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Fünfzehntes Kapitel

Herr Brunner kommt am nächsten Tag von einer Dienstreise zurück. Er war in Torgau und Leipzig. Es war ihm, als ginge er in Ferien. Zwar hatten alle Freunde in den Verwaltungen und den verschiedenen Ressorts ihre Sorgen und Nöte, doch Brunner belächelte den geschäftigen Ernst, mit dem sie diese Alltäglichkeiten zu enormen Leistungen aufbauschten. Die »neue Zeit«, die »veränderten Verhältnisse«, die »größeren Anforderungen« waren beliebige Redewendungen. Er erkundigte sich gelegentlichst nach den Bestrebungen der Industriearbeiterschaft. Er hätte gern über Genossenschaften und Assoziationen Neues erfahren. Die Kollegen mußten alte Akten hervorholen, um überhaupt darauf antworten zu können. So war es in Torgau, so war es in Leipzig. Bürgermeister Brunner begnügte sich darum nicht, die Genossenschaften und Assoziationen einfach rücksichtslos zu bekämpfen, er muß diese neue Sache gründlich studieren. Es ist ihm klar geworden, daß er sich nicht einfach gegen die Hälfte seiner fabrikatorisch und handwerklich tätigen Einwohner stellen kann. Es ist das Volk, arbeitsames, fleißiges, sparsames Volk, das Gerechtigkeit im Handel sehen will; darum hilft sich das Volk durch diesen ökonomischen Zusammenschluß auch ohne und gegen die Behörden. Dagegen klammern sich die Kaufleute mit Gewalt an den Magistrat fest und bestürmen ihn täglich mit Klagen und Forderungen. Jeder für sich glaubt einen Antrag stellen zu müssen und im Gefühl ihrer Schwäche legen sie den selben Antrag noch einmal als die »vereinigten Kaufleute« vor. Und jetzt wollen sie ihm sogar diktieren. Sie stellen ihm ein Ultimatum. Sie drohen mit hohen und höchsten Stellen. Sie haben vollkommen den Kopf verloren. Nun ist Herr Brunner wieder drei Tage in Eilenburg. In seiner Abwesenheit hat sich nichts zu Gunsten der Kaufleute geändert.

Er hat keine Freude mehr an dem Betrieb im Rathaus, der aus einem steifen Brei von Not und Angst, Konkurrenzneid und Machtbegier, Brotnot und Gewinnsucht besieht, gewürzt mit böswilligen Verdächtigungen und raffinierten Intrigen. Es ist ungemütlich im Rathaus. Die Maler sperren Tür und Fenster auf, der nasse Oktoberwind kommt, auf einmal ist der Schnupfen da, und die Grippe mit Müdigkeit, Gliederreißen und Kopfschmerzen zwingt Herrn Brunner ins Bett. Drei Tage hat er den Sekretär nicht vorgelassen; ehe er mit den Interessenten weiterverhandelt, stellt er seine Ansicht über die Assoziation in einem Schreiben auf, dem er den Titel » Votum separatum« gibt.

Der Oktober ist schon zur Hälfte vorüber; Herr Brunner ist noch nicht gesund, er läßt den Sekretär in die Wohnung kommen und diktiert ihm nach reiflicher Überlegung einen Brief in Sachen der Lebensmittelassoziation an die Regierung.

Als ihm tags darauf der Sekretär den abgeschriebenen Brief zum Unterzeichnen vorlegt, ist Herr Brunner mit seinem Votum separatum gerade fertig. Er gibt die Schrift dem Sekretär, läßt sich die Akten betreffs Fritzsche bringen, und als er in der Stille seines Hauses, unbehelligt von den kleinen Störenfrieden des Amtes, einen frischen Überblick bekommt, da erscheint ihm die mechanische Erledigung beinahe wie ein Verbrechen wider den gesunden Menschen, verstand.

Im Verlauf der Arbeit am Votum separetum wird ihm klar, daß die Assoziationen im allgemeinen und die Fritzsche-Sache im besonderen tatsächlich von außerordentlicher Wirkungskraft sind; er ist sicher, daß auch regierungsseitig kein Verbot ausgesprochen werden kann, es wäre ungerecht. In dieser Bewegung fließt die Kraft des Volkes. Es ist doch wirklich so: die große Masse ist es, die da wirkt, schafft und herstellt; der Arbeiter ist Produzent und hat das Primat! Dieses Primat ist jetzt neu festzustellen. In der Geschichte war der Hersteller zuerst Produzent und Verbraucher in einer Person; dann erst später kam der Händler – ein Verlegenheitsprodukt, der Hausknecht der Produktion, Vermittler derer, die selbst nicht schaffen konnten. Der sollte jetzt die Herrschaft über Produktion und Verbrauch beanspruchen?

Jetzt hat Herr Brunner die ganze Sache Fritzsche nach allen Seiten hin durchforscht und überarbeitet. Er ist befriedigt. Der Oktober ist fast zu Ende, am 23. kommt der Sekretär mit der Abschrift. Herr Brunner liest es noch einmal genau durch:

» Votum separatum. In der Frage der hier gebildeten Assoziation zu gemeinschaftlicher Beschaffung von Consumtibilien verschiedener Art weichen meine Ansichten von denen der Mehrheit des Kollegiums des Magistrats in einiger Beziehung ab, und ich finde mich dadurch veranlaßt, meine Ansichten besonders darzulegen.

Über die Frage, ob nach der bisherigen Gesetzgebung eine solche Assoziation erlaubt sey, war die Mehrheit des Kollegiums zweifelhaft. Zu solchem Zweifel sehe ich keinen Grund. Die Gesetze, sowohl die Zivilgesetze über Gesellschaftsverträge als diejenigen über Vereine enthalten überall kein Verbot und keine Beschränkung, welche hier Anwendung finden könnte. Ich bin daher nach dem Grundsatze: ›Was nicht verboten ist, ist erlaubt‹ nicht zweifelhaft, daß eine solche Assoziation nach den damaligen Gesetzen erlaubt ist.

Ferner hat die Mehrheit des Collegiums dem Gutachten des Gewerbe Rathes beigestimmt, welches dahin geht, daß das Geschäft dieser Assoziation ein Gewerbe sey. Dieser Ansicht kann ich aber nicht beistimmen. Zu einem Gewerbe gehören zwey Theile, namentlich beim gewerbsweisen Verkauf ein Käufer und ein Verkäufer in verschiedenen Personen. Hier ist Verkäufer und Käufer eine Person, denn der Verkäufer representiert die Gesellschaft und sein Geschäft ist, wenn er auch Remuneration erhält, zwar ein Erwerb, wie der eines Commis oder Beamten, aber kein Gewerbe. Der Käufer ist wieder nur als Gesellschaft Mitglied, als solcher zugelassen. Ferner ist der Zweck der Gesellschaft nicht Gewinn von außen, sondern Ersparung unter sich selbst. Bei den Assoziationen einiger Professionen zu gemeinschaftlicher Anschaffung der Materialien zu ihrem Gewerbe hat der Gewerbe Rath diese Grundsätze anerkannt, welche folgerichtig auch bei der Assoziation für Lebensmittel Platz ergreifen müssen. Denn die Nützlichkeit- und Bedürfnisfrage, welche der Gewerbe Rath hier am unrechten Orte eingemischt, kann auf die folgerichtige Anwendung eines Rechts Prinzips nicht von Einfluß sein, eben so wenig, als die Behauptung, daß der Verkauf direkt oder indirekt an solche Personen geschehe, welche dem Vereine nicht angehören. Denn hier kann nur die Rede sein von einem Geschäftsbetriebe, welcher den vom Vereine angegebenen Grundsätzen entspricht. Etwaige Überschreitungen sind besonders anzuzeigen und zu verfolgen.

Wohl aber ist die Nützlichkeit- und Bedürfnisfrage entscheidend, wenn es sich darum handelt, ob auf Seiten der Gesetzgebung Veranlassung vorliege, mit neuen und abändernden Bestimmungen einzuschreiten. In dieser Beziehung bin ich mit den Ansichten meiner Kollegen und des Gewerbe Rathes dahin einverstanden, daß eine dergleichen Assoziation, wenn sie nach den angenommenen Grundsätzen durchgeführt werde, für das Gewerbewesen des Ortes nur höchst verderblich werden müsse, und daher zu wünschen sey, daß durch die Gesetzgebung die nötigen Schranken gezogen werden.«

Nachdem die Abschriften den Akten beigeheftet, die Briefe unterwegs sind, ruht sich der Bürgermeister noch einen Tag aus. Er sitzt untätig in der Veranda und läßt sich von den Strahlen der Herbstsonne erwärmen, die den Garten und die Windstille mild durchglühn. Jeder Atemzug dieser Herbstluft macht ihn wehmütig. Er klingelt, der Diener kommt, Brunner bestellt ihm Kognak und Zigarren. Damit vertreibt er Wehmut, verlorene Lust und die Sorge des Amtes, bis das Mittagessen ihn an den Tisch ruft.

Nachdem er mit gutem Appetit seine magere Krankenkost gegessen hat, läßt er sich den Kaffee wieder in der Veranda servieren und nützt die noch schönen Stunden, indem er im Garten spazierengeht. Als die Sonne sinkt und aus der Tiefe des Gartens der Nebel aufsteigt, geht er ins Haus. Auf dem kurzen Weg hat er in Gedanken einen Schlußstrich unter die Fritzsche-Sache gesetzt. Es ist ihm, als höre er durch die Stille des Abends die Maschinen rumoren und sähe die Tausende von Arbeitern in den Fabriken stehen. Er hört seinen Namen aussprechen, von Mund zu Mund wird er weitergegeben, inmitten des Tosens der Webstühle, der Druckmaschinen und der Strumpfwirkereien. Es hat ihm eigentlich nie so klar vor Augen gestanden, daß dort ein anderes Eilenburg lebt, das durch die neue Sache von seiner Kraft zeugt.

Als Herr Brunner ins Haus kommt, ist die Vesper hergerichtet. Mit starkem Rum würzt er den heißen Tee, streicht sich den Zwieback mit Honig und neuem Brombeermus.

Der Sekretär kommt mit einem wichtigen Schreiben. Er gibt die Unterschrift, ohne die drei Seiten durchzulesen, es ist eine alte Grundstücksache. Herr Brunner ruht aus. Gegen acht Uhr meldet der Diener Herrn Neer. Herr Brunner hat nun keine Lust, heute schon von den Dingen zu hören, die ihn morgen erwarten. Wiederum, ein Gast ist ihm zum Essen angenehm und er könnte ja Herrn Neer zu einer Partie Schach einladen.

Herr Neer wird hereingebeten; er sieht das Essen im Nebenzimmer unter den Kerzen leuchten und entschuldigt sich, will sich zurückziehen. Doch Herr Brunner bittet:

»Leisten Sie mir doch Gesellschaft! Frau und Kinder sind heute und morgen nach Torgau. Ich bin allein!«

Herr Neer nimmt an und Herr Brunner stellt geschickt die geschäftlichen Dinge mit einem Kognak zurück. Dann fragt er nach seiner Familie. Herr Neer äußert sich sehr zufrieden.

»Sagen Sie mal, Herr Neer, wie geht es denn Ihrer Tochter Agathe? Ich erinnere mich ihrer temperamentvollen Äußerungen und ihres lebendigen Wesens. Leider hab ich sie nicht mehr gesehen! War sie nicht schon so um die Zwanzig?«

»Neunzehn, Herr Bürgermeister, aber, sie ist viel älter, als ihre Jahre. Wir hatten sie für ein halbes Jahr nach Barmen getan. Seit einiger Zeit nun ist sie in Montreux. Ihre Nachrichten sind so begeisternd, daß wir nicht übel Lust haben, im nächsten Frühjahr hinzureisen. Leider sind die Aussichten für unsere größeren Pläne von einer Sache abhängig, über die ich mit Ihnen reden möchte. Die Lebensmittelassoziation ...«

»Lieber Herr Neer, einen Augenblick noch! Ich sah in der Parzelle an Ihrem Hause gegenüber einen jungen Mann mit merkwürdigen Arbeiten beschäftigt. Ich habe verschiedentlich mit ihm gesprochen, – interessanter Kerl! Haben Sie die Parzelle von ihm jetzt gekauft?«

»Gewiß, Herr Bürgermeister, seine Mutter hat sie mir, zwar sehr teuer, doch überlassen. Er ist nach Amerika gereist. Gottlob, die Sorge bin ich auf einen Tag losgeworden.«

»Darf man fragen, welche Sorge Sie um den jungen Zöckler hatten?« fragt der Bürgermeister und lauert über sein Teeglas in das schmale Gesicht des Kaufherrn.

»Ähhh, wegen der Parzelle natürlich; hätte doch nicht haben wollen, daß mir grade der Schmiedssohn vielleicht auch noch eine lärmende Werkstatt vor die Nase setzte!« sagt zögernd Herr Neer.

»Warum denn grade der junge Zöckler nicht? Ob nun der oder ein anderer ...«

»Sie werden doch wohl wissen, Herr Bürgermeister, daß dieser Paul Zöckler geistiger Urheber der Fritzsche-Sache ist, über die ich gern mit Ihnen gesprochen hätte, Herr Brunner!«

»Einen Moment noch, Herr Neer, dann steh ich zu Ihrer Verfügung! Vielleicht weiß ich noch mehr, wie Sie! Es dürfte Ihnen nicht unbekannt sein, daß ein gewisses Fräulein Agathe Neer korrespondierendes Mitglied eines revolutionären Zirkels ist, dessen Häupter sowohl in Zürich, als in London, wie auch in Paris und Amsterdam sitzen. Durch einen Zufall ist der politischen Behörde ein Brief in der Korrespondenz eines berüchtigten Schriftstellers auf diesem Gebiete in die Finger gefallen, auf Grund dessen eine Nachfrage an den Bürgermeister der Stadt Eilenburg über die Persönlichkeit der jungen Dame einlief. Ein anderes Mitglied ist der Schmied Zöckler, der sich gegenwärtig in England aufhält. Ich möchte Sie fragen, ob Sie mit einer Ehe zwischen den jungen Leuten rechnen? Gegebenenfalls bitte ich Sie um Direktiven, die ich bei dieser delikaten Sache nicht entbehren kann.«

Bürgermeister Brunner wartet auf Antwort. Er setzt umständlich eine Zigarre in Brand und wartet. Herr Neer steht auf und sagt sehr betont:

»Entschuldigen Sie. Dies trifft mich zwar nicht ganz unvorbereitet. Ich muß gestehen, der Aufenthalt meiner Tochter in Barmen hatte verschiedene unbeaufsichtigte Reisen nach Köln zur Folge und daraus erwuchs die Bekanntschaft mit den Schriftstellern. Doch nun liegt eine halbe Welt zwischen Köln und Montreux. Wir haben dafür gesorgt, daß unsere Tochter streng an die ihr vorgeschriebenen Studien gehalten wird!«

»Daraus kann ich noch nicht entnehmen, wie Sie zu einer Verbindung mit den jungen Leuten stehen! Für unsere Regierung steht der Begriff revolutionäre Umtriebe einmal fest. Ich habe nicht nach Recht oder Unrecht zu forschen, sondern Befehle auszuführen. Wenn Ihre Tochter sich mit Assoziationen, in denen sich Arbeiter organisieren, abgibt, so ist sie dem Gesetz verfallen. Ihre Rückkehr ins Elternhaus gleicht der Verhaftung. Es wäre eine andere Sache, wenn Sie, Herr Neer, als Vater dekretieren, daß es sich um Studien handelt und Ihrem zukünftigen Schwiegersohn eine bürgerlich einwandfreie Position schafften; denn, soviel weiß die Behörde auch, die Bestrebungen der jungen Leute erstrecken sich nicht allein auf wissenschaftliche Arbeiten. Soviel könnten Sie, als Vater dieser temperamentvollen jungen Dame, wohl wissen!«

»So, Herr Bürgermeister, und der Klatsch der Straße? Es wird erzählt, ich hätte den Zöckler angestiftet, diese Lebensmittelgenossenschaft zu gründen, um alleiniger Lieferant zu werden, um alle Kleinkaufleute an Viktualien auszuschalten und ihm dafür das ganze Geschäft zu übertragen. Herr Bürgermeister! Meine Ehre als Kaufmann fordert, daß ich das Schild meines Hauses reinhalte!«

»Und in welchem Sinn soll ich den Bericht abfassen?«

Herr Neer antwortet mit leiser, jedoch fester Stimme:

»In Anbetracht dessen, daß ich nur eine Geschäftsehre, jedoch vier Töchter habe, versichere ich Ihnen, daß ich meine Tochter lieber in den Händen des Staatsanwalts und vor den Schranken des Gerichts, als in den Klauen des Schmiedsohnes, vor dem Standesamt, sähe. Ich opfere meine Tochter. Herr Bürgermeister, der Staat kann sich auf mich verlassen, sowie ich mich in jeder Beziehung auf den Staat verlasse!«

Die Aufwartefrau meldet sich.

»Darf ich zum Essen bitten, Herr Neer?« Da der Bürgermeister keine Frage mehr stellt, nimmt auch Herr Neer schweigend das Essen ein. Dann bittet der Gastgeber um eine Partie Schach. Zuerst rauchen sie eine Zigarre, inzwischen erzählt Herr Neer von seinem Besuch in Merseburg.

»Sie waren auf der Regierung, Herr Neer!«

»Gewiß, Herr Bürgermeister, doch auf den Schreibstuben erfuhr ich nicht viel. Um so mehr mußte ich den Herren erzählen, als wir uns am Abend bei einer Flasche Wein trafen. Denken Sie, Herr Bürgermeister, von den vielen Merseburger Herren war nicht einer, der sich auch nur erinnerte, daß bei uns in Eilenburg durch die Fritzsche-Leute ein Kampf auf Leben und Tod besteht. Wohin, glauben Sie, daß mich die Herren verwiesen haben? Ans Finanzministerium in Berlin! Wir könnten dort erreichen, daß der Verein unter die Steuer genommen werde. Herr Bürgermeister, was ist die Steuer für die Fritzsche-Leute? Gar nichts! Herr Bürgermeister, was sollen wir tun?«

Herr Brunner hat, auf die Gefahr hin, unhöflich zu erscheinen, die Gläser mit Rum gefüllt. Er räuspert sich und besänftigt den noch von der Erkältung rauhen Hals. Er sagt leichtherziger, als es der peinlichen Sachlage entspricht:

»Lieber Herr Neer, die Königliche Regierung hat auf den Fortschritt ein wachsames Auge, sie überwacht in selbsteigenem Interesse nicht nur die politischen, sondern auch die kommerziellen Dinge. Nun hat sie einmal den Industrien nicht verboten, Maschinen in ihren Räumen aufzustellen und ein Heer von Webern brotlos zu machen. Ganze Gewerbezweige sind dem Verderb anheimgefallen und unser blühender Handwerkerstand verdorrt, stirbt aus, wenn die Entwicklung so weitergeht. Die alten Handwerker können nicht in den Fabriken als Maschinenarbeiter verwendet werden, sie haben zum Teil sich ihres Erbe und ihrer Werkstätten zur Fristung des Lebens entäußert, sozusagen aufgegessen und stehen in ihrem Alter brotlos da. Die Söhne der Handwerker gehen als Arbeiter in die Fabriken. Dieser Vorgang hat sich unter den Augen der Regierung abgespielt. Doch sie hat jede Einmischung abgelehnt. Die alten Handwerker leben nicht ewig, in einer Generation sind sie vergessen. Die neuen Arbeiter werden sich zu wehren wissen. Da muß die Regierung loyal sein. Das ist die neue Zeit, die neue Verhältnisse bringt.«

»Dann empfehlen Sie uns also, getreu dem Beispiel der Handwerker, unsere Söhne in die Fabriken zu schicken, unser Eigentum aufzuessen und dann sich dem Hungertod zu übergeben? Herr Bürgermeister, das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Sie können mit einer einzigen Unterschrift diese Verwaltungsfrage lösen!«

»Nein, es ist eine Machtfrage, die wird nicht mit Tinte gelöst!«

»Das ist unser Todesurteil!« sagt Herr Neer. Seine Stimme wird hart und entschlossen: »Da sind wir also auf uns selbst angewiesen?«

»Werter Herr Neer! Die Zeiten ändern sich. Die Maschinen haben über die Hände gesiegt, die Organisation über die Tradition. Wenn jetzt die Eisenbahn nach Eilenburg kommt, soll ich sie, der Fuhrhalter wegen, verbieten? Was werden die Fuhrhalter tun? Maschinisten auf den Lokomotiven werden? Nie! Sie werden zurück aufs Land gehen, woher sie gekommen, sie werden unter dem höllischen Hohngebrause der Lokomotiven aussterben. Die Führer der Lokomotiven und Eisenbahnen werden die Schlosser und Schmiede sein, – nie die Fuhrleute. Wenn die Assoziationen überall aufkommen, werden sie von Kaufleuten eingerichtet? Nein, aber von denen, die in ihrem Kopf den neuen Plan aufgebaut haben!«

Der Bürgermeister sieht den Kaufmann an, der sich wie ein Gegner benimmt; er preßt seine schmalen Lippen zusammen und kann zu den Worten, die der Bürgermeister kalt und klar, wie eine Feststellung einer längst erkannten Tatsache, ausspricht, keine Entgegnung finden. Herr Brunner hat noch immer das Wort von der eigenen Hilfe im Ohr; Herr Neer scheint nicht mehr darauf zurückzukommen. Da hilft der Bürgermeister ihm aus seiner Verlegenheit:

»Und was gedenken Sie zu tun?«

»Das kann ich allein nicht sagen, es hängt von der gesamten Kaufmannschaft ab, denn die gesamte Kaufmannschaft ist bedrängt. Sie wissen wohl auch nicht, daß Herr Fritzsche das Eilenburger Geld nach Magdeburg, nach Delitzsch und nach Leipzig trägt und daß kein Eilenburger Großhändler an die Assoziation liefern kann? Da muß der Magistrat ein Machtwort sprechen, denken Sie, die Konsumtion für 300 Familien! Selbst Fleisch holen sie vom Lande!«

»Sie vergessen, Herr Neer, zu sagen, warum Fritzsche nach auswärts gehen und kaufen muß! Der Eilenburger Großhandel boykottiert ihn. Was tun die Kleinkaufleute? Sie verweigern den Fritzsche-Leuten die Abgabe der in ihrem Laden vorrätigen Artikel: ebenfalls organisierter Boykott! 300 Familien konnten für ihr Geld in Eilenburger Läden nichts kaufen! Dadurch wurden die Hausierer nach hier gezogen und überschwemmten die Stadt mit den nötigen und unnötigen Waren. Wer hatte den Schaden? Die Kaufmannschaft, deren Läden tatsächlich kein Käufer mehr nahte. So sah die Selbsthilfe Ihrer Freunde aus. Sie arbeitete für Fritzsche und wandte sich gegen die Urheber.«

Herr Neer sieht Herrn Brunner in die Augen und sagt mit verhaltener Empörung: »Die Fritzsche-Leute haben einen glänzenden Vertreter in Ihnen! Wie sollen wir dagegen ankommen!«

»Mit Taten, Herr Neer, mit Taten! Für Sie, mein Freund, ist die Stunde gekommen! Retten Sie die Ehre der Kaufmannschaft! Retten Sie die Ehre der Stadt! Und nicht zuletzt auch die Ehre Ihrer Familie! Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Lassen Sie Ihre Tochter und Herrn Zöckler zurückkommen! Lassen Sie die jungen Leute heiraten! Der Effekt: das Volk von Eilenburg behält recht, wenn es sagt, die Genossenschaft für Lebensmittel ist von einem Abenteurer, einem Emporkömmling, ins Leben gerufen worden. Seht, er heiratet die Tochter des größten Feindes der Assoziation! Er hat einen amerikanischen Bluff gemacht, um uns Dumme mit seinen scheinrevolutionären Reden der Regierung ans Messer zu liefern. Er hat seinen Freund Fritzsche verraten, Vogel, Stolle und Wagner. Das Volk wird sich von der Vereinigung wieder abwenden. Die alten, guten Verhältnisse kehren zurück. Herr Neer, bedenken Sie, was für uns alle auf dem Spiel steht! In Ihrer Hand liegt die Entscheidung!«

Herr Neer antwortet nicht darauf. Herr Brunner klopft aufs Schachbrett und sagt:

»Wollen wir nicht ein Spielchen zwischen diesen Vorschlag und die Antwort legen?«

Der Bürgermeister hält die Figuren hinter dem Rücken:

»Wählen Sie, rechts oder links?« »Rechts, Herr Bürgermeister!« Sie setzen ihre Figuren auf. Sie spielen.

Herr Neer gewinnt und gibt Herrn Brunner Revanche. Sie spielen, bis die alte Hausuhr elf schlägt. Herr Brunner hat noch kein Spiel gewonnen. Er schiebt das Schachbrett zur Seite und gießt die Kognakgläser wieder voll. Dann stößt er mit seinem freundschaftlichen Gegner an und möchte, daß dieser sich zu seinem Vorschlag äußert. Herr Neer aber schweigt.

»Überlegen Sie es sich gut!« sagt der Bürgermeister und lehnt sich in den Sessel zurück. Dann spricht er, als rede er mit sich selber: »Taten müssen es sein, nur Taten ändern die Dinge! Unsere Feinde begannen mit einer Tat und so gerieten wir in die denkbar schlechteste Verteidigung. Wer sind denn unsere Feinde? Es sind bettelarme Handwerker und schlechtgelöhnte Arbeiter. Hoffnungslos sahen sie ihr schwerverdientes Geld in die Kaufmannsläden hineinfließen. Sie hatten keine Macht, weder den Preis der Ware, noch ihr Quantum zu bestimmen. Sie haben nicht wegen der schlechten Löhne und hohen Preise an den Magistrat petitioniert, obgleich ihnen der Weg offen stand. Die Regierung hätte es gern gesehen, wenn die Arbeiterschaft zu ihr das Vertrauen gehabt hätte, – leider war das nicht der Fall! Anstatt aussichtslose Beschwerden abzufassen, haben sie eine Idee ausgearbeitet. Sie müssen einmal das Programm der Arbeiterverbrüderung lesen! Ideen, mit denen sie in 100 Jahren nicht fertig werden können, – man muß staunen! Wo ist die Idee der Kaufmannschaft! Sie will Geld verdienen, – das ist keine Idee.

Herr Brunner gießt noch einen Kognak ein und präsentiert ihn.

»Sehr wohl! Ihr Wohl! Herr Bürgermeister!« sagt Herr Neer und sieht ihm über das Glas in die Augen.

Herr Brunner trinkt und läutet den Diener heran. Dieser hat die Laterne schon gerichtet und hängt Herrn Neer den schweren Regenrock um. Dann verabschiedet sich Herr Neer, der Diener begleitet ihn bis an seine Villa.

Als er zurückkommt, fragt ihn Herr Brunner:

»Auf den Straßen nichts Auffälliges?«

»Nein, Herr Brunner, sondern nur, – bei Herrn Neer war das ganze Haus erleuchtet, – einige Herren empfingen ihn mit großer Erwartung an der Haustüre!«

»Gut! Keine verdächtigen Personen auf der Straße bemerkt?«

»Nichts, Herr!«

»So, dann kannst du schlafen gehen! Gute Nacht!«

Herr Brunner schreitet langsam durch das Zimmer und schüttelt den Kopf:

»Warum so wenig Vertrauen zu mir, Freund Neer, warum haben Sie mich nicht eingeladen, warum blieben Sie zum Schach? Sie konnten mir doch sagen: Bedaure, ich habe die Herren Röber und Konsorten zu Hause sitzen!«


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