Mirok Li
Iyagi
Mirok Li

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15. Okkekimi und Poksimi

Es war einmal eine reiche Familie in der Provinz Kapsan in Westkorea. Dem glücklichen Vater gehörten fast alle Reisfelder und Hirseäcker, fast alle Kühe und Pferde seiner Gegend. Das Haus war so groß, daß man vom ersten Tor bis zum innersten eine Stunde gehen mußte. Der Vater ritt nur auf den schönsten Pferden, und die Mutter wurde, wenn sie auch nur von einem Hof in einen anderen gelangen wollte, in einer Sänfte getragen. Als ihr Sohn, das einzige Kind der reichen Eltern, anfing, auf eigenen Füßen zu laufen, befahl die Mutter den Mägden, seinen Weg mit den weichsten Tüchern zu bedecken, damit es den zarten Händchen und Knien ihres Kindes nicht wehtun sollte, wenn es fiel.

Das geliebte Kind hieß Okkekimi, das bedeutet »Muttermal auf der Schulter«. Es war kein schöner Name für einen so 79 schönen und lieben Stammhalter. Doch erhielt das Kind keinen anderen. Denn Okkekimi hatte wirklich ein großes Muttermal auf seiner Schulter, und seine Eltern dachten auch, ein häßlicher Name würde ihn vor Unheil bewahren. Sie fürchteten, daß ihr Kind zu glücklich wäre, und daß böse Geister ihm neidisch werden könnten. Die Mutter ließ täglich eine Wahrsagerin ins Haus kommen, um zu hören, ob die Zukunft ihres Kindes mit Glück und Reichtum, Gesundheit und zahlreichen Kindern gesegnet sein würde. All diese Frauen verkündeten aber nur Gutes, weil sie sich vor dem Zorn des Vaters fürchteten. Nur eine einzige alte Wahrsagerin mit vielen Runzeln auf der Stirn sagte der Mutter, daß der Knabe nur 15 Jahre leben werde. »Werft die Hexe aus dem Haus!« befahl der Vater seinen Knechten und ließ ihr Orakelbuch, ihre Zauberstäbchen, ihre Fächer mit vielen buntgemalten Geistern verbrennen.

Was nützte aber das alles? Sie hatte 80 doch die Wahrheit gesagt. Die törichten Eltern hatten geglaubt, daß sie die Wahrheit verdecken könnten, wenn sie die unschuldige Frau nur verjagten. Aber das Kind wurde krank, als es vierzehn Jahre alt geworden war. Sein Vater ließ die allerbesten Ärzte ins Haus kommen. Der eine gab dem Kranken den kostbarsten »Insam« – eine Heilpflanze, deren Wurzel genau wie ein Mensch aussah – ein zweiter die jüngsten Sprossen von Hirschgeweihen und der dritte die härteste Tigerkniescheibe in Pulverform. Der Kranke aber wurde nicht geheilt, und die Ärzte wieder fortgeschickt.

Das Schicksal war aber gütiger, als es die Leute verdient hatten. Noch einmal kam die alte Wahrsagerin ins Haus, die einst so schmählich fortgejagt worden war. Okkekimis Mutter fragte sie, was sie gegen die böse Krankheit tun könne. »Einer muß sterben«, sagte die Alte, »weil es so im Buch des Gelben Brunnens steht. Wenn aber jemand für 81 ihn stirbt, dann kann euer Sohn gerettet werden.«

Wer aber sollte für Okkekimi sterben? Der Vater hatte so viel Vermögen gesammelt, er wollte nun sein Leben noch einige Jahre genießen. Die Mutter wäre gerne für ihn gestorben, wenn sie nur schon etwas älter gewesen wäre – sie war aber noch so jung! So rief sie nun alle Knechte und Mägde herbei, um zu fragen, wer für ihren Sohn sterben wolle. Die Knechte sagten, daß sie ihre Frauen hätten, die sie nicht verlassen wollten, die Mägde, daß sie ihre Männer hätten, die sie nicht allein lassen könnten. Es war nur ein einziges Mädchen da, das verwaist war und keine Verwandten hatte, welche es nicht verlassen durfte. Das war die gute Poksimi, die lange Zeit nachdachte, ob sie nicht doch einen Menschen auf der Welt hätte, für den sie weiterleben wolle. Dann sagte sie aber. »Ich bin allein. Ich werde für Okkekimi sterben.«

Nun malte die Wahrsagerin ein 82 großes Muttermal auf Poksimis Schulter, bekleidete sie mit dem besten seidenen Jäckchen und einer Hose von Okkekimi und legte sie ins Krankenbett, während der richtige Kranke in das kleine Kämmerchen von Poksimi hinüber getragen wurde.

Als es Abend wurde und die Stunde des Todes immer näher herankam, zündete man eine große Wachskerze neben der falschen Kranken an, breitete ein langes Tuch von der Schwelle der Zimmertür bis zum äußeren Tor, an dem links und rechts eine lange gelbe Lampe aufgehängt wurde. So zeigt man den Boten des Jenseits den Weg zu den Sterbenden. Die Eltern und die Wahrsagerin saßen neben Poksimi und warfen Münzen auf den Weg, damit die Boten sanft und gütig gestimmt würden. 83

Poksimi hörte nun den Schritt der Todesboten am Haupttor, dann am zweiten, dann am dritten und endlich vor der Zimmertür. Zwei große Männer in schwarzer Kleidung mit rotem Gürtel und einem Stock in der Hand traten zu ihr ans Bett, richteten sie auf und führten sie aus dem Haus. Sie drehte sich um, um das Haus noch einmal zu sehen, in dem ihre Eltern solange gearbeitet hatten, und wo sie mit so vielen Kindern gespielt. Das Haus war aber schon weit, weit weg. Sie hörte nur noch das Klopfen der Bäuerinnen auf ihrem Mangholz. Irgendwo bellten die Hunde in der Ferne – dann war nichts mehr von der Welt zu hören. Sie fühlte nur, daß sie eilig durch den nächtigen Weg geführt wurde. Der Himmel war dunkel und von den Boten konnte sie nur die Hände und die sich bewegenden Füße sehen. Nur der Weg, der endlos lange Weg, war klar zu erkennen. Sie wurde müde vom schnellen Laufen. »Liebe Todesboten, 84 laßt mich ein wenig ausruhen! Ich bin so müde, und der Weg ist so steinig.«

»Hier darf kein Mensch ruhen!« sagte der ein Bote, während der andere schwieg.

Dann mußte sie eine geraume Zeit durch Dornenhecken gehen. Ihre armen Füße bluteten. Sie klammerte sich fest an die Hände der beiden Boten, um nicht so stark auftreten zu müssen. »Liebe Todesboten, laßt mich nur einen Augenblick hier ruhen, meine Füße tun mir so weh.« Die Boten sagten nichts und schleppten sie weiter. Nun wurde der Weg etwas ebener und etwas heller, so, als ob die Morgendämmerung heraufkäme. Poksimi war todmüde und fühlte einen brennenden Durst. Da sah sie, daß eine Frau mit einem Wasserkrug am Wege saß. »Liebe Todesboten, laßt mich trinken, ich brenne vor Durst!« Die Boten schauten in ihre Taschen hinein und sagten: »Nein, du hast in deinem Leben noch nie einem durstenden Menschen Wasser 85 verabreicht. Wir haben kein Geld für dich mitbekommen.«

Nach einer kurzen Weile erblickte sie wieder eine alte Frau mit einem Wasserkrug. Poksimi klagte aber nicht mehr über ihren Durst. Sie wußte nun, daß sie keinen Schluck Wasser bekommen würde. Da kam die alte Frau zu ihr und wollte ihr zu trinken geben. Die Boten aber jagten sie weg. Diese armen Frauen mußten solange an diesem Wege sitzen, bis das ganze Wasser in ihren Krügen verkauft war, zur Strafe dafür, daß sie sich in ihrem Leben geweigert hatten, einen Dürstenden zu laben.

Nun kam Poksimi ans Ziel. Ein gewaltiges Tor tat sich vor ihren Augen auf, durch das sie hindurchgeführt wurde. In dem Torgebäude standen links und rechts zwei baumstarke Wächter in schweren Panzern. Poksimi zitterte vor Angst. Sie hob ihren Kopf kaum und schritt zwischen den beiden Boten bis zum Saal der zwölf Richter. 86 Hier stand sie allein in der Mitte des großen Saales, an dessen einer Wand die zwölf Richter saßen. »Wie heißt du?« fragte einer von ihnen.

»Ich heiße Poksimi . . . ein armes, verwaistes Mädchen«, sagte sie kleinlaut.

Da blätterte der Richter in seinem Buch, das so groß wie der Tisch war, und sagte: »Wie kommst du hierher? Du sollst doch über 70 Jahre leben!«

»Ich bin allein auf der weiten Welt, so bin ich gestorben für den lieben Okkekimi.«

Da standen alle Richter auf und neigten sich bewundernd vor dem lieben Kind, das ein so trauriges Leben hatte, und das so gut geblieben war. Dann aber sagte der höchste der Richter: »Jedem Menschen ist seine Lebensdauer bestimmt. Du mußt wieder zur Welt hinaus und Okkekimi müßte eigentlich hereinkommen. Weil du aber so gut bist und dich für ihn geopfert hast, darf er weiter leben, bis auch du dein Leben beendet hast.« 87

Es kamen nun wieder zwei Boten herein und brachten Poksimi aus dem Saal. In großer Eile wurde sie auf einem breiten und hell beleuchteten ebenen Weg aus dem Totenreich geführt. Überall blühten Lotosblumen, auf denen die schönsten Vögel schlummerten. Poksimi zögerte fortzugehen, weil es da so schön und friedlich war. Es schien keine Sonne, doch war es hell und warm. Sie hatte nichts gegessen, doch fühlte sie weder Hunger noch Durst. Da und dort sah sie Menschen, die in wunderbaren Kleidern herumwanderten. Alle lachten und sangen. Einige saßen in einem Kahn auf dem blumenübersäten Teich. In der Ferne erblickte sie ihre lieben Eltern, die im Garten saßen und musizierten. Die Mutter winkte mit der Hand, aber schon war Poksimi über tausend Meilen entfernt davon. Es wurde wieder dunkel um sie her, und da hörte sie aus einem fernen Dorf einen Hahn den nahenden Morgen verkünden. 88

Okkekimis Eltern saßen die ganze Nacht an der Leiche der guten Poksimi, die mit einem weißen Tuch bedeckt war. Als es Morgen werden sollte, hoben sie noch einmal die Decke ab, um das arme tote Kind zu sehen. Da sahen sie einen roten Punkt auf ihrer Stirn erscheinen, der sich immer weiter ausdehnte und das ganze Gesicht mit einem Lächeln zu füllen schien. Dann plötzlich atmete Poksimi tief auf, als ob sie aus einem tiefen Traum erwache. Sie legte das Leichentuch weg, richtete sich auf und begann, von ihrem Weg ins Totenreich zu erzählen und endete, daß Okkekimi nun nicht den frühen Tod erleiden müsse.

Die glücklichen Eltern vermählten die beiden Kinder. Okkekimi und Poksimi vergaßen nie, allen armen Menschen wohl zu tun. Sie wußten nun, daß alles, was auf Erden geschieht, nach dem Tod vergolten wird. Poksimi hatte auf Dornen schreiten müssen, weil Okkekimi auf allzu weichen Tüchern 89 gelaufen war. – Sie lebten nun genau so schlicht wie ihre Knechte und Mägde, und wenn die trockene Jahreszeit kam, ließen sie einen großen Krug mit klarem Wasser füllen und vor das Haus stellen, damit kein Mensch an Durst leiden müsse.

Die beiden waren von allen Menschen geliebt, und als sie sehr alt geworden waren, starben beide in der gleichen Stunde. 90

 


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