell für seine Kinder etwas einkaufen wollte. Männer und Frauen füllten die Straßen, sie gingen von einem Laden zum anderen, während die Kinder daheim ungeduldig auf die Feier warteten. Die Knechte und Mägde reinigten die Häuser, putzten Geschirr und Geräte. In allen Häusern wurde fieberhaft gearbeitet, damit man nur ja vor dem ersten Tag des Jahres fertig war, und alles in Sauberkeit glänzte.

Nur in einer einzigen Hütte regte sich nichts. Die fünf Kinder und die Mutter schliefen schon unter der Decke, 118 obwohl es noch nicht so spät am Abend war. Sie waren müde vor Hunger und schläfrig durch die Kälte, sie hatten den ganzen Tag nichts zu essen bekommen, und das einzige Zimmerchen, in dem alle sieben Menschen wohnten, konnte nicht geheizt werden. Der Vater aber saß noch vor dem kleinen Ölbecherchen mit dem brennenden Docht. Er war ein Sandalenmacher und hatte heute dreißig Kupferstücke nach Hause gebracht. Er rechnete nun, was er alles mit dem Geld für den ersten Tag des Jahres kaufen könne. Er sagte vor sich hin: »Reis« und legte das Geld für den Reis auf den Boden. Er sagte: »Fleisch« und legte das Geld für das Fleisch daneben. Er sagte: »etwas Gemüse« und legte noch ein paar Münzen hin. Dann aber war seine Hand fast leer. Er konnte für die Kinder keine Kuchen kaufen und auch kein Holz zum Einheizen. Aber er wollte doch so gern am ersten Tag des Jahres den Kindern und seiner Frau ein warmes Stübchen 119 schenken. So nahm er wieder alles Geld in seine Hand und rechnete von Neuem. Er sagte: »Holz« und legte das Geld für das Holz auf den Boden. Er sagte: »Kuchen für die Kinder« und legte das Geld für die Kinder beiseite. Mit dem, was übrig blieb, konnte er aber weder Reis noch Fleisch kaufen. Sein erster Knabe wollte auch ein Paar lederner Schuhe haben, er hatte aber kein Geld dafür. Wieder nahm er das ganze Geld in die Hand und rechnete noch einmal. Es reichte aber niemals aus.

Er kratzte sich am Kopf vor Ärger und seufzte.

Da kam ein Dieb ins Zimmer und zückte sein langes Messer: »Geld her oder dein Leben!«

Unser Sandalenverkäufer streckte ihm seine Handvoll Münzen hin und sagte: »Da nimm, ich werde doch nicht fertig damit.« Der Dieb nahm es, warf es aber verächtlich auf den Boden und schrie: »Gib mir dein großes Geld oder ich töte dich.« 120

»Ich habe kein großes Geld.«

»Lüge nicht! Ich bin die ganze Zeit vor deinem Fenster gestanden und habe dem Klappern deines Geldes zugehört.«

Mutter und Kinder wachten auf und zitterten vor Angst. Der Sandalenverkäufer stülpte seine Tasche um, machte die Schränke auf, um dem Dieb zu zeigen, daß er nicht mehr hatte, und führte ihn auch in die Küche, in der weder Reis noch ein Stück Brennholz war. Nur die Kälte füllte den leeren dunklen Raum. Wütend, daß er nichts mitnehmen konnte, ging der Dieb von dannen.

Dann begann der Sandalenverkäufer wieder sein Geld zu zählen, das er vom Boden aufgehoben hatte, während seine Frau und die Kinder wieder einschliefen. Nur die kleine Flamme seines Ölbecherchens tanzte im Hauch seines Atems, der wie Nebel in die Kälte hinausströmte.

Die Mitternacht nahte, und er mußte 121 nun doch in die Stadt, um etwas zu kaufen. Als er aus der Türe trat, fand er einen großen Sack auf der Schwelle liegen. Er machte ihn auf, und siehe, da war Reis, da war Fleisch und Geld darin. Er weckte seine Frau, die ihren Augen kaum traute, als sie die guten Sachen sah. Nun konnten die beiden Holz kaufen, und am nächsten Tag hatten sie einen so schönen Feiertag wie noch nie in ihrem Leben.

Der Dieb aber, der ihnen diesen Sack gebracht hatte, mochte nie wieder stehlen und rauben, weil er immer daran denken mußte, daß es auch bei anderen Menschen so sein könnte wie bei dem guten Sandalenverkäufer, der trotz seiner klappernden Münzen so bettelarm gewesen war. 122

 


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