Mirok Li
Iyagi
Mirok Li

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11. Kuhhirt und Weberin

Es lebte einst ein armer Hirt, der sein ganzes Leben nur Kühe gehütet hatte. Eines schönen Sommernachmittags war er aber in einen überirdisch schönen Park geraten im tiefen Gebirge, ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen war. Er mochte einen Augenblick geschlummert haben, als er auf seiner Kuh ritt. Auf einmal sah er um sich nur blühende Bäume, die das ganze Tal mit leuchtenden Farben grüßten und füllten. Es war kein Menschenlärm in der Nähe, es war still, nur die fallenden Blüten schwammen auf dem klaren Wasser der Bäche dahin. Als er erstaunt und furchtsam um sich blickte, sagte die Kuh, die ohne Zögern weiterschritt: »Sei nicht besorgt, ich bringe Dich nur zu den Göttinnen, die heute hier herabgestiegen sind und baden. Da ist eine sehr schöne Jungfrau, die Du zu Deiner Frau machen 63 sollst.« Der Hirt erschrak über die Vermessenheit seiner Kuh. »Ich bin nur ein armer Hirt, wie kann ich eine Göttin zur Frau nehmen?« fragte er. »Das ist leicht«, sagte die Kuh in ruhigem Ton; »Du brauchst nur ihr rotes Kleid an Dich zu nehmen und es ihr nicht eher zu geben, bis sie Dir versprochen hat, Deine Frau zu werden.«

Kaum hatte sie das gesagt, sah schon der Hirt einen wunderschönen Teich durch die blühenden Bäume schimmern und die schönen himmlischen Jungfrauen baden. Die Kuh führte ihn sachten Schrittes zu der Stelle, an der die ausgezogenen Kleider der Göttinnen lagen. Er nahm schnell das rote Kleid und verbarg sich hinter einem Baum. Kurz danach erschraken aber die Frauen, weil sie bemerkt hatten, daß hier ein irdischer Mann und eine irdische Kuh hergekommen waren. Bestürzt kleideten sie sich an und stiegen eilig in den Himmel, während die eine, die schönste von ihnen, schamhaft herumlief und 64 verzweifelt nach ihrem Kleide suchte. »Dein Kleid ist hier«, sagte ihr nun der Hirt, »ich werde es Dir sofort geben, wenn Du mir versprichst, meine Frau zu werden.« Sie mußte es ihm versprechen, weil sie sich ihrer Nacktheit zu sehr schämte. Er ließ sie sich kleiden und führte sie nach Hause.

Ein ganzes Jahr lebte nun der Hirt glücklich mit ihr.

Eines schönen Abends aber, als sie vor ihrer Hütte unter dem sternklaren Himmel gesessen hatten, sagte sie, daß sie doch wieder in den Himmel gehen müsse, weil sie den Zorn des Himmelsherren fürchte. Sie sei die Weberin, die im Sternbild »Weberin« (Wega) lebt und für die Hoftracht des Himmelsherren weben muß. Der Hirt wollte aber nicht ohne sie allein auf der Erde leben. So begleitete er sie in den Himmel. Als sie endlich dort ankamen, wurde die Weberin heftig von dem Himmelsherren gescholten, weil sie solange auf der Erde gelebt hatte und sogar einen 65 irdischen Mann mitbrachte. Dann aber verzieh er ihr's doch und setzte sie wieder auf ihr Sternbild ein, während er dem Hirten befahl, wieder zur Erde zu steigen. Da bat ihn die Weberin so bitterlich weinend, daß sie nun ohne ihn nicht mehr leben könne. Das sah schließlich der Himmelsherr ein und duldete auch den Hirten im Himmel. Nur bestimmte er, daß der Hirt auf der anderen Seite des Silberflusses (Milchstraße) leben und jährlich nur einmal zu seiner Frau kommen durfte. Seitdem sieht man in der Tat das Sternbild »Kuhhirt« (Adler) auf der linken Seite der Milchstraße, während das Sternbild »Weberin« auf der rechten Seite den Platz hat. Sie müssen also das ganze Jahr in dieser Entfernung getrennt leben, um sich wieder einmal sehen zu können, und das auch nur einen kurzen Augenblick. Denn die Entfernung auf dem Himmelszelt ist sehr groß. Bis der arme Hirt ankommt, ist es schon Mittag, und nachdem er sie erblickt hat, 66 muß er gleich wieder den Heimweg antreten, um noch vor Sonnenuntergang in seinem Sternbild sein zu können. An diesem Tag, das ist der siebente des siebenten Monats, fliegen alle Raben der Welt zum Himmel, um miteinander mit ihren Rücken eine tragfähige Brücke über den Himmelsfluß zu bauen, damit der arme, sehnsuchtsgeplagte Hirt bequem zu seiner Weberin kommen kann. Deshalb sieht man an diesem Tag bis zum Abend keinen Raben auf der Erde fliegen, und wenn es regnet, sagen die Menschen: »Oh, die Weberin weint wieder beim Abschied.« 67

 


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