Mirok Li
Iyagi
Mirok Li

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25. Der Knecht im Gelehrtenhut

Als ein berühmter, aber sehr armer Dichter starb, hinterließ er seinem einzigen Erben, dem treuen Knecht, nur seinen Gelehrtenhut aus feinem Roßhaar. Sonst war nichts zu finden in der armseligen Hütte. Doch war der Knecht nicht traurig darüber, sondern freute sich über den Gelehrtenhut, den er nun besitzen durfte.

Da er aber nicht wußte, was er mit dem Hut anfangen sollte, setzte er ihn an manchen Abenden auf sein Haupt, wenn er nach mühsamer Arbeit nach Hause kam und in der erfrischenden Abendluft ruhend vor der Tür seines Häuschens saß.

Da grüßten ihn die vorübergehenden Menschen, weil sie glaubten, es säße ein großer Gelehrter da und genösse den abendlichen Frieden. Dem Knecht gefiel das nicht schlecht, weil er in seinem ganzen Leben niemals so geehrt 142 worden war. Er ließ sich ruhig verehren und setzte die Miene eines Gelehrten unwillkürlich auf.

Mit der Zeit erkannte man aber doch, daß da kein großer Dichter vor seiner Türe saß, sondern nur der Knecht, der den ehrbaren Hut seines ehemaligen Herrn auf seine strähnigen Haare gesetzt hatte. Man redete hier und da davon, und ein junger Mann, der seit Jahren selbst nach einem solchen Hut strebte, nahm sich vor, diese Freveltat zu strafen.

So holte er sich einen auch für ihn selbst unverständlichen, schweren Klassiker aus der Büchertruhe, schrieb daraus ein Gedicht ab und begab sich damit eines schönen Abends zu dem Haus des verstorbenen Dichters. Vor der Tür saß natürlich der Knecht mit dem ehrbaren Hut. Der junge Mann verneigte sich aber tief, als ob er den Schwindel nicht erkenne, und sagte höflich: »Ein glücklicher Zufall brachte mir die Nachricht, daß auf 143 diesem Hügel ein hochgelehrter Dichter weile. Wissensdurst ließ mir nun keine Ruhe, so daß ich gewagt habe, zu Euch zu kommen, um Lehre zu empfangen. Es ist zuerst dies eine Gedicht, das ich nicht zu deuten vermag und von Euch erläutert zu haben wünsche.«

Der Knecht erkannte aber die Absicht des jungen Mannes. Er hielt das Gedicht in der Hand und seufzte. Dann händigte er es dem jungen Manne wieder aus und sagte ruhig: »Ich kann es nicht lesen.«

»Redet nicht so bescheiden!« sagte der junge Mann lächelnd, »wenn ein Mann den Gelehrtenhut trägt, muß er das Gedicht verstehen.«

»So?« sagte der Knecht erstaunt, nahm den Hut von seinem Kopf, setzte ihn auf den des jungen Mannes und sagte: »Gut, versuche du es dann selber, und wenn du es ausgelesen hast, gib mir meinen Hut wieder zurück!« 144

 


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