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Siebzehntes Kapitel

In der Degenkolbschen Weberei ist über den Herbst hin wieder ein neuer Saal gebaut worden. Gegen Anfang Januar kommen zwei Dutzend neue Webstühle an. Der Schlossermeister, sein Geselle, der Webmeister und der Betriebsleiter stellen sie auf. Anfang Februar werden die besten Weber darangestellt. Glubsch hat schon bei der Ankunft dem Betriebsleiter klargemacht, daß die Dampfmaschine diese Last nicht mitschleppt und wie er voraussagte, geschieht: die Umdrehungen der Dampfmaschine sinken von 55 in der Minute auf 35. Die übrigen Betriebe schleppen, so daß trotz der neuen Anlage weniger produziert wird. Jede Stunde erscheinen Antreiber im Kesselhaus: »Stärker feuern! Stärker feuern!« Glubsch und Bittkow wechseln sich ab, keine Minute lassen sie das Feuermaul in Ruhe. Das Sicherheitsventil bläst mit fürchterlichem Getobe. Endlich erscheint Herr Degenkolb selber mit Herrn Schmidt.

»Macht mal zuerst dem entsetzlichen Dampfgeheul ein Ende, was soll das Fauchen und Zischen, – der Dampf geht ja in die Luft, anstatt auf die Maschine!«

»Mehr als 4 Atmosphären darf ich dem Kessel nicht geben!« schreit Glubsch, »jetzt sind es 4 ½. Er wird zerspringen, wenn das Ventil nicht bläst!«

»Aber, das Gebrüll ist ja nicht auszuhalten! Außerdem ist es Kraftverschwendung! Was Neues ausprobieren! Wie kann man das Blasen des Dampfes verhindern?« Glubsch hört seinen Namen.

»Ich muß an's Feuer!« Er verschwindet. Herr Degenkolb fragt den Betriebsleiter:

»Einfach, Herr Degenkolb! Man legt noch ein Gewicht zu dem andern auf den Hebel des Sicherheitsventils!« Der Herr muß es sich lange erklären lassen. Glubsch ist wiedergekommen. Er heizt.

»Haben wir solche Gewichte? Ranholen!« kommandiert Herr Degenkolb. Der Betriebsleiter brüllt Bittkow in die Ohren:

»Hol zwei Roststäbe aus dem Seilgang!«

Als Bittkow mit ihnen ankommt, sagt Glubsch:

»Herr Degenkolb, wenn wir das machen, bringen wir uns alle in Gefahr! Wenn der Kessel zerspringt, verrecken wir alle!«

»Übertreibung! Anpacken! Entweder hinauf auf den Kessel oder hinaus auf die Straße! Ich gehe mit! Ich lege sie selber auf!«

»Herr Degenkolb! Sie machen uns alle unglücklich!« sagt Glubsch.

»Was wissen Sie davon!« sagt Herr Degenkolb, nimmt einen Roststab, klettert hinauf und schreit:

»Schmidt, wohin damit?« Schmidt steigt auf den Kessel, nimmt die Last aus der Hand des Herrn, geht an den Dampfdom, hinein in den bläulich-fauchenden Strahl und versucht, sie auf das Gewicht des Ventils zu legen: das Gewicht kippt zur Seite, drohender faucht der Dampf. Schmidt nimmt einen anderen Stab, zerhaut mit ihm den einen und legt die beiden Stücke rechts und links auf das Gewicht. Fftt – Ruhe. Das Ventil ist geschlossen. Die Männer sehen sich an. Schmidt schreit Bittkow an:

»Sieh nach dem Manometer! Wieviel hat es?«

»Viereinhalb, vierdreiviertel, fünf, fünf und ein Strich ... fünfeinhalb.« Nach einer Pause: »Höher geht's nicht!« Glubsch horcht auf die Dampfmaschine: tuk, tuk, tuk, tut, – er fühlt seinen Puls und zählt:

»60 Touren, fünf mehr, als sonst!« Herr Degenkolb wendet sich an Glubsch!«

»Ich will Ihnen etwas sagen, Glubsch! Der Kessel platzt nicht, das ist Gerede von den Kesselschmieden, die haben natürlich das höchste Interesse, sobald wie möglich einen neuen Kessel zu liefern. Nur keine Angst, alles muß sich fügen! Ob das nun vier oder fünf Atmosphären sind, der Kessel dehnt sich ein bißchen mehr und die Sache bleibt, wie sie war. Im nächsten Jahr bekommen wir neue Webstühle und eine neue Lokomobile, der Eisengießer Wolf in Burg, drüben bei Magdeburg, hat ein Patent auf ein Dampfwerk, das Kessel und Maschine in einem ist, ähnlich einer Lokomotive, – ich habe sie schon bestellt. Überdies, wenn wir jetzt mit Steinkohle, die ich auch bestellt habe, heizen, gehts wieder besser!«

»Mit Menschen kann man das machen, Herr Degenkolb! Denken Sie an die Schraube! Zu fest angezogen – sie zerspringt!«

»Kein Wort mehr! An die Arbeit!« sagt Herr Degenkolb und geht mit Schmidt fort.

Herr Degenkolb sitzt allein in seinem Kontor. »Herr im eigenen Hause!« von diesem Standpunkt geht er nicht ab. Was geht der Regierung sein Kessel an? Herr Degenkolb ist müde. Die schlechte Luft im Maschinenhaus, das Herumstehen und das Sehen hat ihn zermürbt. Er muß sich ins Bett legen. Ehe er heimfährt, geht er noch einmal ins Kesselhaus. Glubsch ist nicht da. Kurz entschlossen geht er noch einmal an die Leiter, steigt hoch. Da brüllt eine Stimme:

»Verfluchter Hund, Schmidt! Du hast ja wieder das Ventil belastet! Ich schlag dich tot, du Schuft! Glubsch rast an die Leiter, – läßt den geschwungenen Hammer sinken.

»Ich bin Herr Degenkolb! Glubsch! Was ist los?« ruft ihm der entsetzte Fabrikant entgegen.

»Herr! Der Herr selbst! Ein Verbrecher, wie der Schmidt!« Glubsch wirft den Hammer hin. »Der Herr hat's gemacht!«

»Aber Glubsch!« sagt Herr Degenkolb.

»Bittkow, hol du schnell den Betriebsleiter!« ruft Glubsch seinem Kollegen zu.

»Was soll das, Glubsch, ich habe doch nichts gemacht, was soll das?«

»Zum Teufel, Herr! Das Manometer hat wieder 5, das Ventil ist beschwert! Ich hatte die Eisen wieder runter getan!«

»Was ist los, Glubsch?« ruft Schmidt durch die Tür.

»Mit rauf kommen!« schreit Glubsch so herrisch, daß Schmidt und der Herr gleich folgen. Sie steigen hoch. Da zeigt Glubsch auf das Sicherheitsventil, – die beiden Roststabstücke liegen wieder auf dem Gewicht.

»Und ich hab unten fünf Atmosphären und die Maschine läuft mit 55! Ich sag's vor Zeugen: Herr Degenkolb hat wohl das Eisen aufgelegt, er kam grade herunter, als ich hereinkam. Mich dürfen Sie nicht ins Zuchthaus bringen!« Glubsch sieht, mit der Mütze in der Hand, bittend vor Herrn Degenkolb.

»Was? Ich war grad im Moment ins Kesselhaus gekommen, als Sie kamen«, sagt Herr Degenkolb, – »ich hab's nicht gemacht!«

»Und Bittkow weiß, daß ich nicht oben war! Nein, ich hab's nicht gemacht!« beteuert Glubsch, »bei der Verantwortung! Ich müßt' ja verrückt sein!« »Ich auch nicht! Auf mein Wort!« sagt Herr Degenkolb.

»Dann hat der Betriebsleiter es getan!« Glubsch droht ihm mit der Faust. Der aber weist die Schuld von sich ab:

»Ich? Ich hab grad mit Herrn Degenkolb ausgemacht, ich werde Tag- und Nachtschicht einführen, färben und dämpfen nach Feierabend! Herr Degenkolb kann's bezeugen!«

»Das muß ausgemacht werden, wer's getan hat!« sagt Glubsch.

»Wollen wir uns hier gegenseitig anschwindeln?« fragt Herr Degenkolb.

»Glubsch! Lassen Sie die Sache, wie sie ist, – morgen schaff' ich Rat!« meint der Betriebsleiter.

»Und wenn mich heut' jemand bei den Behörden anzeigt, flieg ich raus, ins Zuchthaus, ich kann dann nie mehr Heizer sein, nein! Das macht der Glubsch nicht mit!«

»Gut! Herr Schmidt ist von heut ab Kesselwärter und hat die Verantwortung!« sagt Herr Degenkolb. »Und Sie, Glubsch, sind Feuermann! Bittkow wird Kohlenfahrer!« Der Betriebsleiter sieht finster unter den Augenbrauen hervor, sagt nichts und geht hinunter. Herr Degenkolb fühlt die Augen des Heizers auf sich gerichtet. Glubsch stiert ihn, als er sich wendet, an.

»Was wollen Sie?« fragt Herr Degenkolb.

»Feigling, der er ist!« stößt der Heizer hervor, »der Schmidt hat's gemacht!«

»Ich will nichts gehört haben!« sagt Herr Degenkolb und verläßt das Kesselhaus.

Am nächsten Mittag streicht Bittkow um die Schenke der Fabrik herum. Er sucht den Führer der Arbeiterverbrüderung, der einmal in der Woche zu den Degenkolbsarbeitern in das Gasthaus kommt.

Endlich sieht er ihn und geht ihm entgegen. Er erzählt ihm von der Aufstellung der neuen Webstühle, die Geschichte mit dem beschwerten Sicherheitsventil.

»Also, Brade, der Herr zwingt den Kollegen Glubsch, Ungesetzliches zu tun und dadurch bringt er die ganze Fabrik in Gefahr. Der Glubsch muß sich fügen, er hat Weib und Kinder, drei Stück, wir aber müssen so für ihn eintreten, daß ihm nichts passieren kann!«

»Gut, Bittkow, da werden wir sehen. Wir haben zufällig das Gesetz für uns. Bittkow, weißt du, bei welcher Firma der Monteur angestellt war, der mit Glubsch darüber gesprochen hat?«

»Von Wolf in Buckau oder Magdeburg. Der arme Glubsch macht sich viele Gedanken und weiß nicht ein noch aus. Sagen darf er nichts, sonst schmeißt ihn der Herr hinaus. Wir Kollegen müssen etwas für ihn tun!«

»Gut! Bittkow,« sagt Brade. »Ich werde über die Sache mit den Arbeitern sprechen. Ich habe eine ganze Liste von Kesselexplosionen und die Namen der Verunglückten, Toten und Verletzten. An 100 Mann! Das wird den Webern und andern Degenkolbschen Arbeitern schon zu denken geben!«

»Es ist recht, Brade, nur sag meinem Kollegen Glubsch nichts davon!« bittet Bittkow, »er weiß nicht, daß ich bei dir bin!«

»Kannst dich auf mich verlassen!« versichert Brade. Sie trennen sich. Bittkow geht ins Kesselhaus, Brade auf die Schenke zu.

Was der Bürgermeister für die Bürger von Eilenburg ist, das ist Brade für die Arbeiterschaft. Er geht jeden Mittag und Abend in die Schenken um die Fabriken herum, setzt sich zu den Arbeitern und hört sie an. Er beantwortet ihre Fragen, sagt ihnen, wie sie es machen müssen, eine Beschwerde bei dem Fabrikanten richtig anzubringen und setzt ihnen Schriftstücke auf. Wenn sie nicht zu klagen haben, läßt er sich von allen Neuerungen an den Maschinen und Methoden erzählen. Er selber kommt nicht mehr in eine Fabrik hinein. Auch in dieser Schenke hat er einen bestimmten Tisch, abseits der Esser und Trinker. Hier ist er für jeden zu sprechen. Er ist heute nicht erstaunt, daß Glubsch auf ihn wartet. Als er kommt, gibt Frau Glubsch ihrem Mann den Essenkessel und geht.

»Na, Glubsch, was gibt es Gutes, Neues?« fragt Brade.

»Ich wollte dich wegen der Genossenschaft etwas fragen. Vorher mußt du mir sagen: Bist du jetzt wieder Freund mit uns? Sonst hat es keinen Zweck!«

»Unsinn, Glubsch, ich hab' keine Feindschaft mit Fritzsche. Ich wollte nämlich schon mal zu ihm gehen und fragen, ob er mir aus der Genossenschaftskasse nicht fünf Taler leihen will. Ich muß einmal nach Berlin. Unsere Verbrüderungskasse ist zur Zeit leer. Ich möchte mir die Assoziationen in Berlin ansehen, falls überhaupt etwas daraus geworden ist. Das Schreiben ist eine unsichere Sache! Da wird Fritzsche auch wohl Interesse haben!«

»Ja, das ist richtig!« erwiderte Glubsch. »Und was ich dich fragen will, hör mal zu! Bei Mitscherlich hat ein Arbeiter aufhören müssen, angeblich, weil er zuviel schlechte Ware gemacht hat, der Webstuhl müsse repariert werden. Als er in einer anderen Fabrik frug, konnte er gleich Arbeit haben. Doch, als sie seinen Namen hörten, da sagten sie: »Nein, Sie können wir nicht gebrauchen!« So ging es ihm in allen Fabriken. Nach ein paar Wochen schickte sein alter Meister von Mitscherlich privatim einen Kollegen. Der bestellte einen schönen Gruß von seinem alten Webstuhl. Denk mal den Hohn! Er ließ ihm sagen, der Webstuhl wolle sich nicht von einem Genossenschaftsmann bedienen lassen. »Was soll ich tun? Was soll ich tun?« schreit der Weber. Ich habe dem Manne gesagt, er solle sich von dir beraten lassen.«

Doch, da hat er mit beiden Händen abgewinkt. »Wenn man mich mit dem Brade zusammensieht, dann ist es ganz aus!« sagte er. »Nun will er nicht aus der Genossenschaft raus, kann aber auch nicht zu den Meistern zurück. Jetzt kommt er zu mir und verlangt, ich soll bei Degenkolb ein gutes Wort für ihn einlegen. Das werde ich selbstverständlich tun und dann – will ich dich noch etwas fragen: Kann man dem Mitscherlichmeister nichts machen? Das muß man dem Mann abgewöhnen, ich meine, das ist doch keine Sache nicht, die Genossenschafter so aus der Arbeit zu bringen!«

»Lieber Glubsch! So ist es den Leuten aus der Arbeiterverbrüderung auch gegangen, ganz egal, ob die Meister aus sich oder im Auftrage der Fabrikanten handeln. Du weißt, wer in diesen Tagen Meister wird, der wird das nur, weil er jedem Wink seines Herrn wie ein Hündlein folgt und nicht aufzumucken wagt. Übrigens, wir als Arbeiterverbrüderung gehören doch zu den verbotenen Organisationen!«

Glubsch holt sich ein Glas Bier und trinkt es in zwei Zügen leer. Brade schreibt in sein Notizbuch.

Glubsch erzählt weiter: »Ja, und heute morgen früh ging ich mit einem Kameraden aus der Genossenschaft zur Fabrik; es war der Maurer Kerna, den ich bei Fritzsche öfters gesehen hatte. Bei dem sind es die Kollegen, die ihm schon seit Wochen empfehlen, bei Fritzsche wegzugehen und bei Göllners zu kaufen. Sie kauften auch alle bei Göllners und wenn er nicht auch bald mache, so könne er nicht mehr lange bei ihnen arbeiten. Nun ist ein Handlanger bei ihm gewesen; in der Nacht traf er ihn, als es stockfinster war. Er sagte, die Kollegen machten das nicht aus sich, sie hätten keine Schuld. Dahinter stecke der Polier. Der aber tut so, als ginge ihn die ganze Streiterei nichts an. Göllner, der Kleinhändler, sei ein Schwager von dem Polier. Sieh mal, Brade, das fühlt doch ein Blinder mit dem Krückstock, die Sache geht doch gegen den Maurer, weil er Mitglied ist und in der Genossenschaft kauft. Kann man da gar nichts machen?«

»Heißt der Mann nicht Göllnitz?« fragt er.

»Kann sein!« antwortet Glubsch, »ich habe Göllner gehört, es kann aber auch Göllnitz heißen. Da frag ich noch einmal nach.«

»Ja, Glubsch, was soll man tun? Seit acht Tagen hab ich,« er sieht in seinem Buche nach, – »hab ich an 22 Namen von Arbeitern, von denen ich weiß, daß ihnen der Austritt aus der Genossenschaft abgefordert worden ist. Der Göllnitz will die Kunden all für sich haben.«

Glubsch ist ehrlich erbost und sagt:

»Dann sollten wir doch auch hier zur Selbsthilfe übergehen und diesem Kerl eine ordentliche Tracht Prügel verabreichen, aber ganz genau dabei sagen, warum er sie bekommt!«

»Lieber Glubsch, das haben die Kollegen auch vorgehabt. Ich meine, das nützt nichts. Nein, mit Stockprügel ist da nichts geändert. Wir müssen ehrlich kämpfen! Es ist zum verzweifeln, wenn man sieht, wie ein Arbeiter den andern verrät! Ich weiß nicht, wie soll das weitergehn, wenn wir Arbeiter nicht zu einer großen und starken Einigung kommen! Ich quäl mich Tag und Nacht, – alles umsonst! Wenn – –«

»Du bist ein armer Kerl, Brade!« unterbricht ihn Glubsch, »alle Arbeiter laden ihre Sorgen auf dich ab. Der Doktor Bernhardi, zu dem die Kranken kommen, der sagt: Die ganze Menschheit ist krank. Die Gesunden, die sieht er ja nicht. Du sagst: Die ganze Welt ist voll Ungerechtigkeit, weil du nur die schlimmsten Dinge zugetragen bekommst. Die Gerechtigkeit, die siehst du ja nicht!«

»Aber die Gerechten, das sind die Schlimmsten!« sagt Brade mit finsterem Gesicht. »Ha! Es müßte einmal eine ganz große Ungerechtigkeit an den Tag kommen. Wie ein Blitz müßte sie auftauchen, mit einem Schlag die Köpfe erhellen, die Herzen anfeuern!« Glubsch schweigt eine Weile, dann sagt er:

»Was soll ich denn mit dem Maurer tun? Soll ich ihm raten, er soll bei Fritzsche austreten? Oder kann ich ihm sonst helfen?« fragt er.

»Das muß Jeder mit sich selbst abmachen, Glubsch. Ich besehe mir die Leute und weiß sogleich, ob sie Kämpfer sind oder arme Kreaturen, die sich nicht wehren können – oder – wollen. Dem einen liegt mehr an der Gerechtigkeit, dem andern mehr an einem ruhigen Leben. Ein Kerl, der von seiner Sache überzeugt ist, läßt sich nicht zwingen, der setzt sich durch. Dem andern liegt mehr am Brot allein, der muß sehen, wie er die Vorzüge der Mitgliedschaft behält und doch arbeiten kann. Nur die ganz Schlappen, die lassen sich ins Bockshorn jagen und tun, was jeder kleine Tyrann will. Schick mir die Leute, dann sag ich ihnen Bescheid. Und du? Hast du keine Sorgen?« Brade sieht Glubsch in die Augen.

»Sorgen? Wohl! Aber jetzt muß ich gehen!« sagt Glubsch. Er hört am lauten Schwatzen der Kollegen, daß sie mit ihrem Essen schon fertig sind. Er muß zeitig ans Feuer. Glubsch nimmt sein Essen im Kessel mit, zahlt und verabschiedet sich bei Brade, der heute nur noch zwei »Kunden« hat.

Brade sagt dringend und bittend:

»Du, geh doch bald zu Fritzsche und red mit ihm wegen ... du weißt ja was. Vergiß es ja nicht!« ruft er hinter ihm her.

»Wird besorgt! Ich treff' ihn dieser Tage!« sagt Glubsch und schlägt die Schenkentür hinter sich zu.

Bittkow hat über Mittag das Feuer instand gehalten und sieht Glubsch den Essenkessel wärmen. Er fragt leichthin:

»Warum hast du nicht gegessen? Kam deine Frau so spät?«

»Ich hatte mit Brade zu reden!« sagt Glubsch.

Bittkow bückt sich in dem Augenblick nach der Schaufel. Ob der Brade es ihm gesagt hat? denkt Bitttow. Oder ob Glubsch ihm die Geschichte selbst erzählt hat? Dann hat er, das merkt Bittkow nun, eine große Dummheit gemacht. Bittkow ist bedrückt, er möchte dem Freund, der so gut gegen ihn ist, nicht schaden. Er quält sich und hat ein schlechtes Gewissen. Als er das Kesselfeuer voll Kohle geworfen hat, sieht er sich nach Glubsch um. Der ißt unbekümmert drauflos. Vielleicht hat er ihm gar nichts davon gesagt und Brade hat auch nichts gesagt. Glubsch sieht nach der Tür und löffelt. Jetzt sieht er auf und zieht das Heulhorn. In fünf Minuten stellt er die Maschine an, dann geht die Arbeit weiter.

Glubsch fühlt sich von Brades Wort: Die Gerechten sind die Schlimmsten! getroffen, – wegen dem Sicherheitsventil. Er denkt an Bittkow, wie der damals die Maschine, die Walze kaputtschlagen wollte. Er kriegt Respekt vor ihm, der sich nicht unterkriegen ließ, sondern einen gewaltigen Haß im Leibe hatte. Glubsch hat jetzt gegen den Dampfkessel ebensolchen Haß. Glubsch ist genau so überspannt mit Wut, wie der Kessel mit Dampf. Er merkt erst in diesen Minuten: der Brade hat ihn doch ins Gewissen getroffen. Ihn überfällt glühende Wut. Er kann vor Wut kaum atmen. In diesem Augenblick ist es, als gehe Glubsch ein Licht auf.

»Eine ganz große Ungerechtigkeit schlägt den Blitz hervor!« hat Brade gesagt. Er selber hat sie, die große Ungerechtigkeit, erlitten, und seitdem lebt er in einer ganz großen Ungerechtigkeit; er übertritt das Gesetz des Staates und was noch schlimmer ist: das Gesetz der Kameradschaft! Über zweihundert Arbeiterleben bringt er in Gefahr, weil er es duldet, daß auf dem Sicherheitsventil die Eisenstücke liegen. Den Profit davon hat Herr Degenkolb und der Glubsch trägt die Verantwortung. Das Staatsgesetz straft ihn, wenn es herauskommt, mit Zuchthaus, das Gesetz der Kameradschaft mit Verachtung der Kollegen. Er, der Glubsch, ist ein Verräter; erst in diesem Augenblick kommt ihm das richtig zum Bewußtsein. Er sitzt auf einer Kiste und atmet, als hätte er Leibschmerzen. Bittkow sieht vor ihm und fragt:

»Hast du was? Ist dir nicht gut? Es ist Zeit, die Uhr steht auf eins!«

»Laß du den Bären brummen!« versucht Glubsch zu scherzen, aber es kommt ihm bitter aus dem Hals. Als der Heulton das Kesselhaus erfüllt, legt sich die Wut. Glubsch steht auf.

»Hattest du was?« fragt Bittkow, als er zurückkommt.

»Hab wohl das Glas Bier zu schnell herabgeschlungen, eiskalt in den leeren Bauch, das wird's wohl sein!« antwortet Glubsch.

»Soll ich aufwerfen?« Bittkow nimmt die Schaufel.

»Fahr Kohlen an!« sagt Glubsch, »ich mach weiter.«

Den ganzen Nachmittag geht Glubsch und Bittkow sich aus dem Wege. Nach Feierabend gibt es kurz vor dem Tore noch eine Rauferei. Der Maurer Saalbach, der in der neuen Weberei arbeitet, hat dem Weber Zollnick, der ihm Steine zuträgt, die Mitgliedskarte entliehen. Zollnick bittet ihn nun schon drei Tage, sie ihm zurückzugeben. Nun, am Tor, lacht ihn der Maurer aus, zerreißt die Karte in Fetzen. Mit schmähenden Worten verhöhnt er den Weber und seine Genossenschaft. Der kleine, etwas bucklige Weber kann sich gegen den großen Maurer nicht wehren und klagt den andern sein Leid. Da kommt Glubsch.

»Was hat's mit dem Zollnick?« fragt er.

»Sieh da, wieder so'n Genosse! Man kann mit Assozisten ja die Schweine streuen, so viel gibt's derer! Na, wann beginnt der Bürgerkrieg und der Zukunftsstaat?«

Statt der Antwort bekommt er von Glubsch eine Ohrfeige. Bittkow, der hinter Glubsch sieht, packt den Maurer bei Genick und Hosenboden, trägt ihn steif durchs Tor. Der Kontorschreiber, der grade die Treppe herunterkommt, sieht, daß einer geohrfeigt wird und läuft zurück zu Herrn Degenkolb.

Als Herr Degenkolb herunterkommt, hört er vor dem Tor auf der Straße wüste Schimpfworte und sieht ein Dutzend Leute beieinanderstehen.

»Demokratenhunde! Ihr kommt alle noch auf Festung!« Als Antwort klatschen Schläge.

»Wer hat Assozistengesindel gesagt?« brüllt Glubsch, »melde dich, du Feigling! Ich gebe dir für jeden Buchstaben eine aufs Maul!«

»Noch nicht, wenn du mir drei für jeden Buchstaben gäbst!« ruft jemand aus der Wirtshaustür und ein Hohngelächter für Glubsch hallt durch den Abend. Herr Degenkolb fragte den Pförtner:

»Was ist los?«

»Herr, es ist seit acht Tagen jeden Abend dasselbe. Die Assozisten werden beschimpft. Herr Glubsch sah, wie der Maurer Saalbach den Weber Zollnick verschimpft, da ist er für ihn eingetreten und wurde auch von ihm beschimpft. Herr Glubsch aber hat ihm eine Ohrfeige gegeben. Bittkow hat ihn zum Tor hinausgetragen.«

»Wer ist Herr Glubsch?« fragt Herr Degenkolb.

»Das ist doch unser Heizer!« entgegnet der Portier und sieht Herrn Degenkolb an, »ein gesetzter Mann von mehr als 40 Jahren, er ...««

»Schon gut!« sagt Herr Degenkolb und geht hinauf.

Kaum sind die Arbeiter nach Hause, wird der Pförtner hinaufgerufen. Er sieht vor Herrn Degenkolb, die Mütze in der Hand, soldatisch stramm.

»Hat der Heizer öfter Streitigkeiten gehabt, ich meine, hier in der Fabrik?«

»Wo er doch meistens als Erster kommt, Herr Degenkolb, nein. Auch geht er immer als Letzter heim, weil er das Feuer besorgen muß. Heute ist er seit langer Zeit einmal mit den Andern fortgegangen.«

»Mit wem verkehrt Glubsch sonst? Hat er eine Freundschaft in der Fabrik?«

»Ja, Herr Degenkolb: mit Bittkow, dem Holzspalter, der jetzt Kohlenfahrer geworden ist.«

»Ist das der Mann, der den Maurer hinausgeworfen hat?«

»Hinausgeworfen nicht. Er nahm ihn beim Hosenboden und Halskragen, hob ihn hoch und trug ihn mit steifen Armen hinaus.«

»Ist Glubsch verheiratet? Hat er Kinder?«

»Jawohl, drei Kinder!«

»Wissen Sie, ob er bei den Fritzsche-Leuten ist? Wollen Sie mir das nicht sagen?«

»Vielleicht fragen Sie Herrn Glubsch selber; ich weiß nicht, ob es recht ist, wo der Streit um die Genossenschaft geht.«

»Zum Teufel! Was hab ich damit zu tun! Ist er es oder nicht? Wissen Sie es oder nicht? Wollen Sie es sagen oder nicht?«

»Gewiß haben Sie, Herr Degenkolb, damit zu tun! Es wird gesagt ...«

»Was wird gesagt? Reden Sie doch, es passiert Ihnen doch nichts – frei heraus, es passiert dem Glubsch auch nichts!«

»Aber den Mitgliedern der ...«

»Setzen Sie sich!« unterbricht ihn Degenkolb und schiebt ihm einen Stuhl hin. Der Portier setzt sich. »Prinzmann! Sie können wirklich frei reden. Ich werde Ihre Worte nicht benützen, um Ihnen oder Ihren Freunden einen Strick zu drehen, das glauben Sie mir doch!«

»Mit Erlaubnis, nein!«

»Was sagen Sie da? Sie glauben mir nicht?«

»Mit Erlaubnis, nein, Herr Degenkolb! Auch ich bin seit sechs Wochen bei den Fritzscheleuten und seit 14 Tagen erzählen die Arbeiter, wir Mitglieder würden alle aus den Fabriken entlassen, das wäre schon abgemachte Sache. Herr Degenkolb, sagen sie, schmeißt sie zuerst raus, dann die andern Fabriken auch. Denn Herr Degenkolb, der hohe Gewerberat, hat von der Regierung den Befehl bekommen, jeden, der auf der Mitgliederliste sieht, zu entlassen!«

»Und solcher Unfug, solches Lügenblech wird geglaubt? Das glauben auch Sie, Prinzmann? Die Regierung soll mir den Auftrag gegeben haben? Woher wissen Sie das?«

»Das wird seit acht Tagen erzählt. Es soll auch in der Zeitung gestanden haben!«

»Das wird ja immer schöner! Glaubt der Glubsch das auch?«

»Ich hab mit Glubsch noch nicht darüber gesprochen, ich hör' mir nur alles an. Weil ich ja doch selber in der Genossenschaft bin, darf ich bei den Leuten ja nichts sagen. Darum fangen sie immer bei mir mit Streitigkeiten an, damit Sie, Herr Degenkolb, mich zuerst wegen dem, daß ich mein Amt nicht richtig versorgen kann, hinauswerfen.«

»Wer hat das gesagt?«

»Die Maurer vom Neubau, von denen der Saalbach übrig ist. Die andern sind ja, seit der Bau fertig ist, weg. Saalbach ist noch beim Verputzen.«

»Und die Assozisten, was sagen die?«

»Was sollen die sagen? Es haben sich schon einige abgemeldet. Die meisten sagen, es sei Schwindel, weil es ja immer nur von den Krachmachern und Zankfritzen, auch von den Frauen aus der Spulerei, ausgeht.«

»Und Sie, Prinzmann, was glauben Sie?«

»Jetzt glaub ich, wenn Sie es sagen, daß alles gelogen ist.«

»Und vorher, was glaubten Sie da?«

»Weil Herr Degenkolb kein Demokrat mehr ist, weil Herr Degenkolb gesagt hat, nein, gesagt haben soll, die Assozisten müßten vom Erdboden verfolgt werden, da hab ich's auch geglaubt.«

»Können Sie mir sagen, wer das zuerst ausgesprochen hat?«

»Der Saalbach von Kültzschau, der Maurergeselle, der mit Zollnick Streit hatte.«

»Woher hat er diesen Ausspruch?«

»Von seiner Schwiegermutter, sagt er, seine Schwägerin ist ...«

»Ach, Dienstbotenklatsch, darauf kommt's heraus! Gut! Prinzmann, Sie können gehen! Ah, haben Sie sich schon bei Fritzsche abgemeldet? Nein? Dann beruhigen Sie sich nur. Von mir aus wird Ihnen deswegen nichts geschehen!«

»Nein, Herr Degenkolb, der Saalbach hat auch gesagt: ›Du fliegst heraus, well du deinen Posten als Portier nicht mehr vollhalten kannst. Dafür werden wir schon sorgen!‹ Seitdem macht er mir vorne immer Krach. Er ist ja nicht bei uns beschäftigt, sondern bei Maurermeister Haberkorn. ›Euer Degenkolb kann mir nichts machen!‹ sagt er.«

»Ist so wenig Vertrauen unter den Arbeitern? Ist so viel gegenseitiger Haß im Volk? So viel Zwietracht; man sollte meinen, ihr Arbeiter müßtet euch doch einig sein!«

»Arbeiter, Herr Degenkolb; die möchten sich so gern einig sein, aber sie haben viel zu viel Angst ums tägliche Brot, wo doch ein unvorsichtiges Wort genügt und sie fliegen auf die Straße. Einer zittert vor dem Andern, Jeder zittert vor Jedem, Alle haben ihre Not um Arbeit und Brot, Herr Degenkolb, – und nun kommt noch die Genossenschaft dazu ...«

»Was war denn vorher?«

»Nun, die Arbeiterverbrüderung. Sie ist ja auch verboten, Herr Brade hat schon seit Jahren keine Arbeit mehr.«

»Schon gut! Prinzmann. Von mir aus braucht Ihr Lebensmittelverein nichts zu befürchten. Am besten ist, Ihr haut den Zankhasen und Streitstiftern auf's Maul! Guten Abend, Prinzmann!«

Der Portier geht in seine Bude, verschließt das Tor und sein kleines Fenster. Dann geht er zu seiner Frau in die Küche. Er hat Hunger. Er wird zum erstenmal, seitdem der Streit um die Genossenschaft geht, wieder mit Lust und Vergnügen essen. Er darf wieder frei von dem, was ihn bewegt, reden, Mitglieder werben, für die Sache der Kameradschaft eintreten, er kann mit seinen Freuden zur Generalversammlung gehen, die Mitte Januar geplant ist.


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