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Viertes Kapitel

Fritzsche spürt die Sonnenwärme des frühen Märztages im Gesicht. Er spürt ein neues Wehen, es ist wirklich ein neuer Frühlingsanfang in Aussicht. Das arme Volk, ganz ohne Erb und Eigen, schafft sich ein eigenes Werk. Das Volk wird wieder ehrlich an sich selber. Seine Begeisterung läßt auch nicht nach, als er den Doktor nicht antrifft. Fritzsche geht weiter, geht nach Haus. Er will diese Gedanken sammeln. Wenn er nur nicht die Musterkarten zu machen hätte! Die Gedanken sind ihm heute wertvoller, als die Arbeit und das Verdienst.

»Heda! Fritzsche!« ruft da eine Stimme. Das ist der Schuster, der Meister Gottfried Stolle. Sie haben vor einigen Tagen die brüderliche Vereinigung der Schuhmacher gegründet. Er sieht aus dem Fenster und winkt dem Kollegen zu. Als er in der Türe steht, flüstert der Schuster: »Komm mit herunter!«

Sie gehen durch den Flur und gehen in die Werkstatt hinab. Das Fenster liegt noch ein wenig tiefer unter der Kante der Straße. Sie sehen von jedem, der vorübergehl, nur die Beine. Es genügt ja für einen Schuster, wenn er nur die Beine sieht. Sie verraten ihm mehr als das Gesicht. Nun sehen sie die Röcke einer Frau. Der Schuster grinst:

»Mein Weib geht da! Sie meint, ich wäre wieder zur Badergasse! Da hat's gestern fast eine Rauferei gegeben. Die Schuhmacher hatten natürlich auch die Gerber eingeladen, weil sie doch einmal alle von der Lederzunft sind. Nun waren wir als brüderliche Vereinigung bedacht, uns gegenseitig zu helfen. Wir sind an die fünfzig Mann und die Lohgerber nur ein Dutzend – na, was wollten sie? Sie wollten in die Satzungen der Verbrüderung wörtlich den Paragraphen: Die Verbrüderung wird unter Konventionalstrafe verpflichtet, ihren Lederbedarf nur bei den Eilenburger Gerbern zu decken.«

»Das könnt euch Gerbern so passen, wenn wir euch ein Monopol verschafften, hab ich gesagt und hab darüber abstimmen lassen! Das war ein Krach! Mit 50 Stimmen gegen 12 lehnte die Verbrüderung das ab. Selbstverständlich! Da machten uns die Gerber den Vorwurf, wir wollten die Brüder Gerber samt und sonder bankrott machen und ruinieren! Ich habe selbstverständlich gesagt, daß die Gerber bisher nie ein gutes Stück Leder auf Lager behalten hätten, nur den Abfall, der sei auch von den einzelnen Schuhmachern nicht gekauft worden. Sie würden auch fernerhin kein gutes Stück Leder am Lager behalten, wenn sie Brauchbares an Ware zu annehmbaren Preisen verkauften. Sie wollen sich beim Magistrat und bei der Regierung beschweren. Ich sagte es ihnen immer wieder, sie müssen sich als Gerber zusammenschließen, um billigen Großeinkauf für Lohe und Häute zu erzielen. Das scheint ihnen nicht wichtig genug zu sein. Wir haben uns doch auch zusammengeschlossen, nicht, um unsre Produkte teurer zu verkaufen, sondern nur, um sie billiger abzusetzen, damit wir mehr zu schaffen bekommen. Wir haben ihnen gesagt, daß wir eine ganze Musterkollektion bester, billiger Gebrauchsschuhe genossenschaftlich machen wollen. Mit diesen ziehen wir dann im Land um, auf alle Jahrmärkte und Messen, nach Leipzig und Halle. Wenn wir erst für das Land Sachsen arbeiten können, und nicht nur für die Stadt Eilenburg, dann haben wir, Meister und Gesellen, genügend Arbeit. Es ist doch so einfach; wenn wir Schuhmacher nichts zu tun haben, haben die Gerber auch nichts zu tun. Wenn wir viel Arbeit haben, hat der Gerber auch viel Arbeit. Wir bekommen nur viel Arbeit, wenn wir billiger arbeiten. Wenn wir den Gerbern mehr Arbeit geben, müssen sie auch billiger liefern: sagt mal Meister Buchbinder, ist das so schwer zu verstehen?«

Fritzsche versteht das natürlich sofort. Der Schuster redet weiter: »Das Gesetz vom 9. Februar gibt uns Gewerberäte und eine neue Zunftordnung, gibt uns Prüfungen für Lehrlinge und Gesellen, aber, was das Gesetz und der Staat niemals geben kann, das ist Arbeit und Brot!«

Meister Fritzsche denkt an nichts anderes, als an dies Wort und sagt zu Meister Stolle:

»Schuhmacher! Ihr und Eure Leute wißt, was eine Assoziation ist. Vorläufig suchen wir Handwerker uns gegenseitig zu halten und zu stützen, aber das Mittel der einzelnen Handwerkerassoziationen ist noch unvollkommen!«

»Das sagt Ihr?« Der Schuhmacher springt von seinem Schemel auf:

»Nie werdet Ihr mich und uns von der Lederassoziation abbringen! Wenn wir uns richtig zusammenschließen, so können wir auch billiger arbeiten!« Der Schuster, klein und gebückt, hat sich aufgereckt und grellt die in Hast und Grimm gesprochenen Worte dem Buchbinder ins Gesicht. Der Buchbinder sieht seinem Kollegen Schuhmacher ganz fest in die Augen und sagt ganz langsam:

»In unserer Handwerkerassoziation handelt es sich um die Forthilfe und Verbesserung des Lebensstandes für eine kleine Gruppe, für eine kleine Anzahl von Leuten, in einem einzelnen Gewerbezweig. Nun sagt mal, Bruder Schuhmacher: wo fehlt es dem Volk? Etwa an Schuhen? Und wo fehlt es Euch? An Leder? Oder fehlt es nur an den Schuhmachern und Gerbern? Oder fehlt es auch an andern Leuten, an etwas anderem? Ich will Euch sagen, es fehlt an Brot! Wir müssen etwas tun, was wir direkt am Brotschrank spüren können. Nicht nur dem Schuhmacher und dem Buchbinder, sondern allen, dem ganzen Volk, fehlt das Brot. Wenn ich aber Brot sage, so meine ich Viktualien, die wichtigsten Lebensmittel, all die Waren, die jedermann im Volk braucht, der Mann, das Weib, die Kinder, Handwerker, Arbeiter, ja selbst die Bettler, die ganz Armen. Vornehmlich die, die schwer schaffen, sie brauchen als Rohmaterial für die Herstellung ihrer Lebens- und Arbeitskraft: Brot, Viktualien; sie brauchen jeden Tag Grütze, Fleisch, Öl, Schmalz, Fett. Auf den Verbrauch dieser Viktualien ist der ganze Welthandel gegründet, steht der Staat und die Armee, Thron und Altar, die Schulen und Akademien, die Fabriken und Werkstätten, das Gewerbe und jegliches Handwerk. Alle Bestrebungen des Menschen gehen darauf hinaus, für seine Arbeit und Tätigkeit möglich viel und billig Viktualien zu erwerben, damit er wieder Viktualien in Arbeit umsetzen kann. Ich lege mir die Frage vor: Essen wir, um zu arbeiten, oder arbeiten wir, um zu essen? Ich frage Euch, Schuster, strengt mal Euren Kopf an, antwortet, was dünkt Euch?«

Der Schuster hat sich wegen der langen Rede des Kollegen wieder auf den Schemel gesetzt. Nun legt er den Finger an die Nase. Dann sagt er belustigt:

»Aha! Wir arbeiten, um zu essen! Ha! Ha! Ha! Ha! Selbstverständlich! Wenn wir zu essen hätten, brauchten wir nicht zu arbeiten!«

»Guter Freund Schuster! Seht, da müssen wir dies als Grundlage betrachten, das Essen, und nicht die Arbeit. Also eine Assoziation schaffen, die uns möglichst viel und gutes Essen für wenig Geld schafft.«

Der Schuhmacher schüttelt den Kopf, als stäche ihn eine Wespe in die Nase, wischt sich mit der Hand über die Stirn, und kratzt sich hinterm Ohr. Jetzt geht er langsam in der kleinen Werkstatt hin und her und sieht den Buchbinder an, als zweifle er an seinem Verstand. Da er aber weiß, daß der Buchbinder weder betrunken ist, noch im Moment verrückt geworden sein kann, schweigt er vorläufig. Sein Gehen wird immer schneller, er hat die Idee entdeckt, wie sie vor seinen Gedanken herfliegt, er kommt ins Rennen, hastig läuft er hin und her, tritt die gestickten und ungestickten Schuhe, die ihm an die Füße kommen, zur Seite, bleibt stehen, ballt die Fäuste, brabbelt etwas vor sich hin und geht wieder langsam auf und ab. Nun setzt er sich auf seinen Schusterschemel, stützt die Arme auf den Tisch, hält den Kopf in den Händen, knauelt den Bart zwischen den Fingern und versinkt ins Grübeln. Der Buchbinder sieht zum Fenster hinaus. Endlich steht der Schuster auf, stellt sich vor den Buchbinder hin und spuckt auf den Boden. Ganz langsam beginnt er:

»Alle zwei Jahre braucht der Mensch ein Paar Schuh, alle fünf Jahre einen Anzug, alle dreißig Jahre ein Haus, Möbel und Gerät. Brot und Viktualien alle Tage, jeden Tag, immerzu, Klein und Groß, alt und jung, reich und arm. Ja, wer viel hat, gibt viel aus. Aber ausgeben tut jeder, selbst der Bettelmann. Ist es gewaltig, dies zu wissen? Nein, das weiß jeder. Warum haltet Ihr mir dafür eine lange Rede? Warum begreif ich das nicht? Weil es zu simpel ist. Ja, wohl, gewiß, Freund Buchbinder! Da geh ich Hornochse hin und halte es für weltbewegend, wenn ich dem Arbeitsmann alle zwei Jahre für einige Groschen billigere Schuh verschaffen kann. O, ich Schuster! Erst gibt der Arbeitsmann hunderte von Talern aus für Viktualien, dann erst kommen meine Anderthalbtalerschuh! Dafür sollen wir uns angestrengt haben? Gewiß, es handelt sich einmal nicht um die anderthalb Groschen, sondern um die vielen Hundert Taler im Jahr!« Plötzlich macht er einen Sprung, der kleine Schuster, als hätte er auf eine Schlange getreten. »Hu! Ha!« Unter lauten Ausrufen schlägt er auf den Tisch: »Buchbinder! Da sind auch meine hunderte von Talern im Jahr dabei! Meine und eure und die von Gevatter Schneider und Handschuhmacher! Langsam wird es hell in meinem Schädel. Ihr meint also, wir gründen eine Assoziation, die bei den Viktualien beginnt?« Der Schuhmacher geht zum Buchbinder hin und sieht ihm in die Augen.

»Genau das mein ich, Bruder Schuhmacher. Genau das und nichts anderes. Was wir vor allen Dingen gründen müssen, ist eine Lebensmittelassoziation! Eine Genossenschaft für billigen Bezug von Lebensmitteln!«

Der Schuhmacher klopft sich auf seinen Schädel.

»Ja, was ist das? Gibt es so was?«

»Der Paule Zöckler ist aus Amerika nach Haus gekommen und dort, wo er war, in Boston, da gibt es solch eine Vereinigung. Wir müssen zuerst auch eine gründen. Geht, Bruder Schuhmacher, sprecht davon zu euren Kollegen!«

»Ja! Werd ich tun«, sagt Stolle. »Doch eins, geht der Verein nicht den Händlern ans Fell?«

»Aber, darum geht doch die Welt nicht unter?« fährt der Buchbinder zornig auf. »Sind die Maschinen in den Webereien und Druckereien nicht auch unseren Kollegen ans Fell gegangen? Wer hat sich darum gekümmert? Sollen die Armen aus den Fabriken die Händler weiter satt füttern? Es geht doch um das Brot von 10 000 Arbeitern, was soll da der Kaviar von 130 Krämern?« Fritzsche sieht zur Tür hin. »Fritzsche, was seh ich? Ihr wollt schon gehen? Es ist ja doch Abend, da schafft Ihr nicht mehr viel!«

»Ich will noch zum Schneidermeister Bürmann, der muß darüber bei den Schneidern sprechen. Denn jeder einzelne und alle sind nötig! Adjees, Stolle!« Der Buchbinder geht. Fritzsche steigt langsam die Treppe hinauf, hebt mit dem Schritt die Schulter, als müsse er einen Sack heben, so schwer ist ihm die Last seiner luftigen Idee geworden, die der Schmiedspaule auf seine Schultern gelegt hat. Sie drückt ihn wie eine Verantwortung, wie ein Amt; er geht auf die Straße, sieht noch einmal in die Schusterstube, dort sitzt der Schuster und hält den Kopf in den Händen, er denkt nach. Er fühlt, auch in ihm wird das Brot lebendig, dies Brot, das der Friede ist, die Freude, die Eintracht. Er kommt sich vor, wie ein Gesandter des Schicksals.


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