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Vierzehntes Kapitel

Kanitzky hat durch seine Mittelsleute herausbekommen, daß zwar nur 350 Familien eingeschriebene Mitglieder sind, doch der Umsatz ist größer. Was da mit Karren angefahren und in Körben herausgetragen wird, reicht für 1000 Familien. Nicht umsonst haben die Kleinhändler zu dem stärksten Mittel gegriffen, das ihnen zur Verfügung steht: dem Boykott. Kein Händler der Stadt verkauft mehr an die Mitglieder der Genossenschaft. Die Tatsache, daß Fritzsche nicht alle Dinge, die ein Haushalt benötigt, führen kann, muß ihn jetzt zugrunde richten. Bisher haben die Händler den Mitgliedern die Kleinigkeiten verkauft.

Kanitzky stellt fest, daß in seinem eigenen Laden der Umsatz zu steigen anfängt. Nach vielen Vergleichen wird ihm klar, daß die einen Eilenburger Tauschhandel miteinander treiben: die Mitglieder geben Konsumwaren her und bekommen dafür Einzelartikel. Kanitzky sieht eine neue Gefahr: Hausierer. Er weiß, Stolle hat sie bestellt, um den wirksamen Boykott der Kleinhändler abzuwehren.

Die Tage vergehen. Das Genossenschaftslokal hat vom Morgen bis zum späten Abend die Türe für die Mitglieder offen stehen.

Unmerklich vermehrt sich die Zahl der Hausierer, mit jedem Tag kommen neue an. Sie dringen mit den Kästen voll Kleinwaren, Schuhschmiere, Bandlitze, Nadeln und Gummistrippe, Seife, Putzpulver, Messer und Scheren, Haarlemer Öl und Scheuerleinen, Nägelpäckchen und Häkelgarn in alle Eilenburger Familien ein. Ihre Artikel sind etwas billiger; viele Hausfrauen kaufen.

Die Kleinkramhausierer von gestern kommen heute mit Töpferwaren als Kiepenkerle wieder; tatsächlich geht keiner aus einem Hause, ohne einige Kleinigkeiten dazulassen.

Am dritten Tage laufen die Savoyardenknaben mit Murmeltier und Drahtwaren, Mausefallen und Mehlbesen, Papierhaltern und Tischtuchklammern, verzinnten Waren und Blechkram dieselben Straßen, Häuser und Wohnungen ab; die Hausfrauen haben schon bei den ersten Hausierern mehr Geld ausgelegt, als ihnen gelegen ist. Dies merken die Spätergekommenen bald und verlegen sich vom Anpreisen aufs Klagen, sie lassen aus purer Not von ihren Preisen bis ein Drittel und Viertel ab, weil sie nun einmal hier sind und den weiten Weg nicht umsonst gemacht haben wollen. Es werden wohl die Letzten sein, denken die Hausfrauen. Sie holen die kleinen Ersparnisse aus den Truhen und kaufen.

Am nächsten Tag kommen Händler mit Siamosen und Hemdenstoffen, Seide und Samt. Die Sachen sind so billig, als hätten sie die Waren gestohlen. Zu solchen Preisen müssen sogar Händler in diesen Artikeln zugreifen; es ist, als wolle Magdeburg, Berlin, Halle und Chemnitz zeigen, was die neue mechanische Fabrikation an Preisen und Waren leisten kann.

Mit einemmal erscheint ein Trupp Frauen aus dem Erzgebirge. Aus den schöngeschnitzten Kiepen holen sie Handarbeiten: Klöppelspitzen, Filets, Knüpfereien Wirkwaren, die manche Jungfrau bewegen, ihre Aussteuerpfennige und Groschen jetzt anzulegen; besonders, da die Frauen versichern, daß diese Arbeiten Musterstücke sind, die es nur einmal gibt! Wenn im Erzgebirge nicht die hungrigen Kinder auf schwarzes Brot warteten, würden sie niemals ihre Meisterwerke hergeben! So etwas hat Eilenburg noch nicht gesehen.

Zum großen Erstaunen der Bürgerschaft kommen nun aus den weiter entfernten Dörfern Bauern mit kleinen Fuhrwerken und bieten Brot an; sie hatten gehört, in Eilenburg sei Hungersnot. Sie bringen Pfefferkuchen und Salzbrezeln mit, außerdem handeln sie mit Honig und Wachs. Aus noch weiter entlegeneren Tälern kommen Kuckucksuhrenhändler mit Holzschnitzereien, Spielzeugverkäufer und sogar eine alte Frau mit Puppen, lauter Neuigkeiten, die auch nach Amerika ausgeführt werden.

Es scheint, als sollten die Augen und Herzen der Eilenburger von der bösen Fehde zwischen Kaufladen und Genossenschaftsmagazin abgelenkt werden.

Auf einmal erschallt eine silberhelle Trompete; eine Musikbande zieht mit klingendem Spiel über den Marktplatz. Die blinkenden Instrumente der Musikanten leuchten in der Sonne, die feurig, bunten Farben ihrer Phantasieuniformen locken die Kinder an. Auch mancher altgediente Soldat ergötzt sich an den Militärmärschen, nach denen er einst in Berlin und Küstrin, Magdeburg und Torgau, Breslau und Posen in Parade und Manöver marschierte.

Wer hat das fremde Volk gerufen? Niemand kann es sagen. Vielleicht haben enttäuschte Hausierer in gehässiger Weise die Parole vom kauflustigen Eilenburg weitergegeben. Von allen Seiten bewegen sich über die Straßen die fahrenden Leute, die Korbflechter mit ihren Wägelchen, mit verlausten Kindern und wildernden Hunden, die Kesselflicker mit Blasbalg und Feldschmiede kommen und schlagen ihr Lager unter den Muldebäumen auf.

Schirmflicker, Zigeuner und Pferdehändler siedeln sich an. Sie alle senden ihre Weiber und Kinder in die Stadt, um Arbeit für die Männer zu holen; die lümmeln am Tag faul im Schatten der Wagen, am Abend gehen sie in die Herbergen und Gasthöfe, geben Kartenkunststücke und Zaubervorstellungen zum Besten.

Die Schlosser haben viel zu tun: die Türen der Eilenburger müssen auf einmal mit Schlüsseln versehen werden, denn keine Kirmes und Schützenfest hat je so viel gefährliche Existenzen herbeigelockt. Es war den Gendarmen gelungen, die größere Masse der Zigeuner auf dem Weg in die Stadt abzudrängen und nach Süden zu lenken. Dennoch sprechen weissagende Frauen die Bürger auf der Straße an und dringen in zufällig offenstehende Häuser ein.

Da ist kein Halten und Zurückdämmen mehr, wie eine Heuschreckenschar überschwemmt das fahrende Volk die Stadt, je weniger man sie mit Kauf und Bestellungen anzieht und festhält, um so hitziger werben sie und locken das letzte Geld aus den Taschen und Schubladen der Eilenburger. 14 Tage lang wimmelt die Stadt, fluchen und jammern die Einwohner; die Parasiten des Handels saugen das letzte vorhandene Kleingeld, das Blut des gewerblichen Lebens, auf. Zuletzt kommen mit Affen und Kamelen die Bärenführer, die Drehorgelmänner, das niedrigste Volk, welches die Straßen, Häuser und Börsen nach den kleinsten Pfennigen auskämmt und leerkratzt.

Für Fritzsche ist die Überschwemmung der Fahrenden in dem Augenblick gerade recht gekommen. Es standen tatsächlich zwei aufgebrachte Parteien nebeneinander, die auf dem besten Wege waren, ihre Meinungsverschiedenheiten über Obstplündereien und Kinderzank mit Knüppeln auszutragen. Er hat in der Zeit des Wirrwars in aller Ruhe die Lebensmittel besorgt, die ihm die Großhändler verweigerten.

Eines Tages bringt ihm Herr Hanisch eine Vorladung zum Magistrat. Fritzsche schreibt das Datum, 18. September, mit Kreide groß auf die Küchentür. »Dir werden sie doch nicht die Schuld an diesem Durcheinander, der da draußen tobt, aufhalsen?« fragt Frau Juliane ängstlich und sieht bestürzt ihren Mann an.

»Natürlich sind an allem die bösen Genossenschafter schuld! Natürlich haben sie die Hausierer herbeigeholt! Natürlich geht das auf meinen Buckel! Gottlob habe ich an 300 Zeugen, daß die Händler den Mitgliedern die Ware verweigert haben, da blieb uns nichts anderes übrig, als die Selbsthilfe durch die Hausierer.«

»Aber, die hat doch Stolle gerufen!« wirft Frau Juliane ein.

»Ich bin der Verantwortliche! Ich wette, diese Affäre wird einen Grund für das Verbot abgeben. In diesen 14 Tagen haben die reisenden Händler ein Vermögen aus Eilenburg weggeschleppt. Dafür wird man einen Sündenbock suchen. Erst der Kinderkrieg, dann die Hausiererplage und zuletzt die Pest des fremden Packs, – da werden sie wohl uns verbieten. Jetzt hilft kein Maulspitzen mehr, jetzt muß gepfiffen werden!«

Genau 14 Tage dauerte die Hausiererplage. So, wie die Stadt leer und kahl gefressen ist, verschwindet sie.

»Verlierst du viel an Bargeld, wenn sie euch das Magazin schließen?« fragt die Frau angstvoll.

»Kann ich jetzt noch nicht sagen!« antwortet er. »Liebe Frau, ich laß mich nicht ausschalten; ich werde genau an dem Tag, wenn sie die Genossenschaft verbieten, ein offenes Handelsgeschäft anfangen. Nur, daß ich nicht, wie Reeder und Comp. einen Genossen, sondern deren Hunderte habe. Es muß einen Weg zur Selbsthilfe geben. Und wenn der erste Weg nicht der rechte war, so finden wir einen andern. Man muß lernen!«

Als am Abend die Frauen zum Einholen kommen, hört Fritzsche, daß die Händler wieder, wie vorher, an die Mitglieder verkaufen. Es freut ihn, daß er das Magazin nicht mit dem kleinen Kram zu belasten braucht:

»Wir können doch nicht jeden Hosenknopf und Jackenlitze führen!« sagt er befriedigt. Er erzählt, daß er morgen zum Magistrat muß; die Arbeitermitglieder verstehen nicht, was der Magistrat in ihre Genossenschaft hineinzureden hat:

»Der soll sich um die schlechten Löhne und die Teuerung in Eilenburg kümmern!« sagen sie.

Der 18. September ist gekommen, Fritzsche will zum Magistrat. Diesmal ist er nicht so siegesbewußt. Beim erstenmal hat er Herrn Brunner versichert, es könne durch die Genossenschaft keine Störung der öffentlichen Ordnung hervorgerufen werden.

Fritzsche, den Zylinder auf dem Kopf, den Rock am Leib festgezogen, den Stock in der Hand, geht in der Küche auf und ab. Dann nimmt er das Handtuch vom Haken, wischt die Zahl auf der Tür fort. Als er die Tür zur Straße aufzieht, empfängt ihn großes Gebrüll. Eine Schar von Halbwüchsigen und Jungens erwarten ihn. Woher wissen die, daß er diesen schweren Gang tun muß?

Ach ja, er hat es selber seinen Leuten gesagt, die Jungens haben es gehört und weitergetragen; nun singen die Bengels:

»Da sitzt der August Fritzsche
mit seiner kleinen Klitsche,
Bankrott die Assion,
das hat er nun davon!«

»Bravo, bravo! Jungens! Das habt ihr gut gesungen! Dafür sollt ihr auch was haben!« ruft er und geht zurück; er nimmt eine Pfundtüte, gefüllt mit braunem Kandis und bietet ihnen die Spende an. Im ersten Augenblick wollen die Jungens nicht ran, da sieht er den blondroten Schimmelmannsjungen.

»Du, Kurtchen, da nimm doch! Verteils, – aber gerecht!«

Kurt nimmt die Tüte und verzieht sich schleunigst in die Mitte des Trupps. Kaum ist Fritzsche 20 Schritt weitergegangen, da hört er Schreien und Schimpfen. Aus den Fenstern rufen Mütter herunter, Frauen kommen auf die Gasse. Fritzsche braucht sich nicht mehr umzudrehn, er weiß Bescheid: sie hauen sich um die Beute.

Den ganzen Weg zum Magistrat begleitet ihn zwischen Fensterklirren und Türenöffnen das Gerufe der Frauen: »Fritzsche kommt!« Die Kinder singen hinter ihm her. Es schallt bis in den Flur des Rathauses hinein. Erst, als Fritzsche die Tür des Zimmers drei hinter sich zugezogen hat, ist große Stille um ihn.

Der Sekretär kommt auf sein Klopfen heraus; er besieht die Vorladung und weist Fritzsche einen Stuhl an. Endlich führt ihn der Sekretär ins Zimmer des Bürgermeisters. Er grüßt. Auf das »Guten Morgen« des Bürgermeisters tritt Fritzsche einen Schritt vor. Herr Brunner verläßt sein Pult, an dem er, den Kopf auf die verschränkten Arme gestützt, einige Augenblicke verweilte, geht dann zu dem Tisch des Sekretärs; er blättert in dem Aktenstoß und schiebt ihn zum Schreiber hin:

»Fritzsche und Konsorten! Es sind wieder einige Beschwerden über die Assoziation eingelaufen. Im allgemeinen und besonderen sind es dieselben Fragen, die ich beantwortet haben muß, damit sie zu Protokoll gegeben werden können. Also –«

Jetzt sieht der Bürgermeister den Meister scharf an: »Stimmt es, daß ein jeder seine Bedürfnisse zum Einkaufspreise in dem Assoziationsgeschäft kaufen kann?«

August Fritzsche sagt laut und ruhig:

»Es ist ›Geschäft‹ und ›kaufen‹ nicht der treffende Ausdruck, dieweil wir doch keine Geschäfte machen, sondern Waren verteilen. Gegen die Ausdrucksweise protestiere ich. Zur Sache: die Waren werden um fünf Prozent über den Einkaufspreis erhöht abgegeben!«

Der Bürgermeister macht eine Notiz am Aktenrand und legt ein anderes Papier auf den Tisch. Dann fragt er:

»Stimmt das, daß sich an 400 Familien haben einschreiben lassen und ihre Einkäufe machen?«

Fritzsche nimmt sein bestes Militärdeutsch zusammen und sagt scharf:

»Bitte hinweisen zu dürfen, daß in einer Assoziation keine Einkäufe gemacht, sondern die Waren entnommen werden. Zur Sache: es sind bis jetzt 350 Familien!«

Wieder notiert der Bürgermeister und fragt:

»Ist es möglich, Herr Fritzsche, daß nicht nur Mitglieder, sondern auch viele, fast alle Einwohner Eilenburgs, indirekt, sozusagen durch eine Hintertür, bei Ihnen Waren erstehen?«

Fritzsches Gesicht leuchtet vergnügt auf: da ihm niemand etwas nachweisen kann, sagt er:

»Soviel ich kontrollieren kann, haben nur eingetragene Mitglieder ihren Bedarf bei uns gedeckt!«

»Nun möchte ich wissen, was mit den fünf Prozent über Einkaufspreis geschieht!«

»Der Geschäftsführer wird mit zwei Prozent entschädigt, mit zwei Prozent Kontrolleur und Schriftführer, – der Rest wird als Ersparnis zurückgelegt!« Nun schlägt der Bürgermeister einige Seiten nach, schüttelt den Kopf und den Deckel zu. Dann steht er auf, geht im Zimmer auf und ab.

»Sekretär, von wem stammt diese Eingabe?«

Unmittelbar und laut schnurrt der Sekretär das Datum ab:

»9. August 1850, gezeichnet im Auftrag: Friedrich Wilhelm Kanitzky, Christian Kloß und Heinrich Jope.«

»Weiterlesen!«

»Mit dem Handelsumtriebe des Lebensmittelvereins sind uns unsre Erwerbszweige gänzlich entzogen, denn wenn auch aus freundschaftlichen Verhältnissen wenige Kunden ihre Waren noch von uns kaufen, so sind wir doch genötigt, dieselben zum Einkaufspreise, also ohne den geringsten Nutzen, zu verkaufen; wir sind daher nicht mehr imstande, in Zukunft Steuern und Abgaben aufzubringen und müssen daher unsern Untergang mit Riesenschritten entgegenkommen sehen, wenn nicht die w. Regierung Mittel anordnet, wodurch diesem Umtrieb Einhalt getan werden kann.

An die w. Regierung erlauben wir uns daher das ebenso gehorsame als dringende Gesuch zu richten:

Hochgeneigtest dahin zu wirken, daß das Assoziationsgeschäft in unserm Orte möglichst bald aufgehoben wird.«

Nach langem Überlegen sagt Herr Brunner:

»Das Gewerbe hätte angemeldet werden müssen, wie jede Neugründung und Aufrichtung. Aus welchen Gründen ist das unterlassen worden?«

»Da wir unsere Genossenschaft nicht als ein Gewerbe ansehen, und wir nicht zusammengetreten sind, ein Gewerbe zu betreiben, sondern lediglich eine Ersparnis unter uns herbeizuführen, haben wir es, da Ersparnismaßnahmen doch nicht höheren Orts angemeldet und eingetragen werden müssen, es nicht für nötig gehalten!«

»Sekretär, es wird aufgenommen: »Verhandelt zu Eilenburg, Rathaus, den 18. September, 1850.

Halt, noch eins, Herr Fritzsche: also kann ich den Antworten auf meine Frage entnehmen, daß sich an der Art der Assoziation nicht viel mehr, als die Zahl geändert hat, – wir haben ja am, na, Sekretär, am ...«

»5. August!« ruft der Sekretär, »ja, am 5. August ein gleiches Protokoll geschrieben!« Der Bürgermeister diktiert das neue Protokoll. Dann wird es noch einmal vorgelesen und Fritzsche vorgelegt. Da fällt dem Bürgermeister ein anderes Schreiben ein, es war an der Rückseite befestigt:

»Ach so!« sagt er, nachdem er es überflogen hat, »im Nachtrag wird der Assoziation attestiert, daß sie oft minderwertige Waren in den Verkehr bringt. So lag der Regierung eine Probe trockenes Gemüse vor, welches inzwischen verwest ist. Stimmt das?«

»Wenn es sich um Trockengemüse handelt, ist das ein Posten, den uns der Groß- und Kleinhändler Agent Kanitzky auf seine Anpreisungen hin verkauft hat.«

»Also, Sekretär, hinzufügen:

»So viel die Beschwerde der Viktualienhändler betrifft, so müssen wir bemerken, daß unsere Trockengemüse von dem Beschwerdeführer Kanitzky selbst erkauft worden sind.«

Endlich unterzeichnet Fritzsche dies Schriftstück und auch der Bürgermeister setzt seinen Namen darunter. In einer Pause, in der der Bürgermeister hin und her gegangen ist, sagt er zum Sekretär:

»Ist jetzt die Sache in Ordnung?«

»Soviel ich übersehen kann, jawohl, Herr Bürgermeister!«

»Dann bedarf es Ihrer Anwesenheit nicht mehr!«

Fritzsche weiß nicht, geht es den Sekretär oder ihn an, da der Sekretär nicht weggeht, grüßt er: »Adieu, Herr Bürgermeister!« und wendet sich. Der Bürgermeister unterbricht seinen Gang und geht hinter Fritzsche her, geht bis in das Nebenzimmer und sagt, als Fritzsche schon die Klinke in der Hand hat: »Ah, Herr Fritzsche, wie denken die andern, zum Beispiel Herr Wagner, über die Assoziation?«

»Sollte Herr Wagner nicht mit meiner Handlungsweise einverstanden sein, so ist es ihm verstattet, durch eine Mitgliederversammlung meine Absetzung zu bewirken.«

»Sind Sie so sicher, daß die Assoziation auch ohne Sie, Herr Fritzsche, bestehen wird?«

»Der Lebensmittel-Verein besteht aus 350 Familien, aus der Notwendigkeit, sich für ihre sauer erworbenen Hungergroschen möglichst viel Viktualien zu beschaffen. Solange das Volk sich die Gerechtigkeit in ökonomischen Dingen selber erzwingen muß, wird die Genossenschaft vorläufig das einzige Mittel sein.«

»Ich fürchte nur, daß Sie das Volk auf Jahre hinaus rebellisch machen. Sie reden immer von Selbsthilfe! Sie haben die Bürgerschaft entzweit; die Arbeiter-Assozisten wollen nicht nur billige Lebensmittel, sie wollen auch die Übermacht!«

»Erlaube geziemend darauf hinweisen zu dürfen, daß von einer Macht, geschweige einer Übermacht, keine Rede sein kann. Vergleichsweise kann man behaupten, daß die Genossenschaft die Kette der Armut, an die sie durch die Verhältnisse gefesselt sind, um einige Glieder, um ein paar Zoll verlängert hat. Der Kettenhund »verarmtes Volk« ist dadurch in den Stand gesetzt, einen halben Schritt weiterzubeißen!«

»Es ist nicht statthaft, vom Volk in solcher Art zu sprechen; die Behörden und die Königliche Regierung werden durch solche Ausdrucksweise in Mißkredit gezogen! Ich warne Sie dringend vor dergleichen Ausdrücken.«

»Herrn Bürgermeister in Respekt, doch halte ich, als Handwerksmeister und Bürger dieser Stadt, die Lebensweise der Armen und Arbeitsleute von jedem Standpunkt aus für unstatthaft; es müßten die wohllöblichen Behörden das Entsetzen über die grauenhaften Zustände in unserer Stadt solcherart packen, daß sie sich an höchster Macht einsetzen, das maßlose Elend zu lindern.« Fritzsche sieht Herrn Brunner in die Augen: »Und da sich die Behörde die Kraft nicht aneignet, da geht sie auf das Volk über und erzeugt den Zustand, der noch von 48 her in unliebsamer Erinnerung ist. Solang es uns Handwerkern gut ging, Herr Bürgermeister, wußten auch wir nichts von dem Arbeitervolk in den Fabriken. Nun haben wir dieses Volk kennengelernt und unser Glaube ist von ...« hier stockt Fritzsche einen Augenblick – »ist von den Behörden auf das arbeitende Volk übergegangen!«

»Das ist eine offene Kriegserklärung!« sagt Herr Brunner und weicht einen Schritt zurück, als fürchte er, von Fritzsche angegriffen zu werden.

»Der Krieg gegen den Hunger und das Elend, der Kampf gegen die Verarmung ist im vollen Zuge!« sagt Fritzsche, »ich hoffe bei Gott, in Herrn Bürgermeister Brunner einen tüchtigen Verbündeten zu finden!«

Der Bürgermeister geht wieder ein paar Schritte auf und ab, dann streckt er dem Buchbindermeister die Hand entgegen und sagt:

»Gott sei's geklagt, Herr Fritzsche, wenn die Industrie nur besser gegen die englische Konkurrenz könnte; Herr Degenkolb, der doch Volksmann genug ist, beklagt sich, daß er wieder eine Anzahl Handwerker abstellen und neue Maschinenstühle kaufen muß. Ja – und mit ihnen? Was wird das werden? Einstweilen – na, Adjö, Herr Fritzsche.«

Der Buchbindermeister grüßt, geht und stößt beim Davongehen den Stock lauter auf, als er sonst zu tun pflegt. Er wundert sich, daß der Bürgermeister in so freundschaftlicher Weise die Sache erledigte.

In den nächsten Wochen trägt er täglich neue Arbeiter ein; jetzt sind sie auf 450 gestiegen. Trotzdem die Handwerker größeres Einkommen haben, setzen die Arbeiterfamilien mehr um. Die Armen sind beim Einkauf nicht bei Händler-Nachbarn und Krämerkundschaft verpflichtet. Fritzsche merkt das sehr am Umsatz, der dann auch nicht sinkt, als sich viele Handwerkermitglieder abmelden. Auf den Kartons, die als Ausweis dienen, werden die lieben, bekannten Freundesnamen überklebt. Mit neuer Nummer und anderem Namen versehen, werden sie den Arbeiterfrauen in die harten Hände gegeben. Für jeden der 50 Handwerker, die ausgetreten sind, hat er neue Arbeiter eingetragen.

Fritzsche hat die Aufträge, die seine Delitzscher Vertrauensmänner nicht ausführen konnten, einem Magdeburger Lieferanten übergeben müssen. Dieser Großhändler ist persönlich nach Eilenburg gekommen und hat, als er von den behördlichen Schwierigkeiten hörte, ihm ordentlich den Rücken gestärkt. »Eilenburg ist ein kleines Nest. Die Regierung wird sich den Teufel um Eilenburg scheren. Die Eilenburger, die sich vorstellen, es würde wegen dreißig Kleinhändlern ein neues Gesetz eingebracht und beschlossen, diese Leute leiden an Größenwahn: Im Gegenteil, die Regierung ist liberal geworden, sie will die Kräfte in Handel und Gewerbe spielen lassen und sich möglichst wenig einmischen.«

Da hat Fritzsche wieder Mut bekommen, da sind ihm Herrn Wagners große Bedenken wieder klein geworden. Herr Wagner weiß zwar sehr viel, doch weiß er nicht einmal, daß selbst der König den Darlehenskassen und Rohstoffassoziationen der Handwerker Zuschüsse geleistet hat. Um der Sache sicher zu sein, ist er mit Herrn Wagner zu Dr. Bernhardi gegangen; der Doktor hat einen Brief von seinem Freunde Schulze in Delitzsch aus einem der neuen Kästen geholt und es ihnen schwarz auf weiß gezeigt. Leider stand die Summe nicht angegeben, sondern nur die Tatsache; auch, daß seine Majestät einen Herrn Professor Huber empfangen hat, der als Leuchte der Wissenschaft für die Gründungen der Genossenschaften sehr begeistert ist. Wenn also der König selber einen Beweis für die Notwendigkeit der Genossenschaften im allgemeinen gegeben hat, so können seine Beamten doch nicht das Gegenteil tun und sie vernichten.

Zwei Wochen sind vergangen; er hat mit dem Schuhmachermeister Stolle die Statuten für eine Darlehnskasse ausgearbeitet. Am 30. September holt er Fritzsche zur Gründungsversammlung ab; Bürmann und Doktor Bernhardi haben sie einberufen. 180 Leute sind zusammengekommen; es wären sicher mehr erschienen, wenn Fritzsches Teilnahme nicht viele Handwerker eingeschüchtert hätte. Auf dieser Versammlung ist der Doktor für Fritzsche eingetreten und hat den Eilenburgern bewiesen, daß Fritzsche Pionierarbeit leistet. Alle Handwerker seien ihm zu Dank verpflichtet:

»Fritzsche hat uns gezeigt, wie man für das Einstehen von Allen für Einen und Jeder für Alle, für die solidarische Selbsthilfe kämpft. Sein Wirken soll uns als leuchtendes Beispiel vorangehen. Möge aus der Tätigkeit von Fritzsche und Genossen recht viele Männer die Anregung zu genossenschaftlichem Vorgehen nehmen! »Es lebe der Pionier von Eilenburg!« so hatte er ihn hochleben lassen!

Das war eine Ehrenerklärung für Fritzsche, besonders wohltuend für ihn, weil gerade seine Standesgenossen ihn und die Genossenschaft verlassen hatten.

In den ersten Oktobertagen kommt Herr Wagner, wie so oft, zu Fritzsche ins Lokal. Der Meister bemerkt sein Hereinkommen nicht. Er steht breitbeinig da und liest in einer dicken Aktenschrift. Da wirft er sie zu dem erstaunten Herrn Wagner auf den Ladentisch, nimmt eine Zigarre und pafft wild und wütend. Wagner liest in dem Schreiben. Fritzsche wendet ihm die Blätter, eins nach dem andern, in den Händen um und weist mit dem Finger auf den letzten Satz, den er schon auswendig kann und seinem Freund in die Ohren ruft:

»Gutachten des Gewerberates zu Eilenburg! Hört bloß den Schluß an: ›Vermag der Gewerberat das Bestehen dieser Assoziation nicht zu befürworten. Degenkolb.‹ Herr Wagner, was sagt Ihr nun? Erst fünf Seiten schönen Schmus über die Nützlichkeit der Assoziation! So lobt er uns kaputt; was nützt uns die schöne Theorie, die der Herr Fabrikant Degenkolb da entwickelt, wenn er alle Assoziationen lobt und nur uns verdammt, indem er am Schluß sagt: ›überhaupt das Bestehen dieser Assoziation nicht zu befürworten!‹ Das nennt man also ein Gutachten des Gewerberates!«

Fritzsche stampft mit dem Fuß auf:

»Der Pessimist hat recht gehabt, Wagner, das ist das Todesurteil! Erst haben sie uns noch eine Weile zappeln lassen! Denn, ha, sie wußten genau, wir entrinnen ihnen nicht! – Ich geh zu Herrn Degenkolb, ich sag's ihm, er muß das zurücknehmen, – dieser Brief darf nicht an die Regierung! Ich geh zum Magistrat! – Grad jetzt, wo sich fast 100 Mitglieder haben neu eintragen lassen! Jetzt sollen wir verboten werden! Gleich geh ich!«

»Nein, Fritzsche, Ihr geht nicht hin; werdet Ihr befohlen, dann macht Ihr eine Reise oder legt Euch ein paar Tage in's Bett. Ich geh dann für Euch! Vorläufig nehme ich dieses Schreiben mit, diesmal werde ich darauf antworten, nämlich, indem ich diese Herrschaften als parteiisch ablehne!«

»Ja, Wagner, aber was nützt das? Herr Degenkolb, ich meine der Gewerberat und auch der Magistrat wissen, daß sie kein Gesetz haben und uns nicht verbieten können.

Die Fachleute handeln gegen das Recht!

Das Volk will und muß zu seinem Brot kommen! Da gehn die Fachleute hin und suchen nach einem Gesetz. Es gibt kein Gesetz, das sich zwischen Volk und Brot zwängt. Was tun die Fachleute? Sie untersuchen, ob wir für den Handel nützlich oder schädlich sind. Was wir für das Volk sind, danach fragen sie nicht!« Wagner unterbricht den wütenden Meister: »Als wenn es nicht vollkommen gleichgültig wär, aus welchen Gründen wir verboten werden. Wenn die Behörden das Recht brechen, machen sie das Volk aufmerksam, dann brauchen wir es nicht zu machen. Nichts klärt das Volk besser auf als die behördliche Schikane! Zur Sache! Ich rufe den Vorstand zusammen, wir wählen ein paar ganz neue Leute und rücken in die Verteidigung. So sparen wir unsere Kräfte! Ihr bekommt Bescheid!«

Nachdem Wagner gegangen ist, schmeckt Fritzsche das Essen nicht mehr, die Nachmittagsarbeit kommt ihm zwecklos vor, immer noch muß er neue Mitglieder nachtragen. Er mag ihnen nicht sagen, daß die Vereinigung so gut wie verboten ist. Vorläufig muß er den Einkauf von Waren weiterhin betreiben.

Fritzsche geht durch den Garten, es ist stockfinster, kein Mond, kein Stern scheint. Ihm wäre es nicht unheimlich gewesen, jetzt diesem Zukunftsgespenst in Gestalt des Knochenmannes zu begegnen. Er hat diesen Unhold schon lange gespürt, alle fühlen sie die kalte Todeshand der Geld- und Maschinenmacht. Alle Handwerker und Arbeiter ahnten, daß so ein Ungeheuer über Deutschland sich ausbreitet und dem deutschen Volk das Blut aussaugt. Der Schuster hat das Wort dafür ausgesprochen, es begleitet Fritzsche, wohin er auch geht: das Maschinengespenst, der Geldvampyr, der Machtdrache!

Fritzsche legt sich zu Bett, er kann nicht schlafen; wie grauenhaft, nicht auszudenken, wenn Stolle und seine Freunde recht behielten? Das arme Deutschland, das vor ein paar Jahren vergebens versuchte, zu einer Einigung in seinen Stämmen zu kommen, wird es von dem Ungeheuer verschlungen? Dann hatten die Revolutionäre von 48 doch eine Ahnung von dem, was über ein uneiniges Deutschland kommen kann. Adel und Bürger, Bauer und Arbeiter, von oben nach unten zerreißt das Geld das Volk, querhin kämpfen Sachsen und Preußen, Hannoveraner und Bayern, über's Kreuz dazu Westfalen und Schwaben, zickzack dadurch blitzen aus unzähligen Fürstentümern feindliche Strahlen.

Der Buchbinder denkt nicht mehr an Eilenburg, er denkt an Deutschland. Immer wieder fällt ihm ein, was er Herrn Wagner gesagt hat: Auch in Eilenburg gibt es Maschinen und bittere Not, Fabriken und Hunger. – Eilenburg ist die Welt! Er ist Bürger von Eilenburg, er hat versucht, die Eilenburger zum Kampf für die Eroberung des Brotes zusammenzurufen. Nun sieht er, daß es zwei Eilenburg gibt: das Eilenburg der Schaffenden, der Arbeiter und Handwerker, die da hungern und kämpfen, – und das andere Eilenburg, das der Händler und Verdiener. Die Behörden, der Staat und die Regierung steht auf der andern Seite, auf der Geldseite. Auf der Brotseite kämpft das schaffende Volk. Ob die Arbeiter sich wohl im Kampf um das Brot einig werden? Oder ob sie, unselige Deutsche, im Bruderkrieg die Waffen gegen sich und untereinander führen müssen, weil sie eben Deutsche sind?

Die Nacht vergeht, Fritzsche kann nicht schlafen. Er erinnert sich eines sonderbaren Buches, das sein Freund, der Maler, ihm zu lesen gegeben hat, als er mit gebrochenem Bein im Bett lag. Es war ein Heldenlied aus alten Tagen und beschrieb in Versen das Schicksal des Recken Siegfried. Dieses Buch hat ihn damals so traurig gemacht, weil am Schluß alle Helden tot dalagen. Nun weiß er, warum er so lange darüber nachgedacht hat. Er hat das Geheimnis des Buches nicht finden können. Jetzt sieht er es wieder durch diese Dichtung: wenn die Deutschen keine Brotsorgen haben, dann schlagen sie sich gegenseitig tot! Muß da nicht dieses greuliche Gespenst der Maschine über sie kommen! Diese unsichtbare Macht, die sie alle bedrängt und zum Kämpfen zwingt? Müssen die Deutschen nicht von einer größeren Kraft zur Einigung gezwungen werden? Werden die Deutschen nicht gegen den fürchterlichen Feind, der da naht, den Bruderzwist vergessen und sich miteinander erheben? Fritzsche denkt über sich selbst nach: er ist doch auch ein Deutscher. Er hat keinen Haß gegen seine Landsleute. Er sieht den größten Feind. Darum will er die Deutschen miteinander verbünden.

Nun fühlt Fritzsche sich beglückt, daß der Kampf um das Brot anbricht. Vielleicht eint dieser Kampf die Deutschen. Er hat für Eilenburg eine Truppe aufgestellt, in der sie sich alle einigen können. Es gibt für ihn keinen Ausweg, es gibt nur dies: aus den sich bekämpfenden Brüdern Kampfgenossen gegen den größeren Feind zu formen. Er muß aus der deutschen Not eine deutsche Tugend machen.

Als die Sonne aufgeht, hat er noch nicht geschlafen. Er steht wieder auf, er spricht beim Anziehen laut vor sich hin, daß sein Weib sich erschreckt nach ihm umwendet:

Die deutsche Zerrissenheit ist der Krieg.
Die deutsche Genossenschaft ist der Friede.


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