Mirok Li
Iyagi
Mirok Li

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16. Die letzte Rettung

In den alten guten Zeiten hatten die Gefängnisse keine Mauern, weil die Sträflinge ihre schlechten Taten gern abbüßten. Sie wurden nur an einem Ort zusammengehalten, dessen Grenze durch einen weißen Strich gekennzeichnet wurde. Wenn hie und da doch einer über die Grenze ging und floh, so wurde er am nächsten Morgen wieder geholt, weil ein weiser Mann im Hofe lebte, der mit Hilfe zweier Stäbchen den Schlupfwinkel der Flüchtlinge ausfindig machen konnte. Die Stäbchen zeigten eine Zahl an und die Zahl ein Gedicht. Der Weise deutete das Gedicht und die Knechte holten den Flüchtigen unfehlbar wieder zurück. Kein Winkel auf der Erde war vor dieser Kunst sicher.

Trotzdem floh ein junger Bursche wiederholt aus dem Gefängnis, weil er sich so sehr nach der Freiheit sehnte, wurde aber immer wieder zurückgeholt. Er floh 91 zum dritten Male und ging diesmal ins tiefe Gebirge, um ja nicht von den Menschen gesehen zu werden, die ihn verraten könnten. Er lief den ganzen Tag und die halbe Nacht, bis er ein kleines einsames Häuschen neben einem Sturzbach entdeckte. Er klopfte an und bat um Unterkunft. Ein alter Herr mit weißen Haaren hieß ihn willkommen und teilte mit ihm sein Zimmer. »Weshalb seid ihr so traurig?« fragte der Greis, nachdem er den Gast lange Zeit betrachtet hatte. Da erzählte der Flüchtling von seiner Sorge, er würde doch wieder geholt und diesmal vielleicht mit dem Tode bestraft werden. Der Greis hörte ihm still zu und überlegte einen Augenblick. »Vielleicht kann ich dich retten«, sagte er. »Schlaf nun zuerst ruhig die Nacht hindurch.«

Am nächsten Morgen führte er den Burschen aus dem Hause zu dem Bach. »Leg dich hier auf den sandigen Boden mit gestreckten Beinen!« Der Junge tat es. Darauf wurde ein langer 92 Bambusstab mit Wasser gefüllt und auf seinen Bauch gestellt. »Halt ihn kerzengerade auf deinem Nabel und bleib so den ganzen Tag!« Der Junge tat es, bis der Abend kam. Dann wurde er befreit von dem Bambusstab und fortgeschickt. »Du kannst ruhig weiterwandern, du wirst nicht mehr verfolgt.«

Der Junge wanderte weiter und blieb wirklich von der Verfolgung verschont. Als er nach Jahren wieder zu seiner Heimat zurückkehrte, hörte er, daß man ihn für tot ausgegeben hätte.

Der angezeigte Spruch der Stäbchen hatte nämlich gelautet:

Unter ihm breitet sich weißer Sand,
Über ihm steht drei-Mann-hohes Wasser. 93

 


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