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XXVI. Brief an Coste über die Notwendigkeit und die Zufälligkeit

Der Adressat dieses Briefes, der Refugié Pierre Coste, ist in der Philosophiegeschichte vornehmlich durch seine Beziehungen zu Locke und durch die von ihm besorgte und von Locke mit Zusätzen versehene Übertragung des Versuchs über den menschlichen Verstand bekannt; außerdem besorgte er Ausgaben der Werke Montaignes und Labruyères, die noch jetzt geschätzt sind. Leibniz stand noch 1713 mit ihm in Verbindung und übersandte ihm damals eine Rezension der Characteristicks Shaftesburys, die dann als »Éloge critique des Œuvres de Milord Shaftesbury par M. Leibniz, communiqué par M. Coste« im zehnten Bande der »Histoire de la république des lettres« erschien.

Hannover, 19. Dezember 1707

Ich danke Ihnen sehr für die Mitteilung der letzten Zusätze und Berichtigungen des Herrn Locke und habe auch mit Vergnügen vernommen, was Sie mir über seinen letzten Streit mit Herrn Limborch berichten. Philipp Limborch war mit Locke wegen des Prinzips der Toleranz zusammengeraten. Der damals von Locke über die Gewissens- und Religionsfreiheit niedergeschriebene offene Brief ist 1827 in deutscher Übersetzung in Braunschweig erschienen. Die auf der Gleichgültigkeit beruhende Freiheit, um die sich dieser Streit drehte und über die Sie meine Ansicht zu vernehmen wünschen, besteht in einer gewissen Spitzfindigkeit, die wenig Leute zu begreifen streben und über die dennoch viele Betrachtungen anstellen. Das Ganze läuft auf die Erwägung der Notwendigkeit und der Zufälligkeit hinaus.

Eine Wahrheit ist notwendig, wenn das Gegenteil einen Widerspruch enthält, und wenn sie nicht notwendig ist, so nennt man sie zufällig. Daß Gott existiert, daß alle rechten Winkel einander gleich sind usw., sind notwendige Wahrheiten; dagegen ist es eine zufällige Wahrheit, daß ich selbst existiere und daß es in der Natur Körper gibt, die einen tatsächlich rechten Winkel darstellen. Denn das ganze Universum könnte anders sein, da Zeit, Raum und Stoff gegen die Bewegungen und die Gestalten gleichgültig sind und Gott unter einer unendlichen Anzahl von möglichen Welten die gewählt hat, die er für die angemessendste erachtete. Nachdem er aber gewählt hat, muß anerkannt werden, daß alles in seiner Wahl befaßt ist und daß nichts daran geändert werden kann, da er, der die Dinge nicht stück- und fetzenweis Der Erdmannsche Text hat an dieser Stelle: par tombeaux et à bâtons rompus – natürlich ist statt dessen zu lesen: par lambeaux. regeln kann, alles vorgesehen und ein für allemal geregelt hat, so daß also die Sünden und die Übel, die er größerer Güter wegen zuzulassen für angebracht gehalten hat, gewissermaßen in seiner Wahl befaßt sind. Eben diese Notwendigkeit aber, die man jetzt den zukünftigen Dingen beilegen darf, heißt hypothetische oder folgeweise Notwendigkeit, d. h. eine Notwendigkeit, die aus der Hypothese von der getroffenen Wahl folgt. Sie hebt die Zufälligkeit der Dinge nicht auf und bringt nicht jene unbedingte Notwendigkeit hervor, die sich nicht mit der Zufälligkeit verträgt. Die Theologen und beinahe alle Philosophen (die Sozinianer ausgenommen) anerkennen auch die hypothetische Notwendigkeit, die man nicht bestreiten kann, ohne die Eigenschaften Gottes und sogar die Natur der Dinge auf den Kopf zu stellen.

Obschon aber alles Geschehen im Universum jetzt in bezug auf Gott gewiß oder – was dasselbe sagt – an sich selbst bestimmt und sogar unter sich verknüpft ist, so folgt daraus doch nicht, daß diese Verknüpfung deswegen von wahrhafter Notwendigkeit ist, d. h., daß die Wahrheit, der gemäß ein Ereignis aus einem andern folgt, notwendig sei. Dies muß aber hauptsächlich auf die freiwilligen Handlungen angewandt werden. Wenn man sich eine Wahl stellt, wie z. B. auszugehen oder nicht auszugehen, so fragt es sich, ob ich, alle äußern und innern Umstände, Beweggründe, Vorstellungen, Zustände, Eindrücke, Neigungen und Leidenschaften zusammengenommen, noch im Zustande der Zufälligkeit bin, oder ob ich genötigt bin, die Wahl zu treffen und z. B. auszugehen, d. h., ob der wirkliche und tatsächlich bestimmte Entschluß: unter allen diesen Umständen zusammengenommen würde ich das Ausgehen wählen zufällig oder notwendig ist. Ich entgegne: Er ist zufällig, weil weder ich noch irgendein anderer aufgeklärterer Geist als ich beweisen kann, daß das Gegenteil dieser Wahrheit einen Widerspruch enthält. Und vorausgesetzt, daß man unter auf der Gleichgültigkeit beruhender Freiheit eine der Notwendigkeit entgegengesetzte Freiheit versteht (wie ich sie eben erläutert habe), so bin ich mit dieser Freiheit einverstanden, denn ich bin in der Tat der Meinung, daß sowohl unsere Freiheit wie die Gottes und der seligen Geister nicht bloß des Zwanges, sondern auch der unbedingten Notwendigkeit ledig ist, wenngleich sie nicht der Bestimmung und der Gewißheit ledig ist. Zu diesem Abschnitte sind die Erl. 37, 111, 113, 114 zum ersten Bande der Theodizee zu vergleichen, in denen die Leibnizschen Ausführungen ausführlich erörtert sind.

Ich finde jedoch, daß es hier großer Vorsicht bedarf, um nicht auf eine Chimäre zu verfallen, die gegen die Prinzipien des gesunden Menschenverstandes verstößt: Dies würde aber das sein, was ich eine unbedingte oder das Gleichgewicht haltende Gleichgültigkeit nenne, die einige unter der Freiheit verstehen und die ich für chimärisch halte. Man muß nämlich beachten, daß jene Verknüpfung, von der ich oben sprach, zwar nicht unbedingt notwendig, aber nichtsdestoweniger doch sicher wahr ist, und daß es im allgemeinen in allen Fällen, wo, alle Umstände zusammengenommen, die Waage der Überlegung auf der einen Seite mehr belastet ist als auf der andern, gewiß und untrüglich ist, daß jener Entschluß die Oberhand behalten wird. Gott oder der vollkommene Weise werden immer das erkannte Beste wählen, und wenn ein Entschluß nicht besser wäre als der andere, so würden sie keinen von beiden wählen. Bei den übrigen verständigen Substanzen werden oft die Leidenschaften die Stelle der Vernunft vertreten, und im Hinblick auf den Willen im allgemeinen wird man immer sagen können, daß die Wahl der stärksten Neigung folgt, worunter ich alles zusammenfasse, Leidenschaften wie wahre oder scheinbare Gründe.

Dessenungeachtet sehe ich, daß es Leute gibt, die sich einbilden, daß man sich bisweilen für die minder belastete Seite entscheide, daß Gott bisweilen alles in allem das minder Gute wähle und daß der Mensch sich bisweilen ohne Ursache und gegen alle Gründe, Neigungen und Leidenschaften entscheide, kurzum, daß man bisweilen eine Wahl treffe, ohne daß ein Grund vorhanden ist, der diese Wahl bestimmt. Eben dies aber halte ich für falsch und widersinnig, weil es eins der bedeutendsten Prinzipien des gesunden Menschenverstandes ist, daß nichts ohne Ursache oder bestimmenden Grund geschieht. Wenn daher Gott eine Wahl trifft, so geschieht es nach dem Grunde des Besten, und wenn der Mensch wählt, so entscheidet er sich für die Seite, die den stärksten Eindruck auf ihn gemacht hat. Wenn er daher etwas wählt, was augenscheinlich weniger nützlich und angenehm ist, so wird es ihm andererseits doch das Angenehmere geworden sein, entweder aus Laune oder aus Hang zum Widerspruch und aus ähnlichen Gründen eines verdorbenen Sinns, die nichtsdestoweniger bestimmende Gründe sind, wenn sie auch immerhin keine triftigen sind. Ein Beispiel für das Gegenteil aber wird man niemals finden.

Wenn wir also auch eine auf der Gleichgültigkeit beruhende Freiheit haben, die uns vor der Notwendigkeit schützt, so haben wir doch nie eine das Gleichgewicht haltende Gleichgültigkeit, die uns von den bestimmenden Gründen befreit: Es gibt vielmehr immer etwas, was uns reizt und zur Wahl bestimmt, ohne daß es uns jedoch zwingen könnte. Und wie Gott immer unfehlbarer, aber nicht notwendigerweise (wenn nicht vermöge einer moralischen Notwendigkeit) zum Besten bestimmt wird, so werden wir immer unfehlbarer, aber nicht notwendigerweise zu dem bestimmt, was den stärksten Eindruck auf uns macht; und da das Gegenteil keinen Widerspruch enthält, so war es weder notwendig noch wesentlich, daß Gott etwas erschuf, noch daß er diese Welt insbesondere erschuf, obgleich seine Weisheit und Güte ihn dazu bestimmt hat.

Dies hat Herr Bayle trotz seines Scharfsinns nicht zur Genüge erwogen, als er meinte, daß ein ähnlicher Fall wie der mit dem Esel Buridans möglich wäre und daß der Mensch auch unter Umständen von vollkommen gleichem Gewichte dennoch würde eine Wahl treffen können. Es muß nämlich bemerkt werden, daß der Fall eines vollkommenen Gleichgewichts chimärisch ist: Er tritt niemals ein, da das Universum nicht in zwei durchaus gleiche und ähnliche Teile zerlegt oder zerschnitten werden kann. Das Universum ist nicht wie eine Ellipse oder ein anderes derartiges Oval, das mittelst der durch den Mittelpunkt gezogenen geraden Linie in zwei kongruente Teile zerlegt werden kann. Das Universum hat keinen Mittelpunkt, und seine Teile sind von unendlicher Mannigfaltigkeit – also wird nie der Fall eintreten, wo alles auf beiden Seiten vollkommen gleich ist und gleichen Eindruck auf uns macht, und wenn wir auch nicht immer imstande sind, aller der kleinen Eindrücke innezuwerden, die zur Bestimmung unseres Willens beitragen, so ist doch immer etwas vorhanden, das unsere Wahl zwischen zwei Widersprüchen bestimmt, ohne daß der Fall je auf beiden Seiten vollkommen gleich wäre. Auf die das Gleichgewicht haltende Gleichgültigkeit (indifférence d'équilibre) ist in der Theodizee, 1. Bd., Erl. 118 näher eingegangen worden.

Wenn aber auch unsere Wahl ex datis Aus den gegebenen Umständen. immer nach allen innern Umständen zusammengenommen bestimmt ist und es für die Gegenwart nicht von uns abhängt, den Willen zu ändern, so bleibt doch nichtsdestoweniger wahr, daß wir über unser zukünftiges Wollen eine große Gewalt haben, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf gewisse Gegenstände richten und uns an gewisse Denkweisen gewöhnen. Auf diesem Wege vermögen wir uns daran zu gewöhnen, den Eindrücken besser zu widerstehen und die Vernunft mehr zur Geltung zu bringen, kurzum, können wir dazu beitragen, uns das wollen zu lassen, was sich gehört. Es darf hier nicht übersehen werden, daß diese Einwirkung auf den künftigen Willen mit der vorherbestimmten Harmonie durchaus unverträglich ist. Leibniz verfällt stets in diesen Widerspruch, sobald er moralische Fragen behandelt.

Übrigens habe ich an anderm Orte gezeigt, daß wir, die Dinge in einem gewissen metaphysischen Sinne genommen, uns immer in einer vollkommenen Selbstbestimmung befinden. Das, was man den Eindrücken der Außendinge zuschreibt, rührt einzig von den verworrenen Vorstellungen in uns her, die der Außenwelt entsprechen und uns infolge der vorherbestimmten Harmonie, die das Verhältnis jeder Substanz zu allen übrigen begründet, von vornherein verliehen werden mußten.

Wäre es richtig, mein Herr, daß unsere Sevenner Propheten sind, so würde diese Begebenheit meiner Hypothese von der vorherbestimmten Harmonie keineswegs widerstreiten, sondern vielmehr derselben durchaus gemäß sein. Ich habe immer gesagt, daß die Gegenwart mit der Zukunft schwanger geht und daß eine vollkommene Verknüpfung zwischen den Dingen besteht, so entfernt dieselben auch voneinander sein mögen, so daß der, welcher scharfblickend genug wäre, eins im andern lesen könnte. Ich würde nicht einmal dem entgegentreten, der da vielleicht behaupten würde, daß es Weltkörper im Universum gäbe, wo die Prophezeiungen gewöhnlicher sind als auf unserer Erde, wie es vielleicht eine Welt gibt, wo die Hunde eine so gute Nase haben, daß sie das Wildbret auf tausend Meilen riechen, und wie es vielleicht auch Weltkörper gibt, wo es den Genien im ausgedehntern Maße als hier gestattet ist, sich in die Handlungen der vernünftigen Geschöpfe zu mischen. Handelt es sich jedoch um die Beurteilung dessen, was hier tatsächlich geschieht, so muß sich unser mutmaßliches Urteil auf die hergebrachten Verhältnisse auf unserm Erdball stützen, wo diese Arten prophetischen Vorhersehens sehr selten sind. Man kann nicht darauf schwören, daß es überhaupt keine gibt, meines Erachtens aber kann man wetten, daß die, um welche es sich hier handelt, keine sind. Ein Grund, der mich am meisten bewegen könnte, sie günstig zu beurteilen, würde das Urteil des Herrn Fatio sein – aber man müßte genau wissen, was er urteilt, ohne es der Zeitung zu entnehmen. Hätten Sie selbst, mein Herr, mit der entsprechenden Aufmerksamkeit mit einem Edelmanne von zweitausend Pfund Einkommen verkehrt, der auf griechisch, lateinisch und französisch prophezeit, obgleich er nur Englisch versteht, so würde freilich nichts dagegen einzuwenden sein. Die Seher-Extravaganzen Nicolas Fatios hat Wolf, Biographien z. Kulturgeschichte d. Schweiz IV, 67 ff., geschildert. Über die Propheten der Sevenner im Sevennenkriege findet sich Ausführliches bei Görres, Christliche Mystik, 4. Bd., 2. Abt. S. 150 ff. Wie Leibniz im allgemeinen über das Propheten- und Hellsehertum urteilte, ergibt sich am unzweideutigsten aus einem Briefe, den er anläßlich der aufsehenerregenden somnambulen Visionen eines Fräuleins von Asseburg an die Herzogin Sophie von Hannover richtete. Der Brief ist namentlich deshalb merkwürdig, weil das Natürliche darin natürlich erklärt und dann wieder mit echt Leibnizscher Geschmeidigkeit als eine Gnadengabe bezeichnet wird. »Es gibt Leute«, heißt es in dem Schreiben, »die davon obenhin urteilen und meinen, man sollte die junge Prophetin nur recht bald nach Pyrmont schicken. Ich für meine Person bin ganz überzeugt, daß es bei alledem völlig natürlich zugeht. Indessen bewundre ich die Natur des menschlichen Geistes, dessen Kräfte und Anlagen wir nicht alle kennen. Wenn wir solche Personen antreffen, so sollten wir, weit entfernt sie schelten oder ändern zu wollen, dieselben in dieser schönen Verfassung des Geistes zu erhalten suchen. Eine Person von sehr starker Einbildungskraft kann so lebhafte und deutliche Erscheinungen haben, daß ihr dieselben als Wirklichkeit vorkommen, besonders wenn das, was erscheint, mit den Dingen in der Welt in Verbindung steht. Solches zeigt sich bei den in Klöstern erzogenen jungen Personen. Man bemerke auch, daß die Gesichte gewöhnlich zu der Anlage und Erziehung der Leute in Beziehung stehen. Dies findet sogar bei den wahren Propheten statt, denn Gott hat sich ihrem Geiste anbequemt, weil er keine überflüssigen Wunder tut. Ich glaube manchmal, daß Ezechiel die Baukunst erlernt oder ein Hofingenieur war, weil er prächtige Gebäude sieht, während Hosea oder Amos als Propheten vom Lande nur Landschaften und ländliche Bilder schauen, und Daniel, der ein Staatsmann war, die Reiche der Welt regelt. Jenes Fräulein darf allerdings diesen Propheten nicht zur Seite gestellt werden. Indessen sie glaubt, Jesum Christum vor Augen zu haben. Die so feurige Liebe, welche sie zum Heiland hat und welche durch Predigten und Lehren in ihr erregt worden, hat ihr endlich die Gnade zuwege gebracht, das Bild oder die Erscheinung zu sehen. Denn warum sollte ich es nicht eine Gnade nennen? Es tut ihr nur Gutes, sie ist freudig darüber, sie hat dabei die schönsten Empfindungen von der Welt. Man muß eben nicht glauben, daß alle Gnaden Gottes wunderbar sein müssen. Wenn er die natürlichen Anlagen unseres Geistes und die Beschaffenheit der uns umgebenden Dinge anwendet, unserm Verstand Licht zu geben oder Wärme, die unserm Herzen wohltut, so halte ich das für eine Gnade.« Daher bitte ich Sie, mein Herr, mir über einen so interessanten und wichtigen Gegenstand nähere Aufklärung zu geben, und verbleibe, mein Herr, mit aller Ehrerbietung usw.


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