Mirok Li
Iyagi
Mirok Li

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Vorwort

An einem schönen Sommernachmittag wurde ich zu einem Bach geführt und gebadet. Es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich in fließendes Wasser tauchte, und ich muß sehr ängstlich ausgesehen haben. Mein Schwesterchen, das nur wenige Jahre älter war als ich, aber schon viele Erfahrungen in der Welt gesammelt hatte, meinte tröstend, daß das Baden in einem Bach sehr schön sei. Sie selbst badete aber nicht, sie stand nur am Ufer und führte mich mit beiden Händen immer weiter zu einer tieferen Stelle, so daß ich zum Schluß bis zum Hals eingetaucht war. Nachdem ich dann so eine Weile in der Flut hin- und hergewatet war, stellte sie mich auf einen Felsen, ließ mich abwechselnd auf einem Fuß treten und einen Spruch wiederholen: »Tongdong halmi, laß mich trocken werden!« Halmi heißt so 8 viel wie »Alte Frau«, das wußte ich schon, ich wußte aber nicht, wer diese alte Frau Tongdong war. Ich vermutete nur, daß sie wie alle alten Frauen in Korea grauhaarig und blütenweiß gekleidet sein mußte. Als ich meine Schwester fragte, wo diese alte Frau lebe, sagte sie: »Ach, irgendwo zwischen den hohen Felsen! Du mußt auf alle Fälle immer das Sprüchlein hersagen, wenn du gebadet hast, sonst kommt eine andere alte Frau, die alte Frau Magu, die dich krank macht. Diese alte Frau lebt auch zwischen den Felsen.«

Sie waren also auch unsichtbare Wesen. Ich hatte aber keine Furcht vor ihnen, weil es heller Tag war. Das Wasser war klar, der Himmel blau und der Fels leuchtete in der Sonne.

Etwas unangenehmer war mir die Vorstellung von Pindsu, von dem ich schon früher einige Male gehört hatte. Er hatte die furchtbare Eigenschaft, jedes unartige Kind von seinem 9 Elternhaus wegzuholen. Ich hatte einmal meinen Zeigefinger naß gemacht und damit das Seidenpapier eines Schiebefensters aufgeweicht, weil das interessant war. Da sagte man mir, daß das dem Pindsu mißfalle, und daß ich sicher einmal von ihm abgeholt würde. Er lebte zwar weit weg von hier, etwa am Meer südlich von unserer Stadt, käme aber blitzschnell überall hin, wo nur ein unartiges Kind zu holen sei. Es kam mir unheimlich vor, besonders weil es auch an diesem Nachmittage viel donnerte und auch regnete.

Die nächsten unsichtbaren Wesen, die ich kennenlernte, sollten sogar ihre Wohnsitze in unserem Hause haben. Da waren zuerst die sogenannten Samsin oder Drei-Geister, die uns vor Unheil schützen würden. Sie lebten in der Nähe des Haustores. Man opferte dort jedes Jahr einen neuen Bogen Papier, der dreimal gefaltet an der inneren Seite des Tores aufgehängt wurde. Ein anderer Geist lebte in der großen 10 Kornkammer, um das Korn zu schützen. Diesem opferte man nach jeder Ernte ein Bündel Reisähren, das in einer Ecke der Kammer aufgehängt wurde. Nachdem ich die Bedeutung dieser hängenden Ähren gehört hatte, war es mir nicht geheuer zumute, wenn ich allein in der Kornkammer war, weil doch der Schutzgeist nicht zu sehen war.

An schönen, leicht bewölkten Tagen sollen die sogenannten Sinson – die Berggötter – auf dem Gipfel unseres Suyangberges musizieren und Wein trinken. Man solle sie sehen können, sagte meine Schwester, wenn man als Holzfäller lebte und an einem solchen Tage zum Gipfel stiege. Diese Götter waren an sich Menschen, die im Himmel lebten und nur von Zeit zu Zeit herabstiegen, um sich zu vergnügen. Die Sterne am Himmel seien solche Geister, die einst schon auf der Erde gelebt hatten, jetzt aber als Götter im Himmel seien. Auch Sonne und Mond waren ursprünglich Menschen. 11

Auch unter dem tiefen Wasser des Meeres lebten Menschen. Es waren verbannte Frauen, die sehr traurig waren, weil sie nicht zur Erde zurückkehren durften. Nur in stillen Mondscheinnächten kamen sie aus den Wassern und stiegen auf einen Felsen, um dort ihr Haar im Mondschein zu trocknen. Da kämmten sie die Haare und besangen die Einsamkeit, was sehr traurig klingen soll. Ich hatte ein großes Mitleid mit ihnen.

Im tiefen Gebirge lebten die wilden Tiere wie Hasen, Füchse, Wölfe, Bären oder Tiger, die an sich auch verbannte Menschen waren. Sie machten sich gegenseitig Besuche, sie belogen und bestahlen sich, wie mir mein Schwesterchen nach und nach erzählte. Solche Erzählungen nannte man Iyagi und je nach dem Tier Fuchsiyagi, Haseniyagi, Tigeriyagi. Am meisten erzählte man Tigeriyagi, weil der Tiger doch das klügste und vornehmste Tier war. Er unterschied schlechte und gute 12 Menschen voneinander. So griff er z. B. niemals ein gutes armes Kind an, das von seiner Stiefmutter aus dem Hause gejagt wurde, was bei den zahlreichen Stiefmuttergeschichten stets der Fall war. So ein armes Kind mußte oft unter freiem Himmel schlafen, doch wenn es von einem Tiger entdeckt wurde, sammelte der viel Laub um es, damit es nicht friere.

Die Buben erzählten sich keine Stiefmuttergeschichten. Bei ihren Iyagi wanderte meist ein junger Mann in die Welt hinaus, um nach vielen Jahren zurückzukehren. Der eine verließ seine Heimat, weil seine Eltern zu arm waren und ihm geraten hatten, draußen sein Glück zu suchen. Ein anderer verließ sein Haus, weil seine ganze Familie ausgestorben war, und er nicht mehr allein im alten Haus leben wollte. Man wanderte über Berge und Täler immer in Sandalen und nur mit einem Stock aus Bambus Tausende von Meilen durch das Land. Oft fand man Tage und 13 Tage keine menschliche Behausung und mußte sich von Kräutern ernähren und – seinen Arm als Kissen – unter dem sternbesäten Himmel übernachten. Trotzdem wanderte man geduldig weiter, bis man endlich durch Zufall oder Wunder zu Glück kam.

Einer lief einmal mehrere Tage durch das einsame Gebirge, bis er in einer Nacht endlich in der Ferne einen kleinen Lichtschimmer entdeckte. Er ging ihm nach und fand eine kleine Hütte, deren Fensterchen erleuchtet waren. Er fragte vor der Tür, ob er in der Hütte schlafen dürfe – nur bis der Osten ergraue. »Wenn euch diese würdelose Hütte genügt, so tretet ein!«, sagte eine Frauenstimme. Als er ins Zimmer kam, sah er, daß es eine sehr alte, blinde Frau war, die hier allein lebte. Sie schien auch sehr arm zu sein, denn sie bot ihm nichts zu essen an und sagte nur, er solle sich in der kleinen Stube nebenan schlafen legen. Er dankte ihr für die Gastfreundschaft und legte sich gleich 14 zur Ruhe, obwohl er sehr hungrig war. Wohl sah er Schüsseln und Körbe mit guten Gerichten und Obst in seiner Stube stehen, aß aber nichts davon, weil er glaubte, daß das alles sei, was der armen Frau gehöre.

Am nächsten Morgen aber bewirtete ihn die alte Frau mit dampfendem Reis, Huhn und Gemüse. »Ihr seid ein guter Mensch«, sagte sie, »ich sehe es, obwohl ich blind bin. Ihr habt nichts von meinem Vorrat gegessen, obwohl ihr Hunger gelitten habt. So will ich euch auch belohnen. Wenn ihr heute weiter wandert, werdet ihr einmal um Hilfe gebeten werden. Dann sagt nur, daß die Ursache des Unglücks das Bild eines bösen Feldherren sei, welches tief verborgen ist.« Er dankte ihr für das Orakelwort und wanderte am frühen Morgen durch das Gebirge weiter. Er lief den ganzen Tag, ohne auch nur ein Haus zu sehen, oder auch nur einem Mönch zu begegnen.

So dachte er, daß der Orakelspruch 15 ihm nun keinen Nutzen mehr bringen würde. Als es Abend wurde, erreichte er ein weites Tal. Da sah er ein großes erleuchtetes Haus, das immer prachtvoller erschien, je näher er heran kam, und schließlich einem Palaste glich. Bangen Schrittes ging er bis an das hohe Tor, vor dem mehrere Diener saßen, und fragte, ob hier ein unwürdiger Wanderer wie er eine Matte zur Übernachtung haben dürfe. Da sagte einer der Diener: »Wandert weiter zu einem anderen Anwesen, wenn ihr könnt. In diesem Hause herrscht große Trauer, weil das einzige Kind, die einzige Tochter im Sterben liegt.« Da gedachte der Wanderer des Spruches und sagte: »Wenn der hohe Herr mich um Rat fragen wollte, würde er sicher sein Kind vor dem Tode retten.« Die Diener baten ihn nun, einzutreten und führten ihm zum Herren des Hauses, der ihn höflich empfing. »Hundert Kräuter und tausend Wundergräser haben nicht vermocht, mein Kind zu 16 retten. Wenn ihr mir das Unglück abwendet, werde ich den Dank nicht vergessen. Ihr sollt keinen Wunsch umsonst aussprechen, den ein irdischer Mensch erfüllen kann.«

Der Wanderer sagte: »Die Ursache des Unglücks ist das Bildnis eines bösen Feldherren, das in euerem Haus tief verborgen hängt.«

Der besorgte Vater überlegte eine kurze Zeit, dann befahl er den Dienern, den großen Wandschrank im Zimmer der Kranken zu räumen und die Tapete von der Wand zu reißen. Das geschah in großer Eile und siehe, aus der dunklen Tiefe des Schrankes leuchtete rot und golden das Bildnis eines Feldherren in voller Rüstung. Das Bild wurde von der Wand gelöst und im Hofe angezündet, daß es lichterloh brannte. Als es vollends verbrannt war, atmete die kranke Tochter auf und verfiel in einen tiefen Schlaf, um am nächsten Morgen geheilt wieder aufzuwachen. 17

Die glücklichen Eltern ließen den Retter nicht weiter wandern. Sie vermählten ihn mit ihrer Tochter, so daß der arme Wanderer der Ehemann der schönsten Frau und später auch der reichste Mann der ganzen Gegend wurde.

So ähnlich endete jede Geschichte. Einer kam durch seine Bescheidenheit, ein anderer durch seine Klugheit, wieder ein anderer durch Tapferkeit zum Glück. Immer war aber ein weiser Mann oder eine Wahrsagerin dabei im Spiel. Zum Schluß bekam man eine schöne Frau, wurde steinreich und kehrte als berühmter Mann in die Heimat zurück. Ich hörte aber immer wieder gern zu, wenn wir bei diesem oder jenem Freunde zusammensaßen und einer mit dem berühmten »Yeduhannom« – es war in der uralten Zeit ein Mann . . . . . – anfing.

Die Erwachsenen erzählten wieder andere Iyagi. Sie legten keinen Wert auf schöne Frauen oder Reichtum. Im Gegenteil! In ihren Erzählungen wurden 18 die schönen Frauen oft wegen ihrer Eitelkeit und die reichen Männer wegen ihres Geizes bestraft. Da spielten oft die sogenannten »Toggäbi« – die kleinen Teufelchen – eine Rolle. Diese Teufelchen, die selten einmal sichtbar wurden, sollen kaum größer als ein fünfjähriges Kind sein. Für gewöhnlich waren sie unsichtbar, weil jeder eine Tarnkappe mit sich führte. Sie trieben abends die Kinder durch Steinwürfe in ihr Elternhaus, wenn sie sich zu lange auf den Gassen herumtrieben. Sie steckten einem tagsüber schlafenden Mann Wattebällchen zwischen die Zehen und zündeten sie an, so daß er erschrocken aufwachte. Als einmal in einem reichen Hause in unserer Stadt ein üppiges Hochzeitsfest veranstaltet wurde, sollen die Toggäbi das ganze Nudelgericht gestohlen und Faden für Faden auf den Baumästen in einem Seitenhof aufgehängt haben, so daß man lange Zeit nach den Nudeln suchen mußte. Es waren auch dieselben 19 Toggäbi, die den eitlen Frauen eine harmlose Krankheit brachten, durch welche ihr Gesicht verunstaltet wurde. Im Haus eines reichen Mannes brachten sie wohl heimlich Ratten in die Kornkammer.

Am liebsten aber erzählten die Erwachsenen Iyagi, in denen ein ruhmsüchtiger Mann wegen seiner Eitelkeit mit oder ohne Hilfe der Teufelchen bestraft wurde. So wurden viele Wahrsager, Priester, Gelehrte oder Ärzte verspottet. Ein Gelehrter, der das Glück hatte, das literarische Examen zu bestehen, war stolz auf seinen neuen Titel »Tsinsa«. Er ging in eine entlegene Provinz, um sich von den einfachen Leuten bewundern zu lassen. In einem Dorf fragte er einen alten Mann, der gerade vor seinem Haus eine Matte flocht, ob er gewillt wäre, in seinem Häuschen für eine Nacht einen Tsinsa zu beherbergen. Der alte Mann freute sich sehr darüber und führte ihn gleich ins Haus zum Ehrenplatz des Herrenzimmers. Bei 20 der abendlichen Unterhaltung erzählte der junge Mann von dem schwierigen Examen, das er als drittbester von tausend Prüflingen bestanden hatte. Der alte Mann erkannte die große Leistung an und sagte, daß er das gut wüßte, weil er zufällig in diesem Frühjahr selber der Examinator gewesen sei!! Der junge Mann schämte sich nun so sehr, daß er noch in derselben Nacht davonlief.

So ähnlich wurden alle eitlen Männer mit ihren Titeln und die ehrgeizigen Beamten wegen ihrer Einbildung verspottet. Es gab kaum einen Statthalter, der nicht wegen seiner unzulänglichen Bildung und seiner Prachtliebe vom Volk bloßgestellt wurde. Es schien mir fast, daß jede amtliche Auszeichnung für einen wahren Gelehrten eine Würdelosigkeit bedeutete. So soll einst der berühmte Yulgok, wohl der beliebteste Dichter Koreas, sich immer wieder geweigert haben, einen Titel zu erwerben. Er hatte aber leider das 21 Unglück, eine Frau zu heiraten, deren Mutter nicht ohne Eitelkeit war. Sie hatte wohl ihre geliebte Tochter nur deshalb dem Gelehrten gegeben, daß sie die Frau eines titulierten Mannes würde. Wenn einer einmal das königliche Examen bestanden hatte, war das eine große Ehre für die ganze Sippe. Die Hofmusiker kamen ins Haus und musizierten drei Tage hintereinander, um die Freude des Königs über die Gelehrsamkeit des jungen Mannes kund zu tun. So wollte die Schwiegermutter des Dichters auch einmal die Ehrenmusik in ihrem Hause erklingen hören. Schließlich sah Yulgok das ein, begab sich der Schwiegermutter zuliebe nach Seoul und erwarb sich spielend den höchsten Titel. Bei der hohen Audienz fragte ihn der König, was wohl sein Wunsch sei, ob er ihm ein Amt in seinem Hof oder die Verwaltung einer Provinz anbieten sollte. Yulgok aber sagte dem König, daß er sich zu keinem königlichen Amt berufen fühle und deshalb lieber in 22 seine Heimat zurückkehren und in der Stille als Dichter leben wollte. Er bitte aber seine Majestät, als eine besondere Auszeichnung nicht nur drei Tage, sondern neun die Hofmusiker in seinem Hause beherbergen zu dürfen. Diese Bitte wurde ihm gewährt.

So erscholl endlich die ersehnte Ehrenmusik in dem stillen Dichterhaus zur großen Freude der ganzen Dorfbevölkerung. Pauken dröhnten und Trompeten schmetterten den ganzen Tag. Am vierten Tag aber kam die Schwiegermutter zu Yulgok und fragte ihn, wie lange diese Ehrenmusik noch dauern würde. »Seine Majestät war so gütig«, sagte der Schwiegersohn, »meine Gelehrsamkeit mit einer neuntägigen Musik auszuzeichnen.« Da seufzte die Schwiegermutter: »Gibt es denn keine Möglichkeit, diese hohe Ehre stumm anzunehmen, ohne diese laute Musik?« »Selbstredend!« rief der erfreute Schwiegersohn, »auch unser König schätzt die stille Ehre höher als eine 23 laute Auszeichnung.« Die Hofmusiker verließen das Haus und die Schwiegermutter hatte wieder ihre Ruhe.

Gerade dieser beliebte und sagenumwobene Dichter Yulgok war es, der als erster die koreanischen Erzählungen, Märchen und Sagen und Anekdoten gesammelt und niedergeschrieben hatte. In unserem Bücherschrank entdeckte ich plötzlich eines Tages ein mittelgroßes Buch von hundert Doppelseiten. Ich geriet in Entzücken, als ich sah, daß dies eine Iyagi-Sammlung von unserem Yulgok war. Ich zeigte das Buch meinem Vater und fragte, ob ich es lesen dürfe. Er erlaubte es mir und riet mir sogar, das Buch abzuschreiben, um dabei meine Handschrift zu verbessern.

Seitdem sind mehr als drei Jahrzehnte verflossen, und die meisten Iyagi sind meinem Gedächtnis entschwunden, nur diejenigen, die mir am liebsten waren, sind in der Erinnerung geblieben. Hier habe ich versucht, sie in 24 deutschen Worten wiederzugeben. Selbst wenn ich sie in der Übersetzung lese, erinnern sie mich an den besonnten Hinterhof, in dem mir mein Schwesterchen die vielen Tigergeschichten erzählte, an die kleinen Stuben meiner Schulfreunde, und an die sorgenlosen Stunden, die mir meine Eltern mit ihren Iyagi geschenkt haben. Mögen sie auch meine deutschen Freunde ein stilles Stündchen mit Humor begleiten. 25

 


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