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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Der Januar hat mit frischer Kälte begonnen, mit jedem Tage sinkt das Thermometer; so viel Tage, so viel Grade unter Null. Die Mulde ist zugefroren, der Mühlbach gibt nur wenig Wasser für den Antrieb der großen Fabrikmühlräder her. Immer mehr Weber und Färber, Tuchmacher und Wirker müssen feiern. In den Fabriken erfrieren die Röhrenleitungen, platzen die Behälter. Der Wagenverkehr stockt in den Schneetagen vollständig. Die Kohlen für Degenkolbs Fabrik werden auf Schlitten herbeigeholt.

Da spricht ein Mann in Kültzschan, ehe er in der Frühe aus dem Haus geht, zu seiner Frau:

»Ja, ich war gestern in der Versammlung bei den Fritzscheleuten. Da sagte der Knopfmacher: ›Der Geschäftsführer erhält 200 Taler im Jahr. Er wollte noch was dazu haben! Kann das ein Mensch begreifen! 200 Taler im Jahr!‹« Er spricht noch vielerlei, aber in den Gedanken seiner Frau bleiben die 200 Taler hängen. Er geht auf die Straße, trifft seine Kollegen; sie gehen mit, kommen über die Lissa und dann die Muldenbrücken, von dort aus treffen sie noch andere auf dem Weg zu den Fabriken. Der Mann aus Kültzschau muß des öfteren antworten: »Ja, hab ich auch gehört! 200 Taler! Und noch nicht zufrieden!«

Die 200 Taler beginnen zu rollen. Wenn es nicht Winter wär und 17 Grad Kälte, so wären sie gar nicht weit gekommen. Nun rollen sie von einem Ende Eilenburgs ans andere, rollen durch die Köpfe der Armen und werden dort zu Überfluß und Wohlleben, zu Heizmaterial und Speck, zu Branntwein und warmen Kleidern.

»Wenn wir eine ganze Woche 14 Stunden am Tag gearbeitet haben, so kriegen wir zwei Taler Lohn, das sind gerad 100 Taler im Jahr! Nun hat ein Mensch, der nichts anderes tut, als unsere zwei Taler zu verwalten, dafür vier Taler Lohn!«

»Und ist damit nicht zufrieden!«

»Er gibt zwei Taler die Woche aus und hat dann noch zwei Taler übrig! Er kann doppelt so viel kaufen, wie wir, nochmal so viel Brot, Branntwein; er kann doppelt so viel Fleisch essen, doppelt so viel Fett brauchen! Unbegreiflich? – und noch nicht zufrieden!«

Wie eine Litanei betet die hungrige Inbrunst der Armen die heiligen Dinge der Notdurft herunter. Als Dremus ertönt das Gemurmel:

»Ach, wenn wir doch auch nur 200 Taler hätten!«

Einen Tag rollen die Taler durch das dunkle, frierende, arbeitende, hungernde Eilenburg, dann drängen sie schon vor in das Haus in der Töpfergasse. Schon um acht Uhr, als Fritzsche den ersten Kunden bedient hat und noch weiter nach Wünschen fragt, sagt die abgehärmte Arbeiterfrau:

»Was sonst noch? 200 Taler im Jahr! Ich mein', wenn wir soviel hätten, dann schlügen wir uns eher mit Fäusten auf die Schnauze, bis sie geschwollen wie ein Rotkohl wäre, ehe wir uns wegen zu wenig beklagten!«

Ehe der erstaunte Fritzsche begreift, daß es sich um seine 200 Taler handelt, ist die Frau schon wieder gegangen. Fritzsche starrt ihr nach. Nun hört er diese Worte nachhallen: »200 Taler im Jahr!« Am Abend geht er früher zu Bett, er liegt lange wach. Die 200 Taler rollen von allen Seiten auf ihn ein, aus allen Häusern derer, die nur 100 Taler haben, brechen sie über Fritzsche zusammen. Er wird von der Phantasie gequält, er erstickt unter der Last von rollenden Talern, die alle ein Gesicht zeigen, das Gesicht der armen Frau.

Ein großer Taler steht auf seiner Brust, darin höhnt ihn das ernsthafte Gesicht des Knopfmacher Mandel, der zuerst diese Worte gesprochen hat. Die 200 Taler quälen ihn die ganze Nacht.

Fritzsche hat nicht viel Zeit zum Nachdenken; das Wetter geht ab, es regnet Tag und Nacht, die Überschwemmung der Mulde macht viel Arbeit, viele Leute haben das Wasser noch nicht aus den Kellern, da beginnt der Frost wieder und alle Wintersaat, alles stehende Gemüse, alle Kartoffeln und Fruchtmieten erstarren zu Eis.

Fritzsche muß so manche arme Familienmutter mit nur einem Teil der geforderten Ware zurückschicken, weil er nicht anschreiben darf.

Es gibt öfter am Tag Auftritte, herzzerreißende Szenen, in denen die Menschen vor Not, Hunger, Sorge und Angst aufschrein, zuerst Fritzsche, dann die Welt und Gott verfluchen. Einmal hat Fritzsche ein paar begütigende Worte gesagt, Hoffnung machen und einen Teil der Ware umsonst hergeben wollen. Da schrie die Frau auf:

»Ja, Ihr! Ihr sitzt mit 200 Talern dick im Fettöpfchen drin! Von wem habt Ihr sie? Von uns armen Teufeln!«

Fritzsche hält diesen Jammer nicht aus. Er schickt seine Frau ins Magazin. Er beschließt, durch die Buchbinderei hinzu zu verdienen, um der Genossenschaft keine weiteren Unkosten aufzuerlegen. Der Klatsch wegen Paule ist gar nicht mehr wichtig, die Not wächst; Paule ist ja fort, aber Fritzsche steht verantwortlich da.

Frau Juliane sagt ihm nichts von den schlimmen Dingen, die sie im Lokal hören muß. Sie haut oftmals mit der Faust auf den Tisch und schreit die aufgeregten Frauen an:

»Beklagt euch bei den Fabrikanten, ereifert euch über den Magistrat, verflucht die Regierung, aber laßt den Fritzsche aus dem Spiel! Es gibt reichere Leute, es gibt höhere Beamte, die das Geld scheffeln! Schulden hat Fritzsche wegen euch gemacht!«

»Der Fritzsche, das ist unser Führer!« sagt ein Mann. »Er hat uns gesagt, wir würden durch die Genossenschaft aus der Not kommen! Wir würden durch die Genossenschaft von der Sorge befreit! Nun ist es ärger als früher!«

»Ist Fritzsche schuld an der Kälte, an der Überschwemmung, an der Arbeitslosigkeit, an der Teuerung, an euren kranken Kindern? Ist Fritzsche denn ein lieber Gott?« sagt Frau Juliane.

»Nein, aber er ist unser Führer!« hartnäckig bleibt der Mann dabei, »und wer Führer ist, der hat die Verantwortung für alles!«

»Dann stellt Ihr Euch doch dahin und macht den Laden weiter!« erklärt Juliane.

Noch einmal kommt mit Tauwetter und Regen die große Wassernot, – die Wohnungen der Armen sind wieder voll Nässe und Krankheit, die Schränke und Töpfe leer. Es ist März. Sonst beginnen die Leute, ihre kleinen Gärten zu bearbeiten. Doch der Boden ist noch durch naß, die Pflänzlinge verfault, das Saatgut an Erbsen und dicken Bohnen aufgegessen. Zum Neukaufen ist kein Geld da, kein Geld für Dung. Die Genossenschaft verteilt Saatgut an die Ärmsten. Fritzsche hat an die ganz Armen viele Waren umsonst abgegeben; die Unglücklichen können ihren Mund nicht halten, und bringen Fritzsche in große Unangelegenheit. Er bevorzuge seine Günstlinge, die Fabrikarbeiter, er beschimpfe die Fabrikanten als Ausbeuter, schmähe die Kaufleute als unbarmherzige Wucherer. Bei Wagner kommen anonyme Briefe an, voll Klagen über ihn.

Fritzsche tut, was er für richtig hält: er hat, im Einverständnis mit Wagner und der andern eine Anzeige aufgesetzt; Wagner verlangt, daß einige Worte gestrichen werden. Da steht an einer Stelle: »Das wucherische und unbarmherzige Handelsinteresse ...« Um die Kaufleute nicht zu beleidigen, wird das Wort »wucherische« gestrichen. So erscheint die Anzeige am 12. März in den Blättern.

»Abermals hat Gott uns eine Prüfung gesandt. Der Arme leidet Not. Mit unsern geringen Mitteln wollen wir jedoch eine kleine Hilfe zu bringen suchen; möge sie durch Nachahmung sich vergrößern. Zugunsten unserer armen Mitbürger haben wir uns die Aufgabe gestellt, zu den äußerst billigen Preisen und nur zur Deckung der eignen Auslagen unsere Waren abzulassen. Das unbarmherzige Handelsinteresse hat zwar auch die wohlgeratensten Gemüsearten verteuert, dennoch aber wollen wir diese, namentlich Erbsen, Hirse, Grieß, Graupen, Grütze, Bohnen usw. und auch Kartoffeln zu solchen Preisen hiermit offerieren, wie sie niemand außer uns gewähren kann und so den kleinsten Nutzen entbehren, um manchen bedrängten Familienvater seine Last zu erleichtern.

Eilenburg, den 12. März, 1852.                             Der Vorstand.«

Daraufhin wird der Schriftführer angegriffen. Auch die Mitglieder beschweren sich über diese Anzeige, verlangen, daß auf einer Generalversammlung Rechenschaft darüber gegeben wird.

Natürlich muß der Vorstand die fällige Vierteljahrsversammlung einberufen und ladet zum 20. April die Mitglieder ein.

Immer wieder drängen Wagner und der Vorstand den Geschäftsführer, die Abgabe von Lebensmitteln zu Einkaufspreisen zuzulassen. Fritzsche sagt:

»Jeder Kaufmann hat ein Verlustkonto durch Borgschulden; bisher habe ich nicht zu verborgen brauchen!«

»Eben, weil du so viel weggeschenkt hast!« sagt Vogel, »nun sieh auch zu, daß du diese Leute in die Versammlung bekommst, damit sie für dich einstehen! Es wird uns immer schwerer, die Nörgler und Stänker vom Leib zu halten!«

In diesem Frühjahr hat Fritzsche es bewiesen, welche große Wohltat die Genossenschaft für die Käufer ist; wären es normale Zeiten, ein Jahr mit guter Ernte, milderem Winter und besserem Verdienst, so würde er jetzt schon eine Mühle haben. Die Anzahlung dafür haben nun die Armen bekommen; die Genossenschaft hat eine ganze Reihe Familien durchfüttern können. Wenn erst drei, vier, ja zehn Jahre einen Fond an Geld und Vertrauen gesammelt hätten, wie würde sie leistungsfähig sein! Alle andern Assoziationen liegen in schwerer finanzieller Bedrängnis. Nur die Lebensmittelgenossenschaft, der Konsumverein, steht mit Vermögen, Reingewinn und Überschuß da. Was Wunder, daß die Händler wüten: zu den 8000 Talern Umsatz sind wieder 2000 hinzugekommen.

In den letzten Tagen vor der Versammlung stellt Wagner den Bericht zusammen und findet bei der Aufnahme der Bestände, daß Fritzsche an die Armen insgesamt für 94 Taler Lebensmittel abgegeben hat. Als der Vorstand am Abend zur Versammlung geht, sieht er zu seinem Erstaunen das Schützenhaus mit Gästen gefüllt, als sei eine Festlichkeit im Gange.

Als sie zur Gaststube hineinkommen, hat ein Spaßvogel das Schild, auf dem der Wirt Frühlingsbowle empfiehlt, herumgedreht. Auf der Rückseite sieht, vom Winter her, die Ankündigung:

»Heute Schlachtfest: Metzelsuppe!«

Der Witzbold hängt es an die Tür des Sälchens, – Wagner und der übrige Vorstand wollen gerade eintreten. Ein unbändiges Gelächter bricht los, die Gäste an den Tischen stehen auf. Sie sehen, wie Glubsch dem Burschen das Schild abnimmt und ihm mit der Faust droht:

»Prima Ochsenmaulsalat mach' ich von deiner Schnauze!« brüllt er in die Menge. Über 120 Mann sind versammelt. Zu den Nachzüglern gehört auch Herr Hanisch, der Polizeisekretär. Um ein halb neun erst kann der Schriftführer beginnen.

Schon bei der Begrüßungsrede wird Wagner unterbrochen: »Tatsachen raus!« Bald folgt der Bericht, der mit Johlen und Gelächter aufgenommen wird.

»Ich gehöre zu den ältesten Mitgliedern und heiße Alfred Pietsch.« Mit diesen Worten drängt ein gutangezogener Mann an den Vorstandstisch und bittet ums Wort. Ohne abzuwarten, dreht er sich um, machte eine Verbeugung in den Saal hinein und ruft: »Eine unwürdige Konsorte hat unsern guten Eilenburger Namen zum Gespött gemacht. Eine Assoziation, wie es derlei hier fast ein Dutzend gibt, hat es fertig gebracht, an 10 000 Taler Umsatz dem ordnungsgemäßen Verkehr zu entreißen, nur, um mit dem Erlös daraus das Volk aufzuwiegeln. Ich habe schon lange die Nase voll von dem Assoziationsgestank. Nichts von dem, was Herr Fritzsche uns versprochen hat, ist aus der Gründung des Vereins geworden, es ist auch nicht geblieben, wie es war, sondern, es ist, alles in allem, nur schlechter geworden. Meine Herren! Früher haben wir einen großen Feind gehabt: das allmächtige Kapital. Meine Herren, es ist in Eilenburg durch das Gebaren dieser Konsorte der Schuhmacher mit dem Gerber Feind, der Glaser mit dem Schreiner, der Schreiner mit dem Anstreicher, der Anstreicher mit dem Maurer, der Maurer mit dem Zimmermann; alle miteinander sind sie wieder extra verfeindet, zwischen Verbraucher und Produzenten, zwischen Käufer und Verkäufer, zwischen Mieter und Vermieter, es ist, als ob uns Herr Fritzsche erst gelehrt hätte, in wie vielen Feindschaften ein Gemeinwesen sich bekriegen kann. Ich will nicht vom Nutzen der Genossenschaft reden, zweifellos hat sie großen Nutzen gestiftet – «

Zwischenruf:

»Für die Gründer!«

»Ja, mein Herr, das wollte ich grade sagen! Diese Gesellschaft kann nur im Trüben fischen, darum hat sie Eilenburg erst aufgewühlt und eine Finsternis hervorgerufen, in der der eine den andern nicht mehr kennt. Der Vater schimpft den Sohn: ›Assozistenpack‹, der Sohn schreit: Händler, oder Krämersack!«

Zwischenruf:

»Aufhören, aufhören! Kennen wir längst!«

»Wer hat Euch zu all dem Gequassel beredet?« ruft Herr Vogel. Die größere Anzahl fordert einen andern Redner. Wie auf ein Kommando schallt der Name Koch durch den Raum.

»Drahtzieher Koch!«

Er sitzt ganz vorne, nahe dem Vorstandstisch, hat einen langen Zettel vor sich liegen und sieht langsam auf. Er redet gegen die niedrigen Dividenden, gegen die billigeren Preise.

»Wir sparen und ihr schenkt unsern Gewinn euren Lieblingen, den Aufwieglern!«

Zwischenrufe, Lärm, erneut Zwischenrufe:

»Tatsachen!«

Der Redner Koch erbittet sich Ruhe und beginnt mit leiser Stimme und geheimnisvollen Gebärden von der Kontrolle der Entnahme des Vorstandes zu reden. Es sei unmöglich, daß jemand sagen kann, Frau Fritzsche hätte ihren entnommenen Bedarf nicht bezahlt!« Gegen diesen Verdacht protestieren eine Anzahl Mitglieder, Wagner schlägt auf den Tisch. Vogel will reden, – Zwischenrufe:

»Jeder muß mal drankommen, ans Verteilen!«

»So wird man gesund!«

»So bleibt man dick und fett im schlimmsten Winter!«

Herr Wagner schwingt die Schelle, ein Mann ruft:

»Schellt nur, es weiß jeder, in Körben schleppt euer Weib unser Eigentum nach Haus!«

»Beweise! Beweise!« rufen Wagner und Fritzsche zugleich.

»Ihr habt gewußt, daß wir euch absetzen, drum habt ihr euren Aufwieglerfreunden ein ganzes Lager eingerichtet, voll bester Lebensmittel uns mit der Wohltätigkeit belastet!«

»Auch Schwindel, die Armen haben nichts gekriegt, bloß angeschrieben haben sie 92 Taler, aber genommen haben sie es selber!«

»Beweise! Beweise!« rufen die Vorstandsmitglieder unaufhörlich. »Beweist mir das Gegenteil!« ruft der Ankläger.

»Wir machen die Leute namhaft, die verbilligte Lebensmittel bekommen haben! Mit Stück und Pfund steht's aufgeschrieben. Vor Gericht werden wir es beeiden können!« schreit Fritzsche, maßlos erbost über die Flut von Verdächtigungen.

Der Knopfmacher Mandel ruft:

»Hab' ich nicht gleich gesagt: ›Wer kontrolliert das Fettöpfchen!‹«

»Lügner! Verleumder! Ans Gericht mit den Lumpen!« ruft Glubsch und steht auf, packt einen der Zwischenrufer und verlangt seinen Namen festgestellt. Da springt Herr Hanisch zu und erklärt, er müsse allen Tätlichkeiten einen Riegel vorschieben. Herr Glubsch sei verwarnt. Herr Wagner bittet die Zwischenrufer, die solche Beleidigungen ausgestoßen haben, namhaft zu machen, – doch nun steht niemand mehr auf, um seine Worte zu wiederholen.

Nun bekommt Fritzsche von Wagner das Wort. Jeder, der noch einmal ohne Beweise solche Behauptungen aufbringe, sei hiermit öffentlich als ein schuftiger Verleumder bezeichnet und wird hiermit gebeten, ihn bei Gericht zu verklagen!

»Der Staatsanwalt!«

»Ho! Der Staatsanwalt! Wir sind Richter über unsre Genossenschaft!« unterbricht ihn Herr Pietsch.

Fritzsche schweigt einen Augenblick und hebt die Hände: »Meine Herren Kritiker, Verleumder, Ehrabschneider und Beleidiger! Mit diesen Händen habe ich Pfunde und Lote abgewogen, durch diese Hände sind fast 10 000 Taler Geld gegangen. Warum sind die Menschen nicht hier, die für mich zeugen können? Die es jeden Tag am Brotschrank, am Eßteller, an Leib und Leben spüren? Diese Leute sind müde von schwerster Arbeit, voll Vertrauen zu ihrem Führer und legen sich zur wohlverdienten Ruhe. Ihr aber, soviel ich sehe, gehört nicht zu den Arbeitern, ihr braucht nicht in die Fabriken, habt Zeit zuviel! Die Genossenschaft lebt trotz euch und gegen euch, sie wird immer leben, trotz aller Verdächtigungen und Anfeindungen, sie wird immer da auf dem Plan sein, wo der arme, fleißige Arbeiter und Handwerker sein sauer erworbenes Geld ehrlich verwaltet haben will. Diese Hände werden den Handel auch weiterhin zwingen, gerechte Preise einzuführen; nur die Wucherer, Ausbeuter und Verführer werden die Genossenschaft bekämpfen; die Nutznießer der Zwietracht sollen die Genossenschaft verfluchen, weil an einer geeigneten Arbeiterschaft kein Überfordern und Preisbetrügen möglich ist! Die Genossenschaft –«

»Zum Teufel mit der Genossenschaft! Zum Teufel mit Fritzsche! Zum Teufel mit dem Vorstand!« schreit der Kattundrucker Thiele und stößt einen Stuhl auf die Erde, daß er zerbricht. Er bückt sich, nimmt ein Stuhlbein und droht gegen Fritzsche: »Du hundsgemeiner Lump! Du Generalbetrüger, du Erzspitzbub! 10 000 Taler sind durch deine Finger gegangen. Wieviel ist daran kleben geblieben? Betrogen hast du die ganze Stadt! Die Schnauze müßt man dir einschlagen, frecher Hund! Du Geschäftsführer einer Gaunerbande! So was lassen wir uns doch in Eilenburg nicht bieten!«

Der Drucker Rauschenbach hebt einen kleinen Tisch auf und brüllt:

»Ich schlag' die ganze Bande platt!«

»Einen Pechdraht um die Hälse dieser Beleidiger!«

Über ein Dutzend Mann stehen vor dem Vorstandstisch, die Mitglieder schreien durcheinander.

»Hoch die Genossenschaft! Hoch Fritzsche!«

»Hoch an die Bäume gehören sie aufgehangen!« Mit rasender Gebärde stürzt der Schuhmachermeister Barth auf Fritzsche zu: »Dann fängts beim Hauptmann an! Fangt den Fritzsche!«

Da springt der Polizeisekretär Hanisch zwischen die Bedrohten und Angreifer:

»Im Namen des Gesetzes! Ich erkläre die Versammlung für aufgelöst! Kein Wort mehr! Alles hinsetzen! Zehn Mann um zehn Mann hinausgehen! Wer widerspricht, verfällt dem Gesetz!«

Einen Augenblick Schweigen. Alle setzen sich nieder. Der Polizeisekretär steht auf einem Stuhl und kommandiert:

»Tür auf! Zehn Mann antreten zum Abmarsch!«

Murren, Scharren, Stühlestoßen, Tischrücken. Die ersten Zehn nehmen die Mütze und starren, als sie durch die Tür sind, in das Gästezimmer. Sie werden mit schallenden Zurufen begrüßt, werden eingeladen, noch ein Glas zu trinken, nur wenige haben so viel Geistesgegenwart, der Einladung gleich zu folgen. Sie zahlen ihr Bier, schon werden sie von den Nachdrängenden weitergestoßen. Als Letzter schließt Herr Hanisch die Tür, der Vorstand geht die dunkle Straße hinunter bis an das Kornhaus zur Töpfergasse.

Sowohl Fritzsche und die Seinen, wie auch die Händler holen ihre Kunden aus. Der große Teil der kaufenden Bevölkerung interessiert sich nicht so sehr für die Streitigkeiten der Parteien, als für die Preise. Immer noch hat Fritzsche diesen Hebel in der Hand. Er benützt ihn: der Umsatz steigt täglich.

Fritzsche hat durch die Arbeiter erreicht, daß ein großer Teil der Genossen sich zu der von den vereinigten Webern auf den 4. Juni einberufenen Versammlung einfinden will. Die Weber müssen, da sie für ihren Hauswebstuhl keine Arbeit mehr haben, eine Genossenschaftsweberei aufrichten. Schon haben sie an den Magistrat einen Antrag auf die Herleihung eines Kapitals gestellt. Eine Anzahl Weber wollen selber Kapital einbringen. Fritzsche und Wagner, Stolle und der Färbermeister Vogel sind als genossenschaftliche Fachleute eingeladen. An 150 Leute sind gekommen. Der Vorsteher der Weberverbrüderung begrüßt die Erschienenen und erklärt die Lage. In Rede und Gegenrede wird es selbst dem einfachen Fabrikweber klar, daß die noch vermögenden Weber nach der Höhe des einzubringenden Grundkapitals die aufzunehmenden Aufträge verteilen wollen. Da kommt für den Armen gar nichts heraus. Wieder muß Fritzsche sagen, daß er als Vorsteher 600 Taler Kapital eingebracht habe, ohne jedoch mehr als dieselben Dividende zu erhalten, wie jeder bekommt, der 10 Silbergroschen eingezahlt hat. Die kapitalistisch denkenden Webermeister bestehen auf ihrem Recht.

Über diese eindeutige Herrschsucht sind sogar die Kleinmeister so empört, daß sie einen Ausschlußantrag einbringen.

Der Antrag wird von den Webern angenommen, die Abstimmung durchgeführt, die Herrschsüchtigen werden mit großer Mehrheit ausgeschlossen. Vorläufig bleibt die Brüderschaft der Armen noch bestehen. Zscherpe ist überzeugt, daß es dennoch zu einer Vereinsweberei kommt.

Nachdem die Weber mit ihrer Beratung zu Ende sind, fordert Fritzsche die Anwesenden auf, noch eine Weile zu bleiben. Er gibt einen Bericht über die Zusammenstöße in der letzten Versammlung. Fritzsche macht den Arbeitern klar, daß sie sich mit dem Fernbleiben von den Versammlungen ihrer Rechte entäußern; ein Weber antwortet: »Laßt doch die Schwätzer schwatzen! Was haben wir damit zu tun?«

»Und wenn sie euch mit ihren Abstimmungen ganz herausdrängen? Was dann?« fragt Fritzsche.

»Ha! Dann lassen wir sie sitzen und gründen eine Arbeiterkonsumsgenossenschaft!«

»Und unser Erspartes, unsre Waren, unsre Anschaffungen, es sind an 800 Taler! Durch unser Fernbleiben gehen sie uns verloren!«

»Das wäre noch schöner! Nötigenfalls gebrauchen wir unsre Fäuste. Wir werden unser Recht schon zu wahren wissen!«

Fritzsche erklärt ihnen, daß sie sich durch die Unterschrift unterm Statut zur genossenschaftlichen Handlung, – dazu gehört auch Versammlungsbesuch, verpflichtet haben.

»Ihr habt von euren Rechten ja niemals Gebrauch gemacht! Es sind von Mitgliedern Beleidigungen gegen euch und den Vorstand gemacht worden. Wie gerne hätten wir die Beleidiger zur Rechenschaft gezogen; aber, auf den Versammlungen wart ihr nicht, sondern nur der Anhang der Beleidiger! Wir sind im Konsum in der Überzahl, in der Versammlung in der Minderzahl, das heißt: Ihr wart nicht da. In der Solidarität kann sich keiner vertreten lassen, da muß der Mann selber einstehen! Dafür hat er die Stimme.«

»Wenn ihr alle dagewesen wärt, dann hätten wir sie ausschließen können. Nun ist es zu spät! Jeder muß alles tun, was zur Sicherheit des Rechts dient. Die Zeit, in der man sich einfach an den Kartentisch setzt und andere für sich schaffen läßt, wird für den Arbeiter nie kommen! Er muß außer seiner Arbeit an der Maschine für seinen Stand arbeiten, lernen, schaffen!«

Fritzsche redet eindringlich zu den wenigen. Er sieht, er hätte es alles schon zu Beginn der Assoziation sagen müssen, nun ist es zu spät!

»Wir wollten die Genossenschaft am Brotschrank spüren, – wir wollten keine Paragraphen!« erklärt ein Arbeiter von Mitscherlich.

»Ich kann es nicht begreifen, daß der Weg zum Recht über Papier und das Gedruckte gehen soll!« sagt ein Arbeiter.

»Der Reichtum der Welt geht von unsern Knochen aus ebenfalls übers Papier und das Gedruckte: Paragraphen, Gesetze, Gebote, Verbote; es gibt Leute, die alle Gesetze kennen, nicht, um sie zu befolgen, sondern, sie zu umgehen! Wenn wir nicht auch alles studieren, alles Wissen erwerben, so werden wir nie vorankommen!«

»Und dazu sollen wir die Genossenschaft gegründet haben?« fragt der Mann ungläubig. »Ich meine, die Hauptsache sei die Ersparung!«

»Aber selbstverständlich ist die Ersparung die Hauptsache!« sagt Fritzsche.

»Ich hoffe aber, ihr lernt auch was dabei! Auf jeden Fall macht ihr Erfahrungen!«

Die Weber tragen die traurige Nachricht der Schwierigkeiten, die der Entstehung der Vereinsweberei erwachsen, durch die Fabriken; die Fritzscheleute werben um den fleißigen Besuch.

Sie hoffen, daß jetzt erst recht alle Mitglieder zu der am 13. Juli stattfindenden Generalversammlung kommen.

Schon treffen bei Wagner Anträge für die Tagesordnung ein. Sie tragen die Unterschriften von 30 bis 50 Mitgliedern und fordern die Ersetzung Fritzsches durch einen anderen. Eines Abends, als Wagner diese Stimmen zusammenzählt, sind es fast die Hälfte der Mitglieder, und Glubsch, der sich eine Liste ansieht, sagt erstaunt:

»Das sind ja Kollegen von Degenkolb! Wahrhaftig, wie kommen sie dazu, diesen Antrag zu unterschreiben? Die muß ich doch einmal fragen; bei mir tun sie als treue Mitglieder und jetzt kommen sie so heraus!«

Am nächsten Tag kommt Glubsch zurück:

»Ha, Fritzsche! Ich hab mich nicht getäuscht; ein Kollege sagte: ›Wenn doch der Hausbesitzer mit der Liste kommt und fordert meine Unterschrift? Wenn ichs nicht tu, wirft er mich aus dem Haus, das ich seit zwölf Jahren wie mein eigenes, sauber und ganz gehalten, – und meinen Garten, in dem ich soviel Arbeit, Dung, Geld für Bäume und Sträucher gesteckt habe! Was sollt ich da machen? Ich unterschreibe! Da ist der Schwiegervater, der die Familien zum Unterschreiben zwingt, hier ein Handwerker, dem er eine Rechnung schuldet, – pfui Teufel, wie nutzen sie die Abhängigkeit aus!«

»Leider!« sagt Fritzsche und fragt nach seiner Meinung.

»Ja, Fritzsche, ich sage, was ich auch schon öfters gesagt und immer empfohlen habe, wir müssen nicht nach der Kopfzahl abstimmen lassen, sondern nach dem Umsatz. Wir, die wir doch alles unserm Magazin entnehmen, was wir verbrauchen, und keinen Pfennig zum Händler tragen, haben doch mehr Wert für den Verein, als die Schwätzer, die grade so viel holen, um nicht ausgeschlossen zu werden! Und die sollen dann genau eine Stimme haben, wie wir!«

Fritzsche bedenkt dies lange und sagt dann langsam:

»Um diese Stimmbewertung auszuführen, muß das Statut mit Zweidrittelmehrheit geändert werden. Bis es aber zur Versammlung kommt, haben sie euch den Versammlungsbesuch so verekelt, daß ihr wahrscheinlich kaum die Hälfte der Stimmen habt!«

»Das werden wir aber sehen!« sagt Glubsch und verspricht, noch mehr wie sonst für die Versammlung im Juli zu werben.


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