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Neuntes Kapitel

Das Haus des Großhändlers Neer leuchtet beim Beginn der Dunkelheit mit allen Fenstern in den Garten hinaus; breitkronige Blutbuchen, wohlgewachsene Linden und Gesträuch ziehen einen schützenden Wall gegen die Stadt. Hart und drohend sperrt eine eisengegitterte Mauer das Eigentum ab. Nun wird das eiserne Pförtchen von einem Herrn aufgezogen, hinter dem eine zierliche Dame wartend einen Augenblick verweilt. Der Herr bietet der Dame den Arm, geht mit ihr über den beleuchteten, weißglänzenden Kiesweg in die weitoffene Pforte. Eine dienende Frau nimmt den Hut des Herrn und löst die Mantille vom Hals der Besucherin. Ein junges Dienstmädchen sieht bereit und führt das Paar mit ehrerbietigem Gruß in das Empfangszimmer. Sie sehen gleich in das große Wohnzimmer hinein, in dem Herr Neer mit seiner Familie sitzt.

Das Ehepaar Neer sieht auf, um den Schwager, Herrn Fabrikanten Rüschenbach, zu begrüßen, die Kinder rufen, ohne den Kopf aufzuheben, »Guten Abend« und gleich beugen sich die Neuangekommenen über den Tisch, auf dem Mappen mit Zeichnungen, Alben mit Steindrucken, Stahlstichen und sonstigen Gravüren liegen.

»O Tante Sabine, o Onkel Luzius! Das müßt ihr sehen, es sind die Schätze, die die Eltern von der Reise mitbrachten!«

»Das muß man sehen!« sagt Onkel Luzius und blättert die Mappe nach vorn zurück, um alle Zeichnungen zu betrachten.

»Lieb seid ihr aber nicht!« sagt Mutter Neer, »ihr könnt die Bilder immer noch sehn! Wenn ihr doch Raum geben wolltet! Tante Sabine ..«

»Ach, Mutter, warum habt ihr uns die Bilder bis jetzt vorenthalten? Haben wir Kinder nicht das erste Anrecht darauf? Wenn ihr uns schon nicht mit auf die Reise genommen habt, wollen wir wenigstens sehen, wie die Welt auf dem Papier aussieht!« Agathe mault:

»Warum habt ihr bloß Bauwerke zeichnen lassen? Ich dachte, ihr brächtet die lustigen und bunten Volkstypen mit, wie ich sie bei Buchhändlers sah. Du willst doch keine Architektursammlung!«

»Kind! Wie unbotmäßig! Was haben die drei Monate, in denen deine Mutter nicht hier war, aus dir gemacht!«

»Drei Monate ist eine lange Zeit!« sagt Agathe und hockt sich in die Ecke des Sofas, »im übrigen ist der deutsche Wald mir lieber, der Wald ....«

»Frau von Rauchhaupt! Herr von Rauchhaupt! Willkommen in unserm bescheidenen Hause!« begrüßt Herr Neer das Landratsehepaar, das soeben eintritt, »haben Sie eine gute Fahrt gehabt?«

»Wunderbare Fahrt! Sommerabend, flinke Pferde! Segen der Landwirtschaft auf Feld und Flur, fleißige Leute im Muldetal! Stadtleute wie Sie tun mir immer leid!« sagt der Landrat.

»Die Schönheit einer kleinen Kreisstadt verzieht sich in Industrie, Manufaktur und Commerz; anstatt Altertümer: neue Maschinen, anstatt Idylle: Arbeit; anstatt Traulichkeit der Enge: weltweiter Umschlag in Kattun und Strümpfen!« lacht Herr Neer: »Ha! Schönheit, Herr Landrat, Schönheit gibt es nur in klassischen Gefilden: Paris, Venedig, Madrid! Außerdem brauchen die Südlandskinder freudig gefärbte und bedruckte Stoffe; die drei Monate haben sich ästhetisch, und ich glaube, auch kommerziell rentiert.«

»Gräßlich, diese Kaufleute! Es ist grade, als wenn wir bei der Ausübung des Jagdvergnügens an den Geldwert von Hirsch und Rehbock dächten!« sagt der Landrat bewundernd und pikiert zugleich. »Da sieht man, wie die Zeiten sich geändert haben!«

»Jawohl, Herr Landrat, die veränderten Zeiten zwingen uns, das Angenehme mit dem Nützlichen in weit größerem Ausmaß zu verbinden, als jemals!« sagt der Handelsherr verbindlich und stolz.

»Ich nehme Sie beim Wort!« Der Landrat beugt sich ans Ohr des Herrn Neer und sagt leiser: »Darf ich Sie bitten, einige öffentliche Dinge im stillen mit mir zu besprechen? In fünf Minuten sind wir fertig!«

»Aber selbstverständlich, Herr Landrat!« Herr Neer erhebt sich und weist auf die gegenüberliegende Tür: »Durch das Damenzimmer, rechts im Flur, erste Tür, mein Privatkonto!« Herr Neer folgt dem Landrat.

Die beiden Frauen sehen den Männern nach.

»Ist was Schlimmes passiert?« fragt Frau Neer.

»Was kann passieren?« sagt Frau Landrat sorglos.

»Die schlimmen Zelten sind Gottlob vorbei!« flüstert Frau Neer.

Der Apotheker kommt, der Pastor, die beiden Herren vom Gericht, kollegial auch hier. Sie begrüßen die Anwesenden, lassen sich von Frau Neer einige Zeichnungen erklären und kehren an die Tür zurück. Sie begrüßen die Neuankommenden, Herrn Bürgermeister Brunner, den Ringofenziegeleibesitzer Schulte vorm Walde, Eltern, Söhne, Töchter.

Frau Neer schätzt mit einem Blick, daß ungefähr die sechzehn Personen zusammen sind. Der Herr Pastor fühlt sich als Fachmann, er steht am Tisch und beginnt einen Vortrag über die mittelalterlichen Bauten in Rom. Das ist so interessant, daß selbst der eben aus dem Privatkontor gekommene Landrat zuhören muß. Frau Neer erhebt ihre Augen zum Ausgang, da späht die Aufwartefrau, die auf das Zeichen für die Küche wartet. Man darf Herrn Pastor nicht unterbrechen! Frau Neer wartet schmerzlich auf das Ende der Erläuterungen, denn die Suppe steht bereit. Ein Glück, daß gerade Herr Neer, ohne zu sehen, was da vor sich geht, aus dem Damenzimmer kommt und in die Hände klatscht:

»Wenn ich bitten darf, Frau, so sorge..« Der Pastor bricht seine Rede ab, Herr Neer entschuldigt sich, doch, schon macht der Herr Pastor der Frau des Landrats eine Verbeugung und führt sie, hinter Herrn Neer her, zum Speisezimmer.

Die Tischkarten, groß und klar beschrieben, erleichtern es den Gästen, ihre Plätze zu finden. Sogleich bedient Herr Neer Frau Landrat mit Rheinwein, hellrotem Rüdesheimer, den er noch mit Mineralwasser bekömmlicher macht. Ihre Gesundheit ist zart; Frau v. Rauchhaupt hat fast nie richtigen Hunger, drum muß sie sich zum Essen leicht anregen.

Dann wird die Suppe gereicht, Herr Neer reibt die schmalen Hände und sagt wie entschuldigend:

»Herr Pastor, darf ich Sie bitten, ein recht inniges Tischgebet zu sprechen. Seit drei Monaten lebten wir unter den wilden Heiden in Gasthöfen und Pensionen.« Der Pastor spricht den Psalm Davids von der Fruchtbarkeit der Felder, der Öl- und Weinberge, spricht den letzten Vers, zu Herrn Neer gewendet: »Und vom Fette der Erde mögst Du gesegnet sein!«

Die goldgelbe Hühnersuppe ist gegessen. Kaum sind die Teller abgenommen, klopft der Hausherr ans Glas.

»Fürchten Sie nicht, meine Gastfreunde, daß ich Ihnen mit einer langen Tischrede zur Last falle; es freut mich herzlich, daß ich Sie wieder um mich sehe, und ich danke Ihnen, daß Sie mir diese Freude machen. An der Table d'hôte saßen wir ziemlich einsam, zwischen ekelhaften Globetrottern und enthusiastischen Kunstfreunden; nun freuen wir uns, meine Frau und ich, daß Sie uns das Vergnügen Ihrer Gegenwart schenken! Ihr Wohl, meine Damen! Meine Herren, Ihr Wohl!«

Eine Riesenplatte, Hahn und Hühner, wird aufgetragen.

Allgemeines Anstoßen und Zutrinken, Geklinge der Gläser, stumme Dienstbereitschaft der Mädchen.

»Schade, daß Sie diesen Hahn nicht haben krähen hören, Herr Landrat!«

Freundlich, wie immer, wendet er sich an den Freund: »Er begann um 4 Uhr sein Tagewerk, darum mußte er dran glauben! Er hielt die ganze Nachbarschaft wach!«

»Wetter, ja!« nickte der Landrat zustimmend. »Unverschämt! Hätte auch Todesstrafe plädiert!«

Frau Neer läßt sich vom Pastor nachträglich über die Katakomben belehren; als er den Aufstieg der Christusreligion zur Kirche an Hand dieser Baudenkmale und den Niedergang des römischen Staates schildert, kann sich der Assessor nicht verkneifen, diesen Weg der Kirche mit dem Aufstieg Preußens in eine Parallele zu bringen. Der Apotheker muß schnell einen Witz erzählen, damit der Herr Pastor nicht auf diesen Einwurf eingeht.

»Die Kirche hat sich auch großgehungert!« sagt der Pastor und zeigt damit, daß er den Berliner Assessor wohl verstanden hat.

Die älteste Tochter Neers, Agathe, die rechts von ihm sitzt, lacht mehr, als es der Mutter angenehm ist; ihr linker Tischherr, der Apotheker, erzählt die drolligen Äußerungen seines Vierjährigen. Der Vater freut sich, daß Agathe fröhlich ist. Seine befriedigte Stimmung schlägt sofort um, als er vom Apotheker das Wort »Assoziation« hört. Er sieht in Agathes Gesicht. Ihre Augen blicken verträumt und verschwärmt. Sie antwortet dem Apotheker, deutlich hört es Herr Neer: »Amerika.« Da spricht Herr Neer zum Apotheker hinüber:

»Herr Nachbar, ich glaube, es nistet sich in unserm Eilenburg eine neue Art Ratten ein. Sie verschonen, wie ich höre, auch mein Haus nicht. Sie müssen ein neues Gift mischen, damit wir diese Plage loswerden, ehe sie sich für immer einnistet!«

»Sie meinen eine Dosis Anti-Assoziation?«

»Genau das«, sagt Herr Neer grimmig; Agathe duckt den Kopf, als suche sie etwas unter dem Tisch. Sie schluckt und weint, wischt sich die Augen, stieht auf und will zu einer der Schwestern.

»Setz dich, Agathe! Ich wollte eine neue Geschichte erzählen! Vielmehr über ein Kochrezept berichten. Ein französischer Marquis empfahl es seinem Freunde: Man nehme ein Spanferkel ...!«

Da unterbricht Agathe den Vater:

»Vater, ich kenne die Assozisten, es sind brave Leute, und wenn du so davon sprichst, dann soll einem ja angst und bange werden, es ist ja nur ein Scherz von dir, aber er schneidet mir in die Seele!« Agathe steht aufrecht hinter ihrem Stuhl, sieht, wie ihre erregten Worte den Vater zornig machen. Sie hört die Mutter beschwichtigend dem Vater zureden. Sie weiß nicht, soll sie davonrennen oder sich wieder hinsetzen.

Da spricht der Vater:

»Setze dich! Zur Sache: Spanferkel! Hab ich gesagt, a propos, Spanferkel. Also man nehme eine Olive, entferne den Kern und tue ein Nachtigallenherz hinein, diese Olive kommt in das Hirn eines Hasen, welches als Füllung eines Krammetsvogels dient. Der Krammetsvogel muß in ein Rebhuhn und dies wiederum in eine Poularde gesteckt werden. Die Poularde tut man in eine junge Ente und das Ganze wird in das Innere eines Spanferkels gefüllt, welches nach allen Regeln der Kunst Brillat-Savarin langsam dünsten muß. Als Gewürz lasse man einen jüdischen Koch dreimal darüber hauchen. Dann entnimmt man dem Spanferkel die Ente, schäle die Poularde heraus, entferne das Rebhuhn und lege den Krammetsvogel an die Seite. Nachdem man durch das Hasenhirn, welches so weich geblieben ist, daß man es wegblasen kann, an die Olive kommt serviere man diese als Gemüse, das Herz als Fleisch und esse es am Morgen als Erstes, da, mit man den möglichst höchsten Genuß hat, der von keiner andern Speise getrübt werden darf.«

»Und wo bleibt das Ferkel? Die Poularde, die Ente? Das Rebhuhn?« fragt Agathe Neer den Vater.

»Das bekommt die Jagdmeute, denn es ist weder ein Essen für Herren, noch für Dienstboten, für die einen zu schlecht«, erläutert Herr Neer, »für die andern zu aufreizend.«

Im allgemeinen Disput über andere Schlemmereien hat niemand bemerkt, daß Fräulein Agathe den Kopf über den Teller gebeugt hält und die Ellenbogen, gegen Sitte und Gebrauch, höher gezogen hat, als es sich gehört. Die sorgliche Mutter schickt eine alte Aufwärterin zu ihr, sie möge ihre sonderbare Haltung ändern. Kaum hat Agathe die geflüsterten Worte gehört, da springt sie auf, stampft mit dem Fuß und sieht mit ihren zornfunkelnden Augen den Vater, die Mutter, die Herren und Damen an, die Tränen rinnen ihr noch über ihre Wangen. Sie faßt sich mit ihrer ganzen Kraft zur Stille, dann sagt sie, anfänglich leise und gepreßt:

»Und darüber könnt ihr so herzlich lachen! Es ist eine Gemeinheit und eine fürchterliche Blasphemie, mit Nahrungsmitteln so infam umzugehen! In einer Zeit, wo so viele und so arme Menschen nicht wissen, woher sie schwarzes Brot bekommen, lacht ihr über solche sündhafte Verschwendung! Ich bin empört! Ich weiß mich vor Empörung nicht zu lassen! Diese hassenswerte und verdammenswerte Schlemmerei verstehe ich wohl von diesen entarteten Menschen, aber, den Hunden vorwerfen, weil es ...«

Ein neuer Tränensturz erstickt diese fast herausgeschrienen Worte. Agathe dreht sich auf dem Fuß um und geht. Schon steht ihr Vater auf, legt den Arm um ihre Schulter und begütigt die Aufgeregte:

»Aber, liebes Kind, das ist doch mehr als 50 Jahre her! Das ist ja eine Geschichte, die nur erzählt wird, vielleicht ist sie gar nicht einmal wahr! Sie wird nur erzählt, um die Verderbnis der französischen Sitten zu schildern. Bitte, beruhige dich und iß weiter! Dein gutes Herz ehrt dich, aber es hat dich diese Geschichte mißverstehen lassen! Komm, sei vernünftig, großes Kind, laß dir unsere weitaus bescheidenere Tafel munden!«

»Ich bin beruhigt! Vater! Aber ich esse nicht weiter. Ihr und Sie alle haben so herzlich über die Geschichte gelacht. Fühlten Sie nicht, wie das ganze Menschengeschlecht durch diese Handlung und auch – über das Gelächter beleidigt ist. Eher geh ich zu den Diakonissinnen, ehe ich das Volk so verachten lerne, das arme Volk, das kaum trocknes Brot für alle Arbeiter hat. Nicht vor 50 Jahren, nein, vor zwei, drei Jahren, da war eine so bittere Hungersnot – anstatt den Leuten Brot zu geben, hat man die Bürger gegen die Armen bewaffnet und jetzt, jetzt kämpft ihr gegen die Assozisten!«

»Aber Agathe, Agathe, was soll das hier! Was soll das heißen? Bist du krank?« Über die Tochter zu den Gästen gewandt, reckt der Vater sich auf und sagt: »Entschuldigen Sie, ich führe meine Tochter, die von einem Fieber befallen sein muß, in die Obhut der Kinderfrau!«

Frau Neer hält die Serviette vors Gesicht und schluchzt. Frau Bürgermeister Brunner tröstet sie:

»Laßt es gut sein, Base, sind so Zufälle, die sich aus dem Wachstum ergeben! Kennen wir alle, die Krankheit des Idealismus!«

»Ganz recht, sie geht mit dem Wachstum schon wieder vorüber!« pflichtet der Apotheker bei, während der Pastor aufsteht und sich bei Frau Neer die Erlaubnis holt, mit dem Kinde einige seelsorgerischen Worte zu wechseln. Frau Neer nickt, der Vater kommt zurück und lächelt:

»Nichts von Belang, meine Freunde, sorgen Sie sich so wenig, wie ich es tue, Herr Pastor, lassen Sie sich nicht unterbrechen. Nach dem Kaffee ist es noch Zeit, das heißt, wenn sie dann nicht schon schläft.«

»Es liegt immer noch so was in der Luft von 48«, meint der Bürgermeister Brunner, »nicht wahr, Herr Richter: die Jugend hat den idealistischen Schwarm noch immer nicht ganz abgestoßen, zum Beispiel die Studenten ...«

»Es ist gefährlich, wenn die Jugend im Idealismus stecken bleibt!« sagt der Richter. »In der gebildeten Jugend hängt so was länger nach, weil in Liedern und Gedichten die Sache verherrlicht wird. Wenn man aus Dichtern Märtyrer macht, so folgt ihnen die Jugend noch lange. Jugend muß eben etwas zum Schwärmen haben!«

»Bis sie in den Stand der heiligen Ehe tritt und die eigenen Sorgen, die Sachen des sogenannten Volkes, vergessen machen«, sagt der Apotheker, »was wir eben sahen, sind nichts als Nachwehen einer Zeit, die man auf einer Seite die große, auf der andern die peinliche nennt. A propos, Sie hätten doch Ihre Tochter Agathe mitnehmen sollen! Reisen lenkt ab!«

»Ja, da haben Sie recht. Doch nehmen Sie Gebäck, Frau Landrat! Ich habe mit Schmerzen gesehen, daß Sie von allem nur soviel nahmen, wie ein Schwalbenjunges braucht, um satt zu werden. Vielleicht ein Glas Milch? Anstatt Kaffee, Schokolade?«

»Ach, Herr Neer, ich bin wirklich nicht hungrig und die geistige Nahrung befriedigt mich mehr; wenn man so alleine auf dem Lande wohnt, nur die ›Gartenlaube‹ hat, nur die Romanzeitung und das Novellenblatt, – Herr Neer, der Geist prickelt mir angenehmer im Kopf als dem Sekttrinker das kostbare Naß auf der Zunge. Wenn die Herren vom Idealismus reden und der Jugend, stundenlang könnte man überm Zuhören die leibliche Atzung vergessen!«

»Soo? Soo?« sagt der Landrat, »Frau, nun hab ich doch zufällig in einer deiner Zeitschriften ein Gedicht gelesen, das heißt: ›An das Landleben‹. Ich vergesse es nie, es fing so an: ›Wunderseliger Mann, welcher der Stadt entfloh!‹ Na ja, wenn die Dichter das Landleben besingen, dann bist du doch an der Quelle der Kunst, da darfst du dich doch nicht beklagen!«

»Bravo, ich will nicht ungalant sein, Frau Landrat«, der Assessor macht eine Verbeugung, »da hat doch die Droste-Hülshoff die schönsten Gedichte vom Land geschrieben. Früher, da kannte man doch noch gar kein Naturgedicht, nun dichten sie alle Natur. Das heißt, wenn sie keine politischen Lieder verbrechen. Sie sind tatsächlich an der Quelle, die Gottesnatur, so nennt man die landwirtschaftliche Gegend jetzt!«

»Na, was willst du mehr!« sagt Herr Landrat zu seiner Gattin und niemand kann sagen, ob er es spöttisch oder ernst meint.

Nach dem Essen verteilen sich die Herrschaften, die Damen gehn wieder in den Salon, die Herren trinken im Privatkontor einen Kognak. Über den Möbeln schwebt bald der blaue Dunst der Zigarren, die Kerzen auf dem Schreibtisch erhellen nur die Hälfte des großen Raumes. Der Bürgermeister hat mit dem Landrat ein paar Worte gesprochen, da sagt der Apotheker:

»Meine Herren, es ist doch keine Privatsache, reden Sie frisch von der Leber weg, – Herr Neer ist noch nicht ganz im Bilde, denn heute Nachmittag erst bewies uns ein Menschenauflauf, wie recht die Skeptiker und Pessimisten haben!«

»Ich bin soweit wohl informiert, daß die Fritzschesache mehr als ein Bluff ist!« sagt der Handelsherr Neer.

Der Bürgermeister ist etwas erregt, er lehnt an einem Schrank und spricht:

»Ich hab mich vom Wachtmeister Hanisch unterrichten lassen. Über hundert Menschen standen in der Töpfergasse und wollten alle bei der Assoziation eingeschrieben werden. Mit fünfzig, so wird gesagt, haben sie angefangen; ich muß, wenn das so weitergeht, diese Ansammlungen zerstreuen lassen. Tu ich es, so macht das wie ein Lauffeuer die Runde, und das Interesse für die Sache des Fritzsche wird noch größer!«

»Die Assoziationsfrage muß vor ein ordentliches Gericht kommen!« meint der Assessor, »wer klagt?«

Herr von Rauchhaupt, der Landrat zu Delitzsch, steht auf und kippt den Kognak hinunter, stellt sich in die Mitte des Raumes und sagt fest und energisch:

»Ich werde mit diesen Kriegskassen der Demokratie fertig, so oder so! Nur nicht aus Angst und Mißtrauen die Leute auf die Schlingen, die ihnen das Gesetz legt, aufmerksam machen oder sie davor hüten. Ruhe soll sein und Ordnung, dafür sind wir da! Bisher haben wir uns bewährt, meine Herren Richter, Sie auch! Wer aus der Reihe tanzt, wie dieser Fritzsche, dem werden wir den Weg weisen! Verflucht, daß wir uns einen so schönen Abend verderben müssen um diese Assozisten!«

Herr Neer öffnet Herrn von Rauchhaupt die Tür, sie gehen rangmäßig, der Stellung nach, hinaus: der blaue Qualm zieht hinter ihnen her.

Die Herren kommen in den Salon, die jüngeren Kinder Neer sind schon zu Bett, der Tisch mit den Zeichnungen liegt in friedlicher Unordnung. Der Pastor sieht seine Frau in eifriger Unterhaltung mit Frau Apotheker, Frau von Rauchhaupt sieht auf und drückt der Gastgeberin herzlich beide Hände: »Leider müssen wir nach Delitzsch zurück, ich komme einmal am Nachmittag zu Ihnen, dann haben wir mehr Zeit!«

Herr Landrat grüßt militärisch, knapp und kurz. Herr Neer geleitet das Ehepaar hinaus. Er steht noch einige Augenblicke am Schlag des Wagens und wünscht eine gute Heimfahrt. Der Wagen rollt davon, verschwindet in der Dunkelheit.

Herr Neer geht nicht sogleich ins Haus, er geht in den Garten hinterm Haus, sieht auf die Burg und den klaren Sternenhimmel, der den Frieden der Sommernacht über die Erde gießt. Herr Neer wendet die Augen zur Fassade seines Hauses, sieht in Agathens Zimmer noch Licht; er preßt den schon schmalen Mund noch fester, seine langen, beweglichen Hände lösen sich voneinander; sie waren, solange er keinen klaren Gedanken fassen konnte, in reibender Beschäftigung ineinander verkrallt.

Vom Fenster des Tochterzimmers geht Herr Neers Blick wie auf ein Gedankenkommando zum Garten hinaus; er sieht auf die Parzelle, die er zur Erweiterung des Gemüsegartens braucht. Der Eigner dieses Stückes ist der Schmiedssohn. Er legt einen Augenblick die Rechte vor die Augen, er erinnert sich der Verhandlungen mit dem Agenten Kanitzky. In Gedanken sieht er Agathe und diesen jungen Mann zusammenstehen: »Der Verführer!« zischt er durch die Zähne. Mit einem energischen Schritt stößt Herr Neer vor, – er erinnert sich der Szene im vergangenen März. Agathe erzählt, wie der Sohn des Schmiedes sie zufällig aus großer Gefahr gerettet hat. Wildgewordenes Pferd, umgekippter Wagen, die Tante, der Meierhof! Ha! Dieser Schmied! Außerdem soll er der intellektuelle Urheber der Assoziation sein. Er ist ja aus Amerika gekommen, dem bankrotten Vater bei der Ordnung seiner Schulden zu helfen; aus Rache und Haß gründete er mit diesem Fritzsche die Assoziation.

Herr Neer geht, wie ein Soldat vorm Schilderhaus, zehn Schritt her, zehn Schritt hin. Seine Agathe, diese zierliche, seine, etwas altkluge und frühreife Tochter, und dieser grobe Schmied, den selbst Amerika ausgestoßen hat. Sicher ist er ein Anarchist, den die Behörden dort ausgewiesen; wer kommt sonst aus Amerika ohne Vermögen heim? Nur ein Anarchist ist außerstande, in diesem Land kein Geld zu erwerben.

Herr Neer bläst Luft durch die schmalen Lippen. Nein, Agathe muß fort! Es ist Herrn Neers fester Entschluß. Sie bekommt zuerst Stubenarrest, bis die Beziehungen zu dem Kerl und der Demokratie geklärt sind. Dann kommt sie nach Barmen zum Bruder.

Mit leisen Schritten geht Herr Neer zu seiner Tochter hinauf. Sie liegt im Bett, der Kopf ruht auf dem Arm, die Kerze brennt auf dem Nachttisch, ein Buch liegt auf dem Boden. Er nimmt es auf, blickt hinein, sieht mit Blei dünne Striche gezogen, ließt am Rande den Namen: »Werner« geschrieben. Herr Neer ließt mit steigender Neugier die eingeklammerte, unterstrichene Zeile: ,› Verwendet der Vater nicht jährlich einen wesentlichen Teil seines Handelsgewinnes zur Verschönerung der Zimmer? Diese seidenen Tapeten, die englischen Mobilien, sind die nicht auch unnütz?

Herr Neer atmet hart über das Buch her, wendet es und liest den Titel:

Wilhelm Meister
von Johann Wolfgang v. Goethe.

Wieder blättert er, findet eine neue Seite angestrichen, findet wieder den Namen Werner und wieder angestrichen die Zellen:

Es gehört schon etwas dazu, wenn ein einziger Mensch klug und reich werden will und meistens wird er es auf Unkosten der Anderen.‹

Nun liest er noch einen Satz, liest ihn zweimal: › Löblicher als Besitz und Gut an die Armen zu geben, ist: Sich für sie als Verwalter betragen. Dies ist der Sinn der Worte, Besitz und Gemeingut.

Nun entdeckt Herr Neer, daß ganz hauchdünn der Name ›Fritzsche‹ gekritzelt; er muß die Seite hart an den Kerzenschein halten, seine Hand zittert vor Wut und Grimm. Er bläst ununterbrochen Luft durch die schmalen Lippen, er ist willens, Agathe zu wecken, sie zur Verantwortung zu ziehen, doch er beherrscht sich und geht, das Buch wie eine Pistole auf die Tochter gehalten, rückwärts zur Tür hinaus.

Kaum hat er die Tür geschlossen, hebt sich Agathe aus den Kissen, nimmt aus dem Nachttisch einige Blätter, faltet sie zusammen und steht auf. Neben dem Fenster hängt ein frommes Bild, sie nimmt es von der Wand, schiebt hinter dem losen Pappdeckel die Blätter hinein und hängt es wieder auf. Dann sieht sie hinunter in den Garten. Ihre kleinen Fäuste ballen sich, ihr trotziger Mund flüstert: »Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten, rufet die Arme der Götter herbei!«

»Ihr Götter« wiederholt sie und breitet die Arme gegen die Sterne.

Da hört sie Schritte auf dem Flur; sind es die Schritte der Mutter? Sie schlüpft ins Bett, legt ihren Kopf auf den Arm, atmet langsam und tief, hebt die Augen noch einmal in das Licht der Kerze, dann wird die Tür geöffnet.

Die alte Wartefrau tritt ein, geht ans Bett, sieht auf die Schlafende und bläst das Licht aus. Dann verschwindet sie, wie sie gekommen ist.

Herr Neer kommt lächelnd in den Salon. Er preist die duftige Nachtluft, die ihn verlockt hat, in den Garten zu gehen, in den deutschen Garten, in dem richtige Bäume wachsen, nicht das Palmen- und Piniengewächs des Südens, diese Friedhofsbäume, die Zypressen. Wenn er nicht seine Besuche bei den Handelshäusern gehabt hätte, seine geschäftlichen Absichten, er wäre aus Heimweh nach Hause gekommen.

Am andern Tag ist Herr Neer pünktlich um 8 Uhr in seinem Privatkontor. Er hat Anweisung gegeben, ihn nur in den dringendsten Fällen zu stören. Gleich um 8 ¼ Uhr wird Herr Schmidt gemeldet. Wortlos legt Herr Schmidt ein Schriftstück vor, welches mit vielen Unterschriften versehen ist.

Herr Neer liest den Brief durch, legt ihn auf den Tisch, überlegt eine Zeitlang; dann steht er auf und bietet Herrn Schmidt einen Stuhl an. Mit dem Brief geht er ins Nebenzimmer, läßt den Sekretär eine Abschrift machen und geht wieder zurück: »Alles sehr richtig und klar!« sagt Herr Neer und fügt seine Unterschrift zwischen Herrn Hauffes und Kieswetters Namen bei: Ludwig Neer. Er gibt Herrn Schmidt das Dokument zurück und sagt leutselig:

»Es geht um Kopf und Kragen, Herr Schmidt. Sagen Sie, welche Gedanken machen sich unsere Kleinhändler im allgemeinen über die politische Seite der Sache?« Herr Schmidt ist sehr erregt.

»Es ist nicht unsre Kompetenz, über diese Seite zu urteilen, es wäre dringend angezeigt, die Behörde schlüssig zu machen. Hier ist Gefahr im Verzuge, – läuft die Maschine des Herrn Fritzsche einmal richtig und die höhere Instanz spricht kein Machtwort, dann schaffen wir die nicht mehr aus der Welt! Wie urteilt Herr Neer?«

»Ich fühle mich gleichfalls nicht kompetent, mit meinem Urteil Hoffnungen zu wecken. Wenn der Gewerberat zusammentritt, wird er sein Urteil einer kleineren Öffentlichkeit wohl nicht vorenthalten. Ich habe mir die Zeitungen der letzten Monate holen lassen. Da, Herr Schmidt, sehen Sie selbst!«

Herr Neer blättert in dem Stoß ›Eilenburger Volksblatt‹ herum und weist auf die rot angestrichenen Stellen:

»Artikel, nichts als Artikel über den Zusammenschluß der Handwerker zu Assoziationen und Vorschläge zur Errichtung einer Gewerbehalle! Das hätten Sie doch verfolgen sollen!«

»O, Herr Neer, wir haben sie verfolgt und haben uns berichten lassen von der Uneinigkeit untereinander; es hat doch niemand daran gedacht, daß diese Sache einmal auf Lebensmittel hinaus, lief und sich die Arbeiter daran beteiligten. Das deutsche Erbübel der Uneinigkeit steckt dem Volk im Blut, sagte Herr Roeber, solange die Handwerker gründen, kann nichts passieren; er aber rechnete nicht mit den Arbeitern. Sie sollen einmal sehen, wie voll die Töpfergasse steht, als wäre das Kalb mit den zwei Köpfen umsonst zu sehen!«

»Herr Schmidt, rechnen Sie denn nicht die Arbeiter zum Volk? Werden die sich nicht auch uneins? Am Ende schlagen sie sich die Köpfe ein!«

»Geb Gott, daß es so wird!« sagt Herr Schmidt und macht eine Verbeugung. »Verzeihung, ich muß noch einmal zu Herrn Hauffe und Lorenz zurück, dann trag ich das Schriftstück zum Magistrat. Empfehlung an Frau Gemahlin, Adieu!«

»Gruß an Herrn Lorenz, Empfehlung an die Herren Roeber! Adieu!« Der hastige Schmidt verschwindet.

»Wenn sie von selbst nicht uneins werden, die Arbeiter, dann muß man sie uneins machen!« sagt sich Herr Neer und denkt nach. Wer anders als Paule kann die Person sein, die sie auf die revolutionären Stellen in »Wilhelm Meister« aufmerksam gemacht hat? Es gehört doch eine große Portion Verderbnis dazu, dem Vater die englischen Möbel und die guten Tapeten vorzuwerfen und das Ideal für den weisen Menschen, den Goethe da schilderte, in diesem Fritzsche zu sehen!

Neer will es genau so machen: er will ihr die Geschichte des alten Fritz geben, das Schicksal dieses ungehorsamen Sohnes mit doppelter Kreide anstreichen, rot und blau. Er wird, solange Agathe nicht bereut, mit ihr nur noch schriftlich verkehren. Die Dichter sollen für ihn mit ihrer Autorität Erziehungsmittel sein. Es ist ein schwieriger Fall. Von ihm, dem Vater, kann Agathe unmöglich die Veranlagung haben. Von der Mutter? Nein, ausgeschlossen! In beiden Familien war so etwas nicht vorgekommen.

Aus diesen traurigen Gedanken reißt ihn der Besuch des Agenten Kanitzky. Dieser weiß eine Menge über den Fritzsche und die Sache zu erzählen; er erzählt so interessiert, daß er bei Herrn Neer in Verdacht gerät, gemeinsame Sache mit diesen Verbrechern zu haben.

»Geht so etwas vielleicht aus meinen Antworten hervor?« fragt Kanitzky auf den Vorwurf des Paktierens mit dem Feind. »Herr Neer, ich muß notgedrungen mit Herrn Fritzsche verkehren! Mein Beruf als Vermittler bringt das mit sich! Ich habe mit ihm gesprochen, ich war bei ihm im Haus, so muß mir wohl von seinem Wesen etwas anhängen, wie nach einem Spaziergang im Walde man den Duft der Tannen mit sich in die Stadt trägt.«

»Ums Himmels willen! Kanitzky! Sind Sie betrunken? Woher kommt die Poesie, am Ende auch durch den Verkehr mit dem Herrn Buchbindermeister; a propos, ist der Mann vielleicht Idealist?«

»Herr Neer, wohin denken Sie! Er ist ein klardenkender Handwerksmann, der aus Überlegung handelt und nichts mit Idealismus zu tun hat. »Es ist eine rein ökonomische Angelegenheit, die die Verzehrer unter sich ordnen!« sagt er, »wir gewinnen zweimal, zuerst, indem wir bei den Produzenten einkaufen und den Großhändler umgehen, zu zweit, indem wir die Waren verteilen und den Gewinn der Kleinhändler in die Tasche stecken! Ist das Idealismus, Herr Neer? Ich mein, das sind Tatsachen!«

»Er soll persönlich nichts dabei verdienen? Er macht es für die Mitglieder umsonst? Er bekommt keinen Lohn für seine Tätigkeit?« fragt Herr Neer. »Das nennen Sie nicht ideal? Ich wollte, ich hätte solchen Geschäftsführer!«

»Er bekommt ein Prozent vom Umsatz!«

»Ich wollte, auch ich könnte meine Vorsteher mit einem Prozent entlohnen! Das ist doch gefährlicher Idealismus!« sagt Herr Neer.

»Ich weiß nicht, was Herr Neer mit dem Idealismus hat. Wenn jedermann Herrn Neer seine Dienste umsonst zur Verfügung stellen wollte, wär' das auch Idealismus?« widerspricht Herr Kanitzky.

»Das ist etwas ganz anderes, wir sind auch ein ordentliches Geschäft!« belehrt ihn Herr Neer mit Nachdruck.


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