Gotthold Ephraim Lessing
Fragmente und Fabeln
Gotthold Ephraim Lessing

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11. Der Löwe und die Mücke

Ein junger Held vom muntern Heere,
Das nur der Sonnenschein belebt,
Und das mit saugendem Gewehre
Nach Ruhm gestochner Beulen strebt,
Doch die man noch zum großen Glücke
Durch zwei Paar Strümpfe hindern kann,
Der junge Held war eine Mücke.
Hört meines Helden Thaten an!

Auf ihren Kreuz- und Ritterzügen
Fand sie, entfernt von ihrer Schaar,
Im Schlummer einen Löwen liegen,
Der von der Jagd entkräftet war.
»Seht, Schwestern, dort den Löwen schlafen,«
Schrie sie die Schwestern gaukelnd an.
»Jetzt will ich hin und will ihn strafen.«
Er soll mir bluten, der Tyrann!«

Sie eilt, und mit verwegnem Sprunge
Setzt sie sich auf des Königs Schwanz.
Sie sticht und flieht mit schnellem Schwunge,
Stolz auf den sauern Lorbeerkranz.
Der Löwe will sich nicht bewegen?
Wie? ist er todt? Das heiß' ich Wuth!
Zu mördrisch war der Mücke Degen;
Doch sagt, ob er nicht Wunder thut?

»Ich bin es, die den Wald befreiet,
Wo seine Mordsucht sonst getobt.
Seht, Schwestern, den der Tiger scheuet,
Der stirbt! Mein Stachel sei gelobt!«
Die Schwestern jauchzen voll Vergnügen
Um ihre laute Siegerin.
Wie? Löwen, Löwen zu besiegen!
Wie, Schwester, kam Dir das in Sinn?

»Ja, Schwestern, wagen muß man! wagen!
Ich hätt' es selber nicht gedacht.
Auf! lastet uns mehr Feinde schlagen;
Der Anfang ist zu schön gemacht.«
Doch unter diesen Siegesliedern,
Da Jede von Triumphen sprach,
Erwacht der matte Löwe wieder
Und eilt erquickt dem Raube nach.



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