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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sonntag um Sonntag vergeht, Ossen kommt nicht zu Wagner. Er hat von seinen Prozenten bei der Volksblattdruckerei Handzettel bestellt; er hat einen Plan entworfen, nach dem sie vorgehen wollen, um die guten Mitglieder zurückzuwerben. An einem Sonntagmorgen findet Wagner den Geschäftsführer auf dem Schneidertisch.

»Die Arbeiter bekommen wir nicht wieder! Wir halten es nicht lange mehr aus!« sagt Ossen. »Wenn sich bis Ostern die Sache nicht bessert, dann gebe ich den Posten auf!«

»Wie können denn die Mitglieder Mut bekommen, wenn du so mutlos bist!« redet Wagner ihm ins Gewissen, »du bist das Aushängeschild der Genossenschaft. Man muß in deinem Gesicht sehen, aus deinen Worten hören, daß du deinen Glauben hast! Du treibst ja mit solchen Gesichtern die Kunden aus dem Haus!«

»Augenblick! Komm herein!« Ossen macht die Tür zum Nebenzimmer auf und sagt: »Wenn du wüßtest, was mir damals für Aussichten gestellt worden sind! Es ist eine Lust, die Mitglieder täglich seitenweise aufzunehmen, wenn nur der Fritzsche und die Arbeiter nicht mehr die Hauptrolle spielten. Ich habe nie etwas gegen Herrn Fritzsche gehabt, nie etwas gegen Vogel eingewendet. Ich wußte doch gar nicht, daß es so eine Feindschaft zwischen den Mitgliedern gab. Das alles hab ich erst hinterher erfahren!«

»Laß gut sein, Ossen, wir fangen noch einmal, wie von vorne, an. Unsere Genossenschaft soll nicht untergehen! Laß uns nicht mehr zurückschauen, sondern vorwärts! Wir helfen mit!« Wagner reicht dem verbitterten Schneider die Hand und sagt ihm ein paar ermunternde Worte. Dann fragt er, warum er nicht mehr an die Arbeiter glaubt.

»Das weißt du nicht? Ich war zufällig einmal bei Brade; Hochbetrieb in Verschwörung, eine neue Assoziation, für die sich die Arbeiter mehr als für uns interessieren. Die neue Arbeiterassoziation greift die Fabrikanten an und verlangt mehr Lohn! Das Wort Streik fiel alle zwei Minuten. Da machte ich, daß ich fortkam, – um alles in der Welt geh ich nicht mehr zu den Arbeitern!« Ossen schweigt einen Augenblick und fragt: »Was sollen wir tun, Freund Wagner!«

»Wir werden zu den Handwerkern gehen, in die Innungslokale. Jeden Abend irgendwo anders. Verlaß dich drauf, – schon morgen abend. Zuerst bei den Schuhmachern, die haben mich gefragt, ob wir überhaupt noch existierten. Das wollen wir ihnen zeigen! Wenn wir nur 100 Mitglieder neu aufnehmen könnten, will ich zufrieden sein. Hol mich morgen abend ab, wir werden gehen!«

Als sie am nächsten Abend bei den Schuhmachern erscheinen, werden sie zuerst nach Stolle gefragt; sie können getrost sagen, daß er nicht mehr dabei ist. Von den Anwesenden nehmen sie fünf Mitglieder auf. Ossen und Wagner bitten sie, so viel wie möglich im Genossenschaftsmagazin zu holen. Dann kehren sie noch bei den Schreinern ein. Es ist nur ein Meister da, er sagt, daß sie übermorgen, am Sonntag, eine große Zusammenkunft haben. Wagner und Ossen werden eingeladen. An diesem Abend schreiben sie neun Schreinerfamilien ein. Nun gehen sie in den Gasthof Krieger, – hier ist alles durcheinander, – gute Bürger, Handwerker, Arbeiter. Sie werden begrüßt, als sei nie ein Streit gewesen. Die Meister freuen sich, daß Herr Wagner und Ossen so gut Freund geblieben sind. Sie gehen von einem Tisch zum andern, verweilen dort zehn Minuten, hier eine halbe Stunde und erzählen mit großem Stolz, daß sie seit Neujahr über 50 neue Mitglieder bekommen haben. Als sie bei Krieger weggehen, haben sie 28 neue Leute aufgenommen. Jeden Abend treffen sie sich wieder. Bei den Schreinern haben sie noch acht Eintragungen hinzubekommen. Sie bieten ihnen an, auf ihrer Vereinstafel ihre Versammlungen bekanntzugeben. Die Genossenschaft bekommt wieder Vertrauen; mit Ossen gehen sie zu den Schneidern. Die sind, soweit sie nicht an die Geschäftskundschaft liefern, an die Händlerkundschaft gebunden. Doch die Lohnschneider haben keine Rücksicht zu nehmen, – sieben Mitglieder sind der Erfolg.

Nun sind im ganzen wieder über 300 Mitglieder eingetragen, doch der Umsatz läßt sehr zu wünschen übrig, – er erreicht nicht den dritten Teil des Umsatzes vom Gründungsjahr. Wagner malt ein Plakat, auf dem er die Mitglieder bittet, doch alle Waren in ihrem Magazin zu entnehmen, damit am Ende des Jahres eine möglichst große Ersparnis verteilt werden kann. Wagner versucht, die Mitglieder mit dem Hinweis auf größere Gewinne und außerordentliche Wohlfeilheit von neuem zu interessieren.

Am nächsten Sonntagmorgen hat Wagner keine Ruhe. Er geht zu Fritzsche, den er seit dem mißglückten Löschungsversuch nicht mehr gesehen hat. Das schlechte Gewissen treibt ihn, ebenso die Neugier auf die Aktion unter den Arbeitern. Als er bei Fritzsche ankommt, platzt er zurück, sieht den alten Freund erstaunt an und kann sich nicht an diesen Anblick gewöhnen.

Fritzsches Gesicht ist bartlos, mit weißlichem Schorf und Pflastern bedeckt, rötlich glänzen die übrigen Stellen des Gesichtes.

»Wenn nur das Lachen nicht so weh täte!« wiederholt Fritzsche immer wieder ob des erstaunten Freundes, – »ja, Wagner, ich bin es doch! Ich war in einer Dampfexplosion drin, in der Fabrik bei Degenkolb, mit Glubsch und Bittkow, – das war ein Schlag! Kommt! Schaut nicht so geisterhaft drein, – wir trinken noch einen Bittern! Es ist Sonntagmorgen! Ausgehen kann ich sowieso nicht, und um zehn Uhr kommen Brade und die Kollegen hierhin. Na, wie geht es mit Ossen rund?«

»Später! Später!« beschwichtigt Wagner den Freund, »doch erzählt, wie kamt Ihr in solch eine gefährliche Sache hinein? Ist jemand tot geblieben?«

»Dann hättet ihr es in der Zeitung gelesen. So kleine Sachen, wie unsre, gibts alle Tag! Es war vor zwei Wochen!«

»Ich wollte immer schon gekommen sein, mußte mit Ossen zu den Handwerkern, ich habe bei meinen drei Funktionen genug zu tun. Mit der Genossenschaft geht es schlecht, – der Ossen ist weder ein Kaufmann, noch ein Assozist, – bloß Schneider und sonst nichts!«

»Bloß bestochen, bestochen!« sagt Fritzsche. »Er ist ja dein Schulkamerad, den durchschaust du nicht, weil du ihn von Kind an kennst!«

»Nein, ich glaub, es war ihm nur um deinen Posten zu tun; der sollte ja so fett sein, daß der Bürgermeister neidisch sein könnte! Jetzt hat er von dem miserablen Umsatz nur miserable Prozente! Doch, wie war das bloß mit dem Unglück?«

»Wieder war ich einmal bei Degenkolb, um Musterkarten abzuliefern. Weil ich auf die neue Bestellung warten mußte, benutzte ich die Gelegenheit, Glubsch Guten Tag zu sagen. Er ist nämlich so stolz auf seine Maschine; weil ich den neuen Regulator noch nicht gesehen hatte, nahm er mich mit ins Maschinenhaus, wo der mächtige Kolben auf und ab den riesigen Balken schaukelt und mit furchtbarem Getöse ein Schwungrad bewegt. Ich sehe Rohre und Stangen, sehe zwei schwingende Kugeln, einen Riemen, der sie in Bewegung setzt und höre ab und zu einige Worte von Glubschs Erklärung. Da zeigt er auf die Kugeln, die steigen in die Höhe, er sagt: ›Jetzt stehen die Webstühle still!‹ Sie steigen noch höher, der sagt: ›Färberei, Rouleaux, – jetzt steht alles still, drum können sie nicht mehr höher.‹ Und die Maschine fängt zu sausen an, schnell und schneller. Bitttow steckt seinen Kopf durch die Tür und schreit: ›Glubsch: 4 und ½ !‹ ›Mach Feuertür auf!‹ ruft Glubsch ihm zu.

Bittkow ist kaum eine Viertelminute fort, da zischt's, klatscht ein Schlag, ich fliege auf die Erde, alles ist glühend heiß um mich, ich rolle mit fort, sehe nichts mehr, alles ist voll weißem Dampf, fürchterlich faucht's, ich will fortlaufen, steh hoch und wieder bekomm ich einen Schlag glühend heiß ins Gesicht, daß ich mich wieder hinlege. Ich schreie, höre nicht einmal vor lauter Dampfgebrüll mein eigenes Schreien; platzt jetzt der Dampfkessel, denk ich, – letztes Stündlein? Ich warte, ich schreie, hör nichts als den furchtbaren Dampf. Ich wickele meinen Rock ums Gesicht und lege mich fest an die Erde.

Auf einmal hör ich, wie jemand meinen Namen ruft; ganz dicht steht ein Mann bei mir, der will mich aufheben; ich merke auch, es faucht nicht mehr so gewaltig, es ist immer noch dunkel. Da brüllt der Mann: »Glubsch!« Der antwortet mit lautem Schreien: ›Schlag die Fenster ein!‹ ›Bist du in Ordnung?‹ ›Jawohl! Such Fritzsche!‹ ‹Der ist hier!‹ ›Hau's Fenster ein!‹ ruft Glubsch wieder. Das Dampfheulen wird immer weniger, – da kommt jemand angetastet, brüllt mich an: ›Was fehlt?‹ Es ist Glubsch. ›Heiß!‹ schrei' ich, ›sonst alles ganz!‹

Da klirren die Scheiben, – ich hebe zum erstenmal den Kopf, sehe an der Tür einen großen Feuerschein. »Hierhin! Hier ist die Tür!« Das ist die Stimme des Herrn Degenkolb. Nun setzt mit einem Male das Dampfblasen aus. Der Betriebsleiter kommt und beleuchtet mich mit einer Fackel aus Lappen und Öl. Da heben sie mich zu zweit hoch, ich sehe wieder ein paar Maschinenteile, sie bringen mich in den Heizraum, da qualmt vor dem Kessel ein großer Kohlenhaufen, – sie ziehen mir die Arme vom Gesicht. Ich hatte sie immer noch, wie zum Schutz, hochgezogen. Ich kann die Augen immer noch nicht aufmachen. ›Das glaub ich! Eine ganze Ladung Rost ist davor geschlagen!‹ sagt Glubsch, ›und das Gesicht verbrannt‹ – ›er stand gerad an der Leitung!‹ – Da kommt Herr Degenkolb.

›Um Gottes willen! Was war nun eigentlich passiert,–sonst noch jemand im Dampf darin? Der Fritzsche muß zum Arzt! Sofort den Wagen anspannen!‹ – Glubsch hat inzwischen seine Jacke ausgezogen und bekommt von Bittkow ein Hemd gereicht; während des Anziehens sagt er: ›Einfach nichts anderes, als das Hauptdampfrohr geplatzt, – eine schlechte Schweißstelle in der Naht; hab's oft genug dem Herrn Schmidt gemeldet, es war schon lange nicht geheuer. Auf einmal kommt's!‹ Da kam auch schon der Wagen an. Herr Degenkolb fragt: ›Und dem Glubsch ist nichts passiert? Da unterm Bart ist alles rot, – Stirn auch! Beide zum Doktor Bernhardi! Glubsch! Kommt Ihr nachher wieder, macht mit Schmidt aus, wann gearbeitet wird!‹

›Moment!‹ sagt Glubsch, geht noch mal ins Kesselhaus, nimmt den Betriebsleiter mit und kommt nach einer Weile heraus: ›Vorläufig machen wir mit Eisenplatten und Rohrschellen, Mennige und Leinwand eine Bandage; für heut nachmittag müssen alle Maschinen still stehen; Färber, Bleicher und Wäscher können hier bleiben. In den nächsten Tagen machen wir eine Zeichnung zu einem neuen Rohr, das wird in Leipzig fertiggemacht und am Sonntag montiert! Bis nachher!‹

›Glubsch bringt mich in den Wagen, er geht wieder zurück, um das Dampfrohr zu flicken. Ich komme zum Doktor Bernhardi, der schneidet mal zuerst das Haar, dann legt er das Gesicht in Salbe und Verbände. Ich fahre wie ein großer Herr hier vor, verbreite zuerst Angst und Schrecken, dann nur noch stille Trauer um einen schönen Bart! Ein paar kleine Stellen noch, dann ist alles wieder heil! Der Glubsch aber hat eine böse Narbe am Kinn behalten!‹«

»Das muß ja eine nette Aufregung gewesen sein, nicht, Frau Juliane?« sagt Wagner, als er ein Glas Wermut aus ihrer Hand nimmt.

»Wenn man ihn so verbunden gesehen hat, nur die Augen kamen heraus! Der Schrecken!«

»Schlimmer war die Predigt, die ich wegen meiner Neugier gehalten bekam!« Fritzsche trinkt mit.

»Was hat er sich auch in der Fabrik herumzutreiben! Auf dem Büro, wo er warten sollte, wär ihm nichts passiert!« antwortet Frau Juliane.

Fritzsche lacht und erzählt, bis sie Schritte auf der Treppe hören. Da fragt Wagner noch: »Was hört Ihr von Paule?«

»Ja, daran hättet Ihr mich eher erinnern müssen!« bedauert Fritzsche, »da schwatz ich drauflos! Einen langen, prachtvollen Brief schrieb er, ich les' ihn Euch nachher vor. Da kommen die Kollegen schon!«

Glubsch kommt herein, den Kopf mit einer schwarzen Binde umwickelt, begrüßt Fritzsche, besieht seine gutverheilte Haut und grüßt Wagner. Brade kommt mit 15 Mann an. Sie verteilen sich in der Stube und Kammer. Brade selber steht im Türrahmen, so daß beide Gruppen ihn sehen können.

»Nun wollen wir uns auch nicht lange aufhalten. Ich wollte dem Kollegen Fritzsche nur im Namen der Arbeiter gute Gesundheit wünschen. Die Kollegen haben es sich nicht nehmen lassen, selber zu kommen, um ihn zu begrüßen. Viele Hunderte von armen Menschen sind ihm dankbar, weil er ihnen die Mägen gefüllt und viele kleine Sorgen von ihnen genommen hat. Wir aber, wir Arbeiter, wir danken ihm darüber hinaus, weil er uns gezeigt hat, wie stark die gesammelte Kraft des einzelnen ist! Er hat uns gezeigt, wie die arbeitende Welt nach einer Vereinigung verlangt, wie sehr sie fühlen, daß das Heil ihres Lebens in der Vereinigung mit den Schicksalsgenossen liegt. Fritzsche hat uns auch gezeigt, welche Widerstände der Vereinigung der Arbeiter gegenüberstehen; er hat es uns bewiesen, daß unsre Behörden alles zu tun gewillt sind, wenn es heißt, die Organisation der Arbeiter zu zerstören. Er hat uns auch mit seinem Beginnen gezeigt, wie sehr die Arbeiter noch in egoistischen Anschauungen befangen sind: wir verstehen, daß er die Kraft der Vereinigung zuerst und immer wieder am Brotschrank, und zwar sofort, spüren wolle. Der Arbeiter ist arm, zu geknechtet, um zu begreifen, daß er für eine neue Zukunft den Grundstein legen muß.

Freund Fritzsche, Ihr wißt nicht, wieviel in den verachteten Kreisen der niedrigsten Arbeiter, in den schmutzigsten Fabriken und ärmlichsten Häusern von den höchsten und heiligsten Dingen gesprochen wird.

Und er sieht, wie sich alles gegen ihn verschworen zu haben scheint: Militär und Bauernschaft, Adel und Handwerker, Gewerbe und selbst die Kunst.

Der deutsche Arbeiter glaubt immer noch an Gottes Gerechtigkeit, trotzdem er nicht sieht, wo sie einmal auf Erden beginnen soll. Mir kommt vor, als sagte der Arbeiter: ›Gut, wenn die Großen und Mächtigen nicht mehr wissen, daß auch wir Menschen und Christen sind, so wissen wir es, wir wollen danach handeln. Wir gönnen euch ja eure schönen Häuser, eure feinen Möbel, eure gute Küche, ja; doch laßt uns nicht verkommen, laßt unsre Kinder nicht verhungern! Dann könnt ihr ja machen was ihr wollt. Wir wollen ja gern arbeiten, aber auch einen gerechten Lohn. Wir wissen genau, wir können mit der Gewalt unsrer Arme alles formen und bilden, bauen und herstellen. Wir können Reichtum schaffen und Wohlstand. Bloß harte und verstockte Herzen menschlich machen, das können wir nicht. Wir sind immer noch Christen, wir wollen nicht euren Tod und wollen nicht einmal euer Eigentum. Wir wollen, daß wir uns gegenseitig helfen, wir mit unsern Fäusten und Leibern, ihr mit eurem großen Verstand, mit eurer Kunst. Ja, einer von den Arbeitern sagte es frei heraus, wir müssen uns zusammenschließen und die Herren bitten, in unsre Wohnungen zu kommen, zu sehn, wie wir leben, zu sehn, wie wir essen und wie unsre Kinder angezogen sind. Wir müssen Briefe an die Herrn schreiben, darin wir unsere Meinung ausdrücken, wir müssen diese Briefe in die Zeitungen drucken lassen, wir müssen Bücher schreiben, in denen gezeigt wird, was wir sind, was wir leisten und was wir wollen. Freiwillig müssen sie uns helfen, in freiwilliger Landsmann- und Christenschaft. Denn zwingen können wir sie nie und nimmer; je mehr wir Gewalt anwenden, um so verstockter werden sie, sie werden uns nachher noch hassen, wie sie uns jetzt verachten.‹ Böh, sagen viele, was gehts mich an, ob mich jemand achtet, ich achte mich selbst! Mir ist gleich, was andre tun! Doch die meisten fühlen diese Verachtung bitter. Wenn sie Sonntags in der Predigt sind, da gehen gar manche der Vornehmen an uns vorbei, und man sieht es ihren Mienen an: Ach ja, das Arbeitsvolk ist auch da! Das ist es, was den meisten bis in das Herz weh tut, denn sie sind ja früher alle einmal achtbare Handwerker gewesen! Das...«

»Davon kann ich ein Lied singen!« sagt Glubsch und steht auf. »Ja, was haben die Leute eigentlich an uns zu verachten? Sie behandeln uns ja wie Ausgestoßene. Es gibt arme Mädchen und Frauen, die keine andre Möglichkeit haben, als mit ihrem Leib Geld zu verdienen. Haben wir eine andere? Nein! Ehrlos nennt die Gesellschaft die Frauen, die ihren Leib verkaufen. Ehrlos gelten auch die Arbeiter, die in den Fabriken dienen, weil wir uns das gefallen lassen und uns nicht wehren. Wir müssen uns Achtung und Geltung verschaffen. So ist es richtig, packt die Arbeiter an ihrer Ehre! Sein einziges Eigentum! Eher werden auch wir Arbeiter nicht eher die Ehrlosigkeit unseres Daseins mit allem Ekel empfinden, bis einmal gezeigt ist, daß unsere jetzige Art: heiliges Arbeits- und Menschenleben verkäuflich gegen Meistbietende, ein Dirnendasein ist, ehrlos und minderwertig. Wir Arbeiter wollen nicht länger in der Ehrlosigkeit leben. Nein, wir wollen unsern Leib, unser Leben in eine höhere Gemeinschaft emporringen, eine Art Ehe, mit den Menschen, mit Stadt und Land. Solange wir uns diese Erniedrigung gefallen lassen, müssen die Kapitalsbesitzer ja glauben, wir seien zu nichts Höherem geboren. Es ist ein Kampf um die Ehre, der von uns ausgefochten wird, und das ist, weiß Gott, keine ökonomische Sache!«

»Das geht mich wieder an!« sagte Fritzsche; er sprach aber nichts dagegen, wie auch Glubsch und die andern lange stillschwiegen. Sie verstanden die Worte ja mehr mit dem Herzen als dem Verstand.

»Wir sind merkwürdige Leute!« sagt Herr Wagner, »da haben wir uns zusammengesetzt, um unserm Freund Fritzsche unsre Freude über sein Glück im Unglück auszudrücken, und gleich kommen wir von der Genossenschaft, dem allernächsten, zur Moral und zur Ehre, dem allerfernsten. Müssen wir denn immer so, auch in Gedanken, durch die Ferne schweifen. Das Gute liegt so nah!«

»Was ist schon Gutes in der Nähe? Elend und Not. In der Ferne steht ein wunderbares Bild von der Zukunft, davon träumen wir und daran denken wir. Wovon das Herz voll ist, läuft der Mund über!« sagt Brade und Glubsch pflichtet ihm bei:

»Ihr sollt mal hören, wie wir uns über solche Sachen unterhalten. Aber, wenn ein Herr Wagner dabei ist, dann tut kein Arbeiter den Mund auf!«

»Natürlich auch in der Nähe liegt das Gute, nämlich in unserer Genossenschaft!« Jetzt hat sich Meister Schuhmacher Stolle in die Tür gestellt und spricht: »Ich muß noch mal auf die Worte von Glubsch zurückkommen, der mit dem Ehrenstandpunkt das Richtige getroffen hat, nämlich, als er von der käuflichen Liebe und den Dirnen sprach. Wir wollen nicht, daß unsre menschliche Arbeitskraft für ewige Zeiten eine käufliche Ware bleibt. Etwas anderes ist unser Lohnsystem ja nicht als ein Fleischhandel, ein Sklavenmarkt, eine Muskelbörse.«

»Doppelt und dreifach muß ich dem Brade recht geben, wenn er sagt, daß es für einen Christenmenschen unerträglich ist, so wie eine Dirne behandelt zu werden. Das macht eben, weil wir uns als Menschen und Christen, als Kinder Gottes fühlen. Mit Sklaven darf nicht einmal Handel getrieben werden. Der Glubsch hat uns Schauerliches genug vom schwarzen Sklavenhandel in Amerika erzählt. Wenn nun auch der Neger Gottes Kind ist, und selbst die größte Fabrik nicht einmal einen zwergenhaften Buschmann herstellen kann, ja, dann sagt mal, was kann die Maschine denn herstellen? Vielleicht ein Tier? Nein. Nicht den kleinsten Grashalm kann sie wachsen lassen. Ja, wer schafft denn die belebte Welt? Gott! So sind die Tiere die stummen Brüder des Menschen und vom Korn oder Brot sagt man: Tritt es nicht mit Füßen, denn es ist eine Gottesgabe. Ja – und die Bäume? Unsere Altvordern haben die großen Eichen als Heilige Bäume verehrt. Die Götter wohnten darin. Ja, was will denn die sogenannte Herrenwelt? Hat sie den Boden geschaffen, die Erde, die Gebirge, die Wälder, die Tiere! Nein, der Boden und alles was wächst, das ist Gottesgut, den Menschen gegeben. Wir brauchen keinen Mittler zwischen Gott und dem Menschen; keinen, der da steht und sagt: Wollt ihr von eures Vaters Fruchtbarkeit leben, bitte, bedient euch, kostet aber soundso viel Prozente! Der Teufel hol's! Die Erde ist für den Menschen da! Zum Teufel mit allem und allen, die sich zwischen uns und die Erde und den Schöpfer stellen, zum Teufel mit den Prozentemachern! Wir wollen die Gottesgaben aus den Klauen der Räuber – nicht kaufen, Gott behüte, nein; entreißen können wir sie ihm auch nicht. Aber ihm, dem Prozentenquetscher, sagen, daß wir als arbeitende Menschen wie eine große Familie fühlen und als deutsches Volk Gottes. Und darum müssen wir die Erde, die größte aller Gottesgaben, für das Volk zurückerobern. Später, in der Zukunft, werden wir, Arbeiter alle, ob mit oder ohne Geld, unsere Arbeit eintauschen gegen lebenserhaltendes Brot. Wir tauschen dem Landmann Korn gegen Werkzeuge, Kleider, Möbel, Baustoffe. Wir haben dann keine Not zu leiden, weil wir zuerst für den Bedarf produzieren. Assoziationen tauschen mit Assoziationen: das Wort »Handel« streichen wir aus und setzen an dessen Stelle: »Verteilung!«

Der Schuhmachermeister spricht diese Worte so überzeugt und so voll Sicherheit aus, daß die andern ihm alle Beifall klatschen.

Brade sagt:

»Aber auch wir müssen weitergehen: Nicht aufhören mit dem Glauben an die Kräfte, aus denen das alles entstand. Das Göttliche im Menschen zeigt sich in der gegenseitigen Hilfe! Gegenseitige, das heißt nicht einseitige Hilfe! Gibt das Schicksal heute den Reichen die Macht, und diese benützen sie nicht für die gegenseitige, alle Stände durchdringende Hilfe, so verkümmern sie in der Einseitigkeit und verlieren alle Kraft. Streben nach Schönheit heißt die Sehnsucht der Arbeiter. Ja, und was ist die Schönheit? Es ist die größte Harmonie. Wo haben wir in unserer armen Welt so eine vollkommene Schönheit? In der Musik. Meine Freunde, wir haben doch in Eilenburg schöne Musik gehabt! Seht einmal eine Musikkapelle an, erst alle Instrumente geben den richtigen Klang und die schöne Harmonie. Ist da eine Klarinette weniger als die Baßgeige? Grade, weil es 20 verschiedene Instrumente gibt, darum ergreift uns die Musik als eine wunderbare Ordnung von menschlich geführten Klängen. Einen ganzen Abend kann man zuhören. Aber 30 Hörner oder 30 Brummbässe, oder 30 Klarinetten oder 30 Geigen, von Trommeln ganz zu schweigen: das gibt bloß einseitig ermüdende Musik. Sie spielen alle nach einem Plan, den hat der Komponist entworfen; der nimmt die Melodien aus dem Gefühl und oft aus dem Schatz des Volksliedes. Aber der Plan muß zuerst sein, dann richten sich die Instrumente darnach. Und dieser Plan ist die genossenschaftliche Idee, wie die Musiker doch auch nur Genossen sind, die einander durch den Plan verstehn. Da ist Hoch und Tief, Laut und Leise, Klang und Pfiff kein Gegensatz, nein, es ist dadurch die Möglichkeit einer Harmonie gegeben. So muß auch das menschliche Leben zu einer harmonischen Gemeinschaft werden. Das wird sie aber erst durch einen Plan, eine Komposition. Das ist es, was ich den neuen Leuten mit der gebildeten Revolution zum Vorwurf mache: Sie wollen eine neue Musik machen, indem sie die Harmonie abschaffen, ich meine, sie heben das Naturgesetz der Harmonie auf: bloß noch eine einzige Stimme: die Stimme einer Klasse. Das ist überhaupt ganz unnatürlich; die Natur zeigt, daß nur die Vielfalt und die Abwechslung lebendig macht.«

Gepolter und Getrappel auf der Treppe, Lärm, Rufen, da, in der Tür erscheint Herr Ossen. Der Schneidermeister ruft erregt:

»Beschütze mich, Wagner, beschütze mich! Der ..« Ossen kann vor Aufregung nicht weiter.

»Da haben wir die Harmonie und die Vielfalt, die lebendig macht!« sagt Stolle und tritt an den Schneider heran: »Was ist denn los?«

»Wagner, beschütze mich vor dem Pöbel! Sie haben mir gedroht, sie wollen mir ans Leben!« Mit flatternden Händen und trippelnden Schritten zittert der Schneider durch das Zimmer. Nach vielen Fragen hört er, daß Glubsch mit seinen Freunden bei ihm war und ihm das Lager kontrolliert haben. Von den Papieren hatten sie nicht viel verstanden und gleich wieder herausgegeben. »Acht Tage Frist!« haben sie gesagt, »acht Tage, dann soll alles in Ordnung sein oder sie schlagen mich tot! Beschütze mich! Wagner!« Wagner tröstet ihn, so gut er vermag und verspricht, gleich am Abend zu kommen.

Brade und Stolle lachen, drängen den Schneider zur Seite und geben Fritzsche die Hand; die Arbeiter verlassen die Stube, sie nehmen den Schneider in die Mitte und versprechen ihm, ihn bis an seine Haustür zu begleiten. Nicht ganz zart bringen sie ihn die Treppe hinunter.

»Die werden ihn auch nicht mit Zuckerkant dekorieren!« sagt Fritzsche. Wagner sieht bekümmert zum Fenster hinaus. Fritzsche hat indessen den Brief von Paule herausgeholt.

»Kommt, ich les euch einen Brief von Agate vor.«

Bei diesen Worten verfinstert sich Wagners Gesicht.

»Das ist doch wohl nichts Schlimmes, was sie da berichtet?«

»Hört zu und urteilt!« sagt Fritzsche, setzt sich zu Wagner und liest:

»Lieber Freund! Ich möchte, daß ich öfter einen Brief aus der Heimat zu lesen bekäme. Die Briefe von meinem Vater sind Verhöre und Drohungen; ein Staatsanwalt kann nicht eisiger schreiben. Sie, Fritzsche, sollen nicht glauben, daß ich im Auftrag meines Vaters den geistigen Urheber eurer Sache, Paule, durch das Vermögen der Familie Neer erkauft habe, um die neuerstehende Genossenschaft schon im Keime zu korrumpieren; Sie sollen wissen, daß ich bei den Armen und den Arbeitern stehe, weil mir mein Herz das zu tun vorschreibt. Darum muß ich gegen die Anschauungen meines Standes kämpfen. Sie gönnt mir nicht das Recht auf die Liebe. Sie wollten mich an jeden andern Herrn verheiraten, der ins Geschäft paßt: bloß nicht an den Schlosser Paule! Der Kampf geht ja nicht allein um mich, sondern auch noch um das große Vermögen, daß ich von meinem Onkel geerbt habe und das mir erst ab meinem 21. Geburtstag zusteht. Ohne dies Vermögen bin ich ärmer als die ärmste Arbeiterin. Ich habe bisher nichts Vernünftiges gelernt, ich kann mich nicht mal als Köchin oder Magd verdingen; gäbe ich den Kampf um mein Vermögen auf, würde es in den Händen des Vaters dem Kampf gegen die Armen und Mühseligen dienen. Ich will studieren und lernen. Meine Kenntnisse sollen dazu dienen, dem arbeitenden Volke zu helfen. Darum werde ich nach Deutschland zurückkehren und mich dem Staatsanwalt stellen, damit mein sogenanntes Verbrechen vor einem ordentlichen Gericht klargestellt wird; ich habe keine Angst. Wir sind doch alle nur darum so rebellisch geworden, weil unsre Gebildeten, auch meine Eltern, nicht einsehen wollen oder können, daß sie das Volk nicht mehr kennen, keine Liebe mehr zu diesem so geknechteten Volk aufbringen, sondern nur auf ihre sorgenlose Ruhe bedacht sind. Weil sie aus der Knechtschaft und der Armut noch Kapital schlagen wollen, empören wir uns. – Ich gehöre zu euch, ich, und noch viele, die ihr nicht kennt. Darum laßt uns zusammen die Knechtschaft zerschlagen, wir »Gebildeten«, und ihr »Arbeiter«, die wir vor allem Deutsche sind, laßt uns zusammen kämpfen, bis die Freiheit erstritten ist! Eure Agate wird –«

»Nun schreibt Paule noch ein paar Worte!« sagt Fritzsche und dreht die Seite um, – »Ja, ja, Agate wird in ihrer Begeisterung noch ein ganzes Buch schreiben und vergißt zu berichten, was in den nächsten Wochen geschieht. Also, wir werden aus der schönen Schweiz nach England reisen, uns verheiraten und eine Zeitlang dortbleiben. Ich richte mich nicht mehr auf Amerika, dazu ist Agathe keine Person, – sie hat jetzt schon Heimweh genug zu leiden, trotzdem hier viele Deutsche sind ...«

Da ruft eine helle Stimme im Flur:

»Herr Wagner möchte heimkommen!«

Die kleine Martha kommt die Treppe herauf, hinterher Frau Juliane. Sie hat Frau Wagner getroffen. Ossen sitzt nun bei ihnen zu Hause und wartet auf Wagner; er muß ihn in einer dringenden Sache sprechen. Wagner fragt nach seinem Hut, bekommt ihn und wendet sich zu Fritzsche:

»Den Schluß lest mir ein andermal vor, ich komm dieser Tage wieder!«

Wagner geht heim. Ossen will, daß Herr Wagner gleich mit zu seinem Hause kommt. Trotz des Sonntags erschienen zu den Rohlingen, die ihn angebrüllt haben, noch weitere Mitglieder, die ihn mit Prügel drohen. Es bleibt Wagner nichts anders übrig, er muß den Meister zum Essen dabehalten.

»Jetzt kannst du getrost allein gehen, es wird niemand mehr da sein!« sagt er, als sie eine Zigarre anzünden. »Ich bin überzeugt, es tut dir keiner was zuleide.«

»Aber wenn sie es doch tun? Ich habs immer gesagt, die Arbeiter sind zu roh, sie lassen sich nicht ...«

»Von Bangbüxen einschüchtern! Das ist wahr!« unterbricht ihn Herr Wagner. Sie gehen. »Einen Stock nimmst du nicht mit?« fragt Herr Ossen.

Jetzt sieht Wagner seinen Schützling einmal groß an und verzichtet auf weitere Erklärungen. Sie gehen zur Pfarrgasse. Es ist niemand da.

»Da ist meine Frau sicher zu ihrer Mutter gegangen!« sagt Ossen, »laß uns mal hingehen.«

Auch diesen Gefallen tut ihm Herr Wagner. Sie treffen Frau Ossen, Herr Wagner fragt nach der Bedrohung.

»An mir hat er keinen Schutz, im Gegenteil!« erklärt die resolute Frau. Nun weiß Herr Wagner Bescheid. »Am Dienstag komm ich zur Abrechnung!« sagt er. Als er im Flur nach der Klinke sucht, macht Frau Ossen ihm die Tür auf: »Kommen Sie lieber unangemeldet, sonst treffen sie ihn nicht!« sagt sie.

Herr Wagner hat nun kein Mitleid mehr mit ihm.


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