Mirok Li
Iyagi
Mirok Li

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18. Die blaue Naht

Es lebte einst ein sehr gelehrter aber sehr armer Mann, dem seine Frau oft Vorwürfe machte, daß er nicht verstand, Geld zu verdienen, und daß er nichts ins Haus brachte. Da er aber wirklich nichts anderes verstand, als hinter den schweren klassischen Büchern zu sitzen, mußte er sich alle Vorwürfe gefallen lassen.

Eines Abends, als er wieder einmal den Tadel seiner Frau hatte anhören müssen, erschienen plötzlich zwei Hausteufelchen und brachten ihm eine kleine, schwarze Kappe. »Wir schenken Euch diese Kappe. Ihr sollt sie aufsetzen, dann werdet Ihr unsichtbar. So könnt Ihr alles vom Markt nach Hause bringen, damit Eure Frau etwas zu Kochen hat und Euch in Ruhe läßt.«

»Das ist eine sehr gute Idee«, lobte er die Teufelchen, die schon wieder verschwunden waren. 98

Am nächsten Morgen ging er mit der Kappe auf dem Kopf zum Markt und steckte nach langem Zögern eine große Rübe in einen Leinensack, entfernte sich lautlos vom Markt und siehe, kein Mensch bemerkte es. »Das ist sehr angenehm«, dachte der Gelehrte und brachte das Gestohlene nach Hause.

Am nächsten Morgen ging er zu einem Getreideladen, füllte in aller Ruhe seinen Sack mit Reis und brachte ihn zu seiner Frau. Die war sehr zufrieden. Nun konnte er jeden Morgen etwas nach Hause bringen: Fisch, Fleisch, Gemüse, Obst, was seine Frau gerade zu haben wünschte, und konnte doch den ganzen Tag ungestört bei seinen Büchern bleiben. Wie schön war das!

Diese Wunderkappe wurde aber allmählich abgenützt, und es ging schließlich eine Naht auf. Er bat seine Frau, die aufgesprungene Naht wieder zusammenzunähen, und sie tat es mit einem Stück blauen Fadens. Damit war alles wieder in Ordnung; er ging weiter zum 99 Markt und holte reichlich Vorräte für seine Frau.

In dem Laden, aus dem der Gelehrte hin und wieder einen guten Weißfisch holte, wurde man doch aufmerksam, weil oft der beste Fisch plötzlich verschwand. Der Verkäufer sah manchmal etwas Rätselhaftes: Dieser oder jener Fisch sprang von selber in die Höhe und wurde gleich danach unsichtbar. Eines Morgens aber entdeckte er, daß in der Nähe des verschwundenen Fisches eine kurze blaue Naht schwebte, die langsam durch die Straße wanderte. Sie schwebte ganz deutlich durch alle Straßen und Gassen, bis der Gelehrte vor seinem Hause die Kappe abnahm und mit dem Fisch ins Haus gehen wollte. Da wurde alles sichtbar. Der Verkäufer packte den Arm des Gelehrten: »Her mit dem Fisch!«

Der Gelehrte stand fassungslos da. »Habt ihr mich beim Stehlen gesehen?« fragte er bestürzt. 100

»Die blaue Naht habe ich gesehen«, sagte der andere.

Der Gelehrte betrachtete die Kappe und nickte ihm zu. »Da, nehmt euren Fisch«, sagte er nach kurzer Überlegung, »nehmt aber auch diese Kappe mit. Ich schenke euch sogar dies Haus mit einer Frau darin, die ich selber nicht ernähren kann. Seht hie und da nach ihr, ob sie nicht ganz verhungert.«

Der Gelehrte ging nicht mehr ins Haus, sondern wanderte von der Stelle weg in die Welt hinaus. 101

 


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