Mirok Li
Iyagi
Mirok Li

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

20. Hungbu und Nolbu

Einst lebte ein steinreicher Mann namens Nolbu. Er war sehr geizig, wollte das unschätzbare Vermögen nur für sich allein behalten und nichts mit seinem Bruder Hungbu teilen. So jagte er den eigenen Bruder aus dem Haus. »Ihr seid noch jung und gesund«, sagte er zu Hungbu und seiner Frau, »Ihr könnt gut arbeiten und Euch selbst ernähren. Was sollt Ihr meine Last sein?«

Hungbu bat ihn nur um etwas Reis für die erste Zeit, doch vergebens. Nicht einen Scheffel voll Reis, nicht ein Paar Strohsandalen, ja nicht einen kleinen Trinkbecher aus Kürbisschale erhielten die armen Menschen, als sie ausziehen mußten. So lebten sie als die ärmsten Bauern der Gegend in einem benachbarten Dorf. Sie arbeiteten Tag und Nacht, um sich ernähren zu können. Hungbu eggte, säte, jätete und erntete, 112 seine Frau wusch, nähte und webte. Doch waren sie zufrieden mit ihrem Schicksal, lebten Jahre und Jahre fröhlich miteinander.

Der Frühling war wieder da, unter ihrem Dach nisteten die schönen Schwalben. Eines Morgens aber hörte die Frau ein Schwalbenkind jämmerlich schreien, das aus dem Nest gefallen war. Sie eilte hin, hob es vom Boden auf und entdeckte, daß dem armen Tierchen ein Bein gebrochen war. Das tat ihr leid. Sie verband das gebrochene Beinchen mit Spinngewebe, bis es fest geworden war und legte das Tierchen wieder ins Nest. Es schrie nun nicht mehr, das Beinchen heilte zusammen, und als im Herbst alle Schwalben nach Süden flogen, schloß sich auch die mit dem verbundenen Bein den anderen an.

Im nächsten Frühling freute sich Frau Hungbu sehr, als sie ihren einstigen Pflegling wiedersah. Sie erkannte ihn an dem Rest des Spinnenfadens am Bein. Auch die Schwalbe freute sich, die Frau 113 zu sehen, flatterte mehrere Male um ihr Haupt und legte zum Schluß einen Kürbissamen in ihre Hand. Erstaunt rief sie ihren Mann herbei, und er sagte ihr, daß das Tierchen aus Dankbarkeit einen Kürbiskern aus dem Süden gebracht habe. Sie solle ihn einpflanzen. Sie tat es auch. Sie pflanzte ihn an der sonnigen Seite des Hauses und pflegte mit großer Liebe die heranwachsende Staude. Diese trug drei große, weiße Blüten, und die drei weißen Blüten hinterließen drei Früchte, die zusehends größer wurden. Sie waren aber nicht gelb, wie andere Kürbisse waren, sondern grün und rot, wunderschön verziert. »Sie sind die schönsten Zierkürbisse aus dem Süden«, sagte Hungbu zu seiner Frau, »wir wollen aus ihren Schalen Trinkbecher machen.« Die Frau freute sich darüber. Die guten Menschen ahnten nicht, daß die Kürbisse Wunderfrüchte waren. Als sie an einem schönen Herbsttag – die Schwalben waren alle wieder 114 fortgeflogen – die drei reifen Früchte ins Haus holten und die Frucht auseinandersägten, um das Innere der Frucht herauszuholen und aus den Schalen Trinkbecher zu machen, sahen sie darinnen kein weiches Kürbisfleisch mit lauter Kernen, sondern lauter leuchtendes Gold. Als die zweite Frucht auseinandergesägt wurde, kamen daraus zahllose kleine Männchen mit den verschiedensten Bauwerkzeugen. Sie eilten alle zu einem Platz und bauten dort in Blitzeseile ein schönes und herrliches Haus, als wäre es für einen Fürsten. Aus der dritten Frucht kamen dagegen zahllose kleine, schöne Frauen, die sofort in das neugebaute Haus eilten, alle Räume mit Schmuck verzierten, ein Festmahl für den Einzug vorbereiteten und sofort wieder verschwanden, als wären sie nie dagewesen. So konnten nun auch die beiden Guten als reiche Menschen sorglos leben.

Als sein Bruder Nolbu davon erfuhr, wurde der neidisch, weil der andere 115 über Nacht so reich geworden war. So erkundigte er sich genau, wie es bei Hungbu zugegangen war, und beriet sich zu Hause mit seiner Frau, wie sie es nachmachen könnten. »Das ist nicht so schwer«, sagte sie zu ihm und tröstete ihn.

Als im nächsten Frühjahr die Schwalben wieder da waren, holte sich eines Morgens Frau Nolbu ein Schwalbenkind aus dem Nest, brach ihm ein Bein, umwickelte es mit viel Spinngewebe und legte das jämmerlich schreiende Tierchen wieder ins Nest. Dieses Bein heilte auch zusammen, und als im Herbst alle Schwalben nach Süden flogen, sah man auch die Schwalbe mit dem gebrochenen Bein mitfliegen. So ging alles gut. Im nächsten Frühjahr kreiste dieselbe Schwalbe mit dem Rest vom Spinngewebe am Bein um das Haupt von Frau Nolbu und legte einen Kürbiskern in ihre Hand. Erstaunt rief sie ihren Mann herbei, und er sagte ihr, daß das Tierchen aus Dankbarkeit den 116 Kürbiskern aus dem Süden mitgebracht habe. Sie solle ihn einpflanzen. Sie tat das auch, und in der Tat trug die Staude drei Früchte, die immer größer wurden, so daß sie an einem schönen Herbstabend gesägt werden konnten. Sie schickten alle Mägde und Knechte aus dem Haus, schlossen vorsichtig alle Türen und Tore zu und zersägten einen Kürbis nach dem anderen. Der erste Kürbis enthielt nur Unrat und Kehricht. Aus dem zweiten kamen zahllose kleine Männchen mit den verschiedensten Werkzeugen und zerbröckelten das ganze Haus von Nolbu in Blitzeseile. Die dritte Frucht ging von selber auseinander, und es sprangen zwei kräftige Knechte mit grimmigen Gesichtern und je einem Knüttel heraus. Sie stürzten auf die beiden, verprügelten sie erbärmlich und verschwanden fluchend. 117

 


 << zurück weiter >>