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Drittes Kapitel

»Heraus aus dieser Stadt. Muß mal ins Freie, muß wieder mal an die Mulde gehn, muß einmal durch die Felder laufen. Mir ist, als hielte unsre alte deutsche Erde nicht mehr zusammen. Was ist das nun einmal mit unserm Vaterland, was ist es nun mit Deutschland? Heimatlos in der Heimat – so kommen mir die Kollegen vor. Eine erbärmliche Armut in all dem Reichtum! Diesen Mangel in all der Fülle! Wer kein Eigentum hat, der giert danach, wer Erb und Eigen besitzt, wird unter der Last erdrückt! Der Besitz gehört nicht dem Eigentümer, der Eigentümer besitzt es nicht. Es ist, als ob alles Gut in die falschen Hände geraten ist. Mir kommt vor, als wenn wirklich das Geld regiere und keinen Deutschen mehr kenne. Da müßte der Staat zupacken und den Deutschen in sein altes Recht einsetzen; ich will mal in den Wald gehn und die Bäume fragen. Es ist alles so eng in Eilenburg, ich muß die Felder sehn. So viel Elend auf einem so kleinen Fleck, nein das gibt es in Amerika nicht! Da kann der Mann dem Elend entrinnen. Hier, hier rennt er nur ins Elend hinein!« Denkt Paule, und seine schweren Schritte klopfen über das Pflaster hin, wie auf einer Flucht.

Nachdem Paule bis zur Dunkelheit in den Muldewiesen umhergelaufen ist, setzt er sich zu Haus an den Tisch und schreibt seinem Freunde. Er bittet ihn um 1000 Dollar, er schickt ihm den Schein für die Papiere, sobald er mit den Gläubigern seines Vaters abgerechnet hat. Am selben Abend geht er zu Kanitzky, sie fahren am nächsten Tag zu einer Bank in Leipzig, die endlich in einer Liste die amerikanische Bank findet und auch die Werke, die für die Anteile haften. Die Bank gibt ihm ein Schreiben mit, dieses legt er den Geldleuten als Beweis vor, daß sie in einigen Monaten ihr Kapital wieder bekommen. Paule läßt den Agenten nicht los, er muß mit ihm zu den Wucherern; die freuen sich schon auf das Land, welches sie bei der Versteigerung für ein paar Taler schlucken können. Der Kanitzky hat es ihnen sozusagen versprochen und nun muß derselbe Kanitzky kommen und ihnen sagen, daß sie nicht das Land, sondern ihr Geld bekommen. Nun sind sie drei Tage über Land gewesen, was Paule gewollt hat, ist durchgesetzt.

Vorläufig ist er diese Last und Sorge los. Jetzt erst beklagt sich der Agent über die Feindseligkeit der Mutter Zöckler; er sei gar nicht so, daß er es mit den Geldleuten hielte. Er verstände es zwar auf seine Art, mit den reichen Wölfen zu heulen, das gehöre zu seinem Handwerk.

Paule glaubt ihm das nicht recht. Immerhin: Er weiß besser als seine Mutter, daß Geschäft eben Geschäft ist, und daß der Makler der Hohepriester zwischen dem Götzen Mammon und dem armen Volk ist.

Nun gehen sie durch die Felder heim. Die Wege sind schlecht, drum laufen sie am Ackerrand vorbei. Als sie schon wieder Eilenburg liegen sehen, müssen sie durch einen Hohlweg. Von der Stadt kommt ihnen ein Wägelchen entgegen. Ein junger Knecht muß das Pferd am Zügel führen. Tief schneiden die Räder, trotz der leichten Last, in den lehmigen Grund, der von den Bauernfuhrwerlen mit schweren Rädern zerschnitten ist. Endlich kann der Wagen nicht weiter, der Knecht muß umdrehen, nun legt sich das Gefährt so auf die Seite, daß die junge Dame, die sich krampfhaft an den Sitz hält, fast hinausfällt. Das Pferd stampft fußtief in den Wasserlachen, der Knecht kann nicht anders, er muß das Tier auf die Böschung zwingen. Unter dem Wagen sieht fußhoch der schlammige Brei. Da kommt Paule mit Kanitzky; Paule fordert den Agenten auf, ins andere Rad zu packen, doch der Agent will nicht in den Schlamm hinein. Paule springt in den Hohlweg. Er watet bis an die Knie im Schlamm. Jetzt wendet er sich dem Wägelchen zu, das jeden Augenblick umkippen muß, weil der Knecht das Pferd nicht höher auf die Böschung bekommt. Paule steht mitten im Wasser, es reicht ihm fast bis an den Saum der langen Stiefel. Er faßt das Mädchen mit seinen schmierigen Händen unter die Achseln und hebt die leichte Last hoch; er läßt sich, weil er die Stiefel nicht aus dem Schlamm bringt, auf ein Knie nieder und bekommt es so fertig, das Persönchen auf den Böschungsrand zu setzen.

»Es ist keine Hilfe da!« schreit oben auf dem Felde der Agent, »ich war bis weit im Feld, wir müssen...«

»Feiger Hund!« schrie Paule ihn an, »halte das Pferd, oder stränge das Tier ab!« Kanitzky steht immer noch auf der Böschung und äugt zu Pferd und Kutscher hin. Da gibt Paule ihm einen Schubs, daß er mitten in die gelbe Brühe springen muß. Jetzt hilft er dem Knecht, der das tanzende Tier beruhigt hat, und schon hängt er sich an das Wägelchen, das in wilden Schwüngen den Hohlweg hinauffliegt. Paule bringt das Mädchen auf den Feldrand; er säubert seine Hände im nassen Gras und beruhigt die Weinende. Unter Schluchzen und Klagen bekennt sie, daß sie ohne des Vaters Wissen ausgefahren ist, um die Tante im Meierhof zu besuchen.

Da hören sie einen Schrei. Sie wenden sich um: Kanitzky liegt lang im Schlamm, das Pferd ist mit dem Wagen durchgegangen. Der Knecht versucht, so gut es geht, das Tier zu hemmen. Nun muß das Mädchen lachen, als es die traurige Figur des Agenten auf der Böschung sieht. Paule ist ärgerlich auf den dummen Kerl und schimpft mit ihm. Der Knecht sieht mit dem Wagen am Ausgang der Schlucht, nestelt das Geschirre fest und sagt, daß die Fahrt jetzt weitergehen kann.

Das Mädchen fordert Kanitzly mitleidig auf, sich in den Wagen zu setzen und sich zur Tante fahren zu lassen, die eine Viertelstunde weit wohnt. Sie käme mit Paule nach. Der Kutscher scheint die Launen der jungen Herrin zu kennen, er hilft dem Agenten, der immer noch dienert, in den Wagen.

»Alter Herr, bilde dir nur nicht ein, es geschähe dieses aus Freundlichkeit, aus Hochachtung vor deiner Person? Um dich aus den Augen zu bekommen, trüg ich dich selbst auf dem Buckel nach Haus!« lacht Paule ihn aus.

Der Ackerbodenrand ist glatt. Paule muß den Arm um das Mädchen legen; es ist in einen weiten Kragen ohne Ärmel gehüllt. Das ist sehr unbequem, es schlägt den Mantel über die Schulter und nimmt den Arm des jungen Mannes. Es schwatzt und plaudert drauflos, während Paule sich an der hübschen Last freut. Seit er von Antwerpen wegreiste und zuletzt dort mit einem Kneipenmädel tanzte, hat er keine Frau mehr in Reichweite gesehen. Er hat sie untergefaßt, er muß sich bücken, um sie gelegentlich über Pfützen und Furchen zu heben. Eine Wolke Wohlgeruch steigt aus dem Mantel zu ihm auf. Nun sieht er, daß es wirklich eine junge Dame und kein Kind ist.

Ihr Vater ist der Handelsherr Neer, und sie heißt Agate. Sie stehen vor der Meierei. Kanitzky hat die Herrschaft bereits mit dem Vorfall bekannt gemacht, und die Tante eilt den langen, kiesbedeckten Weg hinunter. Paule muß nun, ob er will oder nicht, mit ins Haus gehen. Seine langen Stiefel und Ledermanschetten, seine braune Wolljacke sind gleich einer Visitenkarte; er ist der Fremde. Kanitzky sitzt in der Küche beim Personal, Paule wird von einer Magd in die Badestube gebeten. Ein Zuber heißes Wasser dampft. Er säubert sich; als er wieder in den Salon zur Tante kommt, sitzt das Fräulein in einem altmodischen Kleid der Tante auf dem Sofa. Der große Paule hat sich auf ein zerbrechliches Sesselchen gesetzt und muß aus einem hauchdünnen Schälchen Tee trinken. Die Tante rät ihm zu einem Likör; Paule stellt sich vor den mit venezianischen Gläsern bedeckten Tisch und das Fräulein hält ihm mit spitzen Fingern den grünen Chartreuse hin. Paule ist wie in einem Traum. Dieser spielerisch kostbare Salon, die unbeschwerten Reden, dies Lächeln, Hinschweben auf einer Welle Duft und Glanz, genießt er wie ein fremdes Abenteuer. Wie unbekannt ist diese fremde Welt, ferner als Amerika und Asien.

Die Länder sind mit Schiffen zu bereisen, doch in dieses Paradies hinein führt keine Straße, kein Wille und kein Weg. Er ist ein Verschlagener an einem Inselstrand. Erst, als er die Feuchtigkeit in den Strümpfen spürt, beobachtet er den Boden unter sich, auf dem hellen Teppich dunkeln zwei braune Flecken, aus seinen Stiefeln zieht die Nässe ab. Er wagt nicht, sich an den Sessel anzulehnen, der braune Rock könnte abfärben. Da klingelt ein Ührchen, von vergoldeten Engeln getragen, die vierte Nachmittagsstunde. Ein elfenbeingeschnitztes Figürchen hält seinen Blick fest; es ist eine Nixe, die auf einem Sonnenstrahl tanzt. Das Köpfchen ist das Gesicht des Mädchens, welches in dem Altmodekleid vor ihm sitzt. Er ist froh, als die Tante aufsteht, die Nichte in ein anderes Zimmer führt und ihn bittet, so lange zu warten, bis sie sich wieder zur Weiterfahrt fertiggemacht hat.

Paule sieht sich in dem Zimmer um. Überall schön vergoldete Möbel, Spiegel, Bilder, Schnitzereien, Bücher. Es mahnt ihn nichts an Arbeit oder nützliches Tun. Er schlägt ein Buch auf. Verse stehen darin, mit Gravüren verziert und hübschen Bildern; da sitzt ein junger Mann auf der Bank einer Rosenlaube, vor sich einen Becher Wein, er breitet die Arme nach einer Schönen aus. Der Vers, der auf der Blattseite keinen Platz mehr hat, steht unter dem Bild:

»Darum will ich trinken, solange es geht,
Bekränzt mich mit Rosen,
Und gebt mir ein Mädchen, das Küssen versteht!«

Paule geht ans Fenster, er sieht die Sonne über den Rasen leuchten. Geschnittene Taxushecken grenzen die Welt ab. Es kommt ihm der Gedanke, daß sein Leben ein böser Traum war, und daß es gar nicht echt gewesen ist mit aller Arbeit, Sorge und Mühe. Er geht an ein anderes Fenster, da liegt die große Wiese, auf dem Fahrweg sieht der Knecht mit dem Wägelchen, die junge Dame nimmt Abschied von der Tante. Paule sieht sich um, er sucht nach einer Tür. Die nächste führt in ein Schlafzimmer, er kommt in die Badestube; eine andere Tür, die mit Silbertapeten überklebt ist, hat er vorher nicht gesehn, er reißt sie auf und eilt durch einen Gang ins Freie.

»Du wolltest mir den jungen Herrn wohl hier lassen! Schelmin!«

Die Tante schilt, doch das Fräulein schlägt in gutgespielter Verwunderung die Hände zusammen:

»Ach, ich hab ihn vergessen wie meinen Schal. Tante, den Schal laß mir holen! bitte!«

Die Tante schickt ein Mädchen, inzwischen hat das Fräulein Herrn Paule gezwungen, mit einzusteigen; willenlos gehorcht er. Der Schal wird ihr noch gereicht, die Tante küßt ihre Nichte, bedankt sich bei Paule für die Hilfe und nun zieht das Pferd an. Als sie den Hügel hinauffahren, sieht Paule die Burg, die Schornsteine und das Rathaus von Eilenburg. Sie biegen in die Landstraße ein, nach einer knappen Stunde ist Paule nahe der Gasse, in der seine Eltern wohnen. Er verlangt, daß der Knecht vor der Stadt hält, das Fräulein schmollt. Sie will ihn bis an die Gasse fahren, er besteht auf seinem Willen. Er nimmt mit einer Verbeugung Abschied, dann rollt der Wagen weiter.

Paule geht gleich nach Haus. Er setzt sich in die Küche und beginnt zu essen. Die Mutter wärmt ihm vom Mittag das Gemüse, Paule hat einen unstillbaren Hunger. Erst, als er von der Mutter gedrängt wird, erzählt er vom Erfolg beim Geldbauern. Er hofft, daß es ihm gelingt, alle Zahlungen stunden zu lassen und einige Stücke Land mit Gewinn zu verkaufen. Die Mutter hört nicht auf, ihn vor dem Makler zu warnen; sie begreift nicht, daß Paule immer nur über den Agenten lacht.

»Wie Ihr nur so einen Jammerhahn ernst nehmen könnt, das kann ich nicht begreifen! Der richtige Geschäftemacher! Er heult mit allen Wölfen!«

»Und unser Geld steckt er ein!« zürnt die Mutter.

Sie will noch mehr über die Geldsache wissen. Paule lacht immer nur und sagt, daß in zwei oder drei Monaten der letzte Schuldschein zerrissen sei. Die Mutter will erklärt haben, wodurch und wovon, Paule schwört es ihr hoch und heilig. Endlich ist sie beruhigt; als Paule nun doch nach dem Abendessen wieder ausgehn will, warnt sie ihn vor Fritzsche und seinen Plänen. Nein, an Fritzsche habe er wirklich nicht gedacht, da ginge er mal gar nicht hin heute, es sei ganz ausgeschlossen, daran denke er nicht.

»Du wirst doch nicht schon verliebt sein?« fragt die Mutter mit dem dümmsten Gesicht von der Welt.

Paule wird rot. Dreht sich gegen das Licht und nestelt an seinen Stiefelstrippen, dann stürzt er zur Tür hinaus.

Die Mutter läuft an den Tisch, legt die Arme aufs Brett und fängt laut zu jammern an:

»Heimgekommen, wiederbekommen, um ihn an ein dummes Frauensmensch, an eine grüne Gans zu verlieren! Ach, wir armen Menschen!«

Nun hat es schon ein paarmal geklopft. Frau Zöckler hebt den Kopf und trocknet die Tränen, herein tritt Meister Fritzsche. Er beklagt sich, daß Paule sich nicht bei ihm sehn läßt, sie, die Mutter müsse ihm Bescheid sagen, er müsse sich um die Sache mit den Assoziationen bekümmern. Er müsse ihnen helfen.

Meister Fritzsche wundert sich, daß Frau Zöckler nun auf einmal nicht auf die Männersachen schimpft. Gewiß, sie wird ihn tüchtig anhalten, er soll sich um die Männersachen bekümmern, leider sei er ein Springinsfeld, er habe seine Gedanken nie richtig beieinander.

Dann fragt der Meister, ob er schon einmal zu ihr über die neue Sache gesprochen habe, er müsse da unbedingt helfen.

Ja, er habe in den ersten Tagen immer wieder von den Assionen oder wie die welschen Dinger hießen, gesprochen. Zuletzt habe er gesagt:

»Die Eilenburger müssen etwas machen, das ihnen direkt und gleich hilft. Die Zukunft sollten sie dem lieben Gott überlassen, aber jetzt sollten sie dafür sorgen, daß etwas zustande kam, durch das jedes arme Eilenburger Kind eine Schnitte Brot mehr zu essen bekam, etwas, das jede arme Eilenburger Familie direkt am Brotschrank spüren könne. Ja, Meister Fritzsche, vom Brot hat er gesprochen, von nichts als Brot; nicht Kredit noch sonst etwas, sondern Brot müßten die armen Leute von Eilenburg haben!«

Dann beginnt die Mutter von ihren Schulden und Lasten zu sprechen, sie ist voll Hoffnung, daß es Paule gelingt, mit den Gläubigern fertig zu werden. Nur hat Paule ihr noch nicht gesagt, woher er das Geld schaffen will. Auch heut spricht Paule nicht davon. Er will erst die Summe aus Amerika da haben, dann kann er ganze Arbeit machen. Nachdem die Mutter wieder einmal von neuem von den Schulden spricht, redet Paule mit Fritzsche über den Agenten und verschiedene Geldleute. Fritzsche hört das nur mit halbem Ohr an. Vor seinen Augen marschieren Mehlsäcke und Brotlaiber auf. Jetzt bringt er seinen Wunsch an, er fragt Paule nach der Methode, wie sie in Amerika das Brot an den Mann bringen.

Paule steht auf und wandert in der Stube her und hin.

»Ja, das war in Boston, da waren die Händler in den guten Zeiten geradezu hochmütig geworden, fühlten sich wie oberste Richter und wollten dem Volk vorschreiben, welcher Preis für Brot bezahlt werden müßte. Da machten sie – ja, das ist so eine Sache – da müssen wir erst die Mutter wegschicken. Well, Mutter, das interessiert dich doch nicht, ist eine lange Geschichte.«

»Alles was mein Jung in Amerika gesehn hat, interessiert mich; ich strick ihm derweil ein Paar Strümpfe!« Frau Zöckler kramt das Strickzeug aus und schlägt Maschen auf die Nadel.

»Sie machten eine Lebensmittelassoziation auf. Das ist eine Vereinigung von Arbeitern; sie kauft Lebensmittel im großen für die Mitglieder ein und verteilt die Waren zu angemessenem Preis. Entweder vermindern sie die Einkaufspreise und geben zu billigeren Preisen ab oder verteilen den Gewinn als Dividende. In Boston wurde der Verein vor vier Jahren gegründet, es waren zuerst kaum ein Dutzend Leute. Als ich wegfuhr, waren schon hundert solcher Vereine in einer Union zusammengeschlossen. Diese Union kauft alles bei den Produzenten selber ein. Der sogenannte Zentralagent schließt mit den Müllern Verträge zu 1000 Faß Mehl ab, mit den Farmern auf Wagenladungen von Eiern, Käse, Butter. Die Mitglieder gewinnen bei diesem System viel Geld, das heißt, sie können von ihrem Lohn viel mehr kaufen.«

»Ja, unglaublich! Echt amerikanisch! Paule, schreib alles auf, was du davon weißt! Und sag, ob wir wohl auch hier solch eine Vereinigung gründen können?«

»Warum nicht? Entweder leben wir besser oder ersparen bar Geld! Das ist für uns alle sehr nötig! Wie sollen wir in dieser schlechten Zelt mehr Einkommen schaffen? Wodurch? Unsere Arbeit können wir nicht vermehren, unsern Lohn nicht erhöhen. Wenn wir aber durch eine Lebensmittelgenossenschaft Geld ersparen, so haben wir ohne vermehrte Arbeit mehr Einkommen. Ich garantiere, daß wir es alle direkt am Brotschrank spüren können. Erst dann, wenn die Masse wirkliche Vorteile sieht, erklärt sie es für eine gute Sache, und dann tut auch sie mit! Denn es muß eine Organisation der Massen sein!«

»Paule, du wirst dich wundern: du denkst nicht an die Händler! Meinst du, die würden sich so einfach an die Seite setzen lassen? Das wird aber einen großen Streit geben!« sagt ernst die Mutter.

Paule spricht unbeirrt: »Wieviel Einwohner hat unsere Stadt?«

Fritzsche antwortet: »Fast 10 000 Seelen oder rund 2000 Familien! Das weiß ich vom Rathaus her!«

»Mutter, was verzehrt durchschnittlich eine Familie?« fragt Paule weiter.

»Das kann ich dir so nicht sagen«, sagt die Mutter.

»Ich will es einmal ausrechnen!« sagt Fritzsche, »aber es gibt viele Arbeitsleute, die mit weniger auskommen müssen, als wir verbrauchen. Nehmen wir an: wir bekommen 1000 Arbeiterfamilien mit einem Umsatz von je 50 Talern, so sind das 50 000 Taler. Bei solch großem Umsatz läßt sich billig einkaufen!«

Paule fügt hinzu:

»Ihr glaubt gar nicht, wie dann auf einmal auch in den andern Läden die Produkte billig werden! In Boston sanken binnen einer Woche die Grütze und der Reis um 10–20 Prozent!«

»Darum werdet ihr euch Feinde machen!« mahnt die Mutter. »Paule, in unser christliches Sachsen passen so heidnische Dinge nicht! Erst kam die Maschine, die hat den Handwerker arm gemacht; jetzt kommen die Arbeiter und machen mit ihrer Vereinigung die Händler arm!«

»Es ist richtig«, sagt Fritzsche, »wir Handwerker sind verarmt. Sollen nun die Händler auf Kosten von uns verarmten Handwerkern leben?«

»Was soll denn aus dem ganzen Mittelstand werden, zu dem wir doch selbst gehören«, antwortet die Mutter.

»Der Mittelstand ist lebensnotwendig für eine Nation, aber ebenso der Arbeiterstand«, meint Paule.

»Wem kommt die Ersparnis denn zugute?«

»Dem Käufer, Mutter! Jeder, der kauft, kann Mitglied werden. Das Mitglied nimmt dann, wie der Händler, die Waren aus seinem eigenen Laden. Die Genossenschaft wird beim Produzenten kaufen und später selbst produzieren!«

»Paule, laß dich warnen!« sagt die Mutter. »Wenn das wirklich so gut und richtig ist, warum haben's die Leipziger nicht schon so gemacht, oder die von Halle, oder gar die Berliner? Warum soll nun unsre Eilenburgerstadt amerikanisch werden? Paule, das gibt ein Unglück!«

»Grad in Eilenburg! Wo die Industrie ihre Feuermaschinen hingestellt, die Manufaktur ihre mechanischen Webstühle, ihre Rouleaus und Druckereien, die eisernen Pferde des Erfolges, da muß die Arbeiterschaft ihre Denkmaschine in Gang setzen, die Massen ihre Organisation! Grad hier in Eilenburg, wo der Unternehmungsgeist eine solche Industrie geschaffen hat, die aus dem kleinen Landort eine berühmte Fabrikstadt machte, hier werden auch die Arbeiter sich in die Organisation finden. Was weiß man in der Welt von Eilenburg? Vielleicht, daß der gute Rinckart hier sein berühmtes Lied »Nun danket alle Gott« gedichtet hat! Das interessiert die moderne Welt nicht, aber sie weiß, wo die besten Strümpfe gewirkt, das beste Zeug am schönsten bedruckt wird! Diese Eilenburger Arbeit findet in der großen Welt Absatz und die gute Ware macht die kleine Stadt berühmt. Grade hier kann solch eine Genossenschaft aufwachsen!

Meister Fritzsche ist aufgestanden. Er weiß nicht, was er mit seinen Händen vor lauter Begeisterung anfangen soll. Er legt sie Paule auf die Schulter, er reibt sie ineinander, er ballt sie zu Fäusten:

»Ha! Gleich anpacken möcht ich, Mutter Zöckler! Was der Paule da sagt, darauf warten wir alle! Da muß bloß einer kommen und den Anstoß geben! Nun ist das getan, ich sehe, wie diese Idee durch die Gehirne läuft und die Beine in Gang setzt: Auf! wir bauen eine Genossenschaft!«

»Meister Fritzsche, Ihr seid ja von Sinnen! Als hättet Ihr die Nachricht von einer großen Erbschaft bekommen! Was für ein großer Kindskopf Ihr seid!« Paules Mutter schüttelt mißbilligend den Kopf und spricht eifrig weiter: »Glaubt ihr denn, ich war' hier geblieben, um eure Verrücktheiten anzuhören! Anstatt, daß ihr unsere Geldsachen in Ordnung bringt, und uns von den Sorgen befreit, da ladet ihr euch noch die Sorgen von einer ganzen Stadt auf! Ich hab schon eiskalte Füße! Ich geh zu Mutter Fritzsche, daß sie einen Kaffee macht! Aha, darum wolltet ihr nicht zu den Frauen, damit ihr mit euren verrückten Ideen nicht ausgelacht werdet! Nein, auf euch Männer kann man sich schon gar nicht verlassen! Ich weiß, ich muß unsere Sache allein schaffen! Auch der Paule ist so ein Phantast geworden!«

Frau Zöckler geht wütend weg, klatscht die Tür ins Schloß und läuft die Treppe hinunter.

»Ja, die Sorgen einer ganzen Stadt! Recht hat die Frau!« sagt Fritzsche. »Eines Mannes Sorge ist aller Männer Sorge. Allein können wir uns doch nicht helfen. Wir müssen uns alle miteinander helfen! Paule, nun wollte ich, nicht bloß ich, sondern die ganze Stadt hätte gehört, was du von der Lebensmittelgenossenschaft sagst. Tu mir und tu uns allen den Gefallen, und bring das zu Papier, dann geh mit mir zum Redakteur. Der druckt es und dann weiß es bald die ganze Stadt!«

»Gewiß, das will ich zuerst tun«, sagt Paule, »dann gehn wir nochmal mit dem Agenten zu den Geldverleihern. Inzwischen kann die Zeitung drucken, was ich geschrieben habe und Ihr hört Euch mal um, was die Arbeiter davon sagen. Ich kenn' ja noch keinen aus den Fabriken. Am liebsten möcht ich mit einem sprechen, der auch drüben war! Wißt Ihr keinen?«

»Es soll einer aus der Arbeiterverbrüderung drüben gewesen sein. Geh vorerst zum Doktor Bernhardi, Paule, der Mann weiß alles, er kennt sicher auch deinen amerikanischen Verein!«

»Ich hab's nicht mit den gelehrten Leuten!« wehrt Paule ab, »ich geh lieber zur Arbeiterverbrüderung!«

»Auch gut!« sagt Fritzsche, »in Berlin und Leipzig haben die früher auch schon so was Ähnliches empfohlen!«

Sie gehen nach Haus. Paule will noch einmal in die Stadt, sich die Läden ansehen.

»Und morgen schreibst du das von Amerika und der Genossenschaft?« fragt Fritzsche und schüttelt ihm die Hand.

»Morgen gleich!« sagt Paule; sie trennen sich.

Nun ist Fritzsche zum Doktor Bernhardi, dem Arzt und Volksfreund, unterwegs. Er überlegt sich den Vorschlag von Paule. »Daß wir es alle an unserm Brotschrank spüren können!« hat er gesagt. Das ist das Zauberwort! Er spricht es immer wieder aus: »Daß wir es alle an unserm Brotschrank spüren können!«

Meister Fritzsche hat keine Ruhe mehr, seitdem er von Amerika und den neuen Arbeitsmethoden gehört hat. Er träumt von Weizenbergen und Fruchthügeln; er sieht, wie das Korn durch die Mühlen läuft, zu Mehl wird, wie es in den Backtrögen ruht und auf einmal von kräftigen Armen gerührt, geknetet und geformt wird, wie es in die dunklen Backöfen verschwindet, und nun kommt es hervor: Brot, Brot, Brot!

Das Brot! Vor dieser Erkenntnis steht der Buchbinder still. Wie konnte man nur über dieses Einfachste und Selbverständlichste hinwegsehen! Das Brot! Selbstverständlich! Das Brot und nichts anderes! Das Brot ist das einzig große Gemeinsame! Er hat es vor drei Jahren erlebt, als die große Mißernte einen fürchterlichen Mangel über das Land brachte. Wie machte das unscheinbare Brot den Hermann Schulze aus Delitzsch zum Retter aus Hungersnot und Hungertod! Auf einmal strömen die Armen des Landes auf das kleine Delitzsch zu; der Name Hermann Schulze geht durch die Scharen der Hungrigen von Mund zu Mund, läuft die Dörfer entlang; von Leipzig und Torgau, ja von Halle her sind die Straßen von Menschen belebt, die den Namen Hermann Schulze voll Hoffnung und Freude aussprechen: durch ihn bekommen sie Brot, Brot und billig!

Die Bäcker und Mehlhändler, die Müller und Krämer lassen sich Mehl und Brot mit Gold aufwiegen. Darum wenden sich die Armen gegen die Krämer, die die Not ausgenutzt haben und wenden sich in Verehrung und Liebe zu dem Mann, der das Brot nicht nur billig verkauft, sondern zu halben Preisen und an die Armen sogar verschenkt. Wie konnte Hermann Schulze, der doch selber nicht reich war, das tun? Er hatte, ehe die Not allgemein bekannt wurde, schon Mehl eingekauft, es auf große Böden speichern lassen und in aller Stille eine Mühle gepachtet. Als nun die Hungernden die Läden stürmten, die bessergestellte Einwohnerschaft eine Wehr gegen die Hungrigen gründete, die Eilenburger aus der Torgauer Garnison vierhundert Gewehre kauften, in dieser Zeit, als es gar kein Brot mehr gab, da wußte der Mensch wieder, was für eine Himmelsgabe das Brot ist.

Nun weiß Fritzsche es auch wieder, es ernährt nicht nur, es schließt auch die Menschen zusammen und auf diesen Zusammenschluß kommt es an! Auf diesen Zusammenschluß wird Fritzsche drängen: mit Doktor Bernhardi, Brade, dem Vorsteher der Arbeiterverbrüderung, mit Meister Gottfried Stolle von der brüderlichen Vereinigung der Schuhmacher, mit Hermann Joseph Müller, dem klugen Schreinermeister von der Tischlerassoziation. Sie werden sich alle zusammenschließen, mit allem, was einen hungrigen Darm und einen wäßrigen Mund nach Brot hat! Zu den Arbeitern werden sie gehen, sie werden sich alle zusammentun und eine Genossenschaft gründen! Sie werden, wie Hermann Schulze, nun gemeinsam Korn kaufen, auf eigene Rechnung mahlen lassen und dann an die Haushaltungen abgeben. Endlich muß das Ersehnte kommen, das Nötigste, das Allernötigste, das Brot der Armen.


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