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XX. Über den letzten Ursprung der Dinge

Neben der Welt oder der Anhäufung der endlichen Dinge gibt es ein Herrschendes, nicht bloß wie die Seele in mir oder vielmehr wie das Ich in meinem Körper, sondern in einer noch weit höhern Weise. Denn das die Welt beherrschende Eine regiert nicht bloß das Universum, sondern baut es auch auf und macht es und ist ein Höheres als die Welt und etwas sozusagen Außerweltliches und daher der letzte Grund der Dinge. Denn weder in irgendeinem einzelnen noch in der ganzen Anhäufung und Reihe der Dinge kann der zureichende Grund für deren Sein aufgefunden werden. Nehmen wir an, daß das Buch über die Elemente der Geometrie ewig gewesen und das neuere Exemplar immer aus dem ältern abgeschrieben worden sei, so erhellt, daß, wenn auch der Grund des gegenwärtigen Buches in dem frühern, aus dem es abgeschrieben ist, nachgewiesen werden kann, man doch beim Zurückgehen auf noch so viele Bücher nie zu dem vollen Grunde gelangen wird, da man sich immer wundern darf, warum es von allen Zeiten her solche Bücher, ja überhaupt Bücher und so geschriebene Bücher gegeben hat. Was von den Büchern wahr ist, ist auch von den verschiedenen Zuständen der Welt wahr, bei denen der folgende gewissermaßen (wenn auch nach bestimmten Regeln der Veränderung) aus dem vorhergehenden abgeschrieben ist, und man wird daher, so weit man auch auf frühere Zustände zurückgeht, in diesen Zuständen niemals einen hinreichenden Grund finden, weshalb überhaupt eine Welt und weshalb gerade eine solche besteht. Nimmt man also auch die Welt als ewig an, so setzt man damit nur eine Reihenfolge von Zuständen, wird aber in keinem derselben einen zureichenden Grund finden, und da man, selbst wenn man noch so viele zusammen nimmt, doch nicht im geringsten zu diesem Grunde gelangt, so erhellt, daß derselbe anderwärts gesucht werden muß. Denn selbst bei den ewigen Dingen muß, wenn auch keine Ursache bestände, doch ein Grund eingesehen werden, der bei den beharrenden Dingen die Notwendigkeit oder die Wesenheit selbst, bei der Reihe der veränderlichen Dinge aber, wenn diese als eine ewige a priori gesetzt wird, das Übergewicht der Neigungen sein würde, wie man sogleich einsehen wird, weil nämlich hier die Gründe nicht zwingen (vermittelst einer unbedingten oder metaphysischen Notwendigkeit, bei der das Gegenteil einen Widerspruch enthält), sondern nur anreizen. Daraus erhellt, daß man, wenn man auch die Welt als ewig annimmt, doch einem außerweltlichen letzten Grunde der Dinge oder Gott nicht entrinnen kann.

Die Gründe der Welt liegen also in etwas Außerweltlichem, das von der Kette der Zustände oder der Reihe der Dinge, deren Anhäufung die Welt bildet, verschieden ist. Auf diese Weise gelangt man aber von der physischen oder hypothetischen Notwendigkeit, welche die späteren Dinge in der Welt aus den frühern bestimmt, zu einer unbedingten oder metaphysischen Notwendigkeit, für die kein Grund angegeben werden kann. Denn die gegenwärtige Welt ist physisch oder hypothetisch, nicht aber unbedingt oder metaphysisch notwendig, da gesetzt, daß einmal eine solche sei, folgt, daß wiederum solches daraus entsteht. Weil demnach die letzte Wurzel in etwas bestehen muß, das von metaphysischer Notwendigkeit ist, und der Grund eines seienden Dinges nur einem seienden entnommen werden kann, so muß es ein Wesen von metaphysischer Notwendigkeit geben, d. h., dessen Wesen das Sein ist, und mithin etwas bestehen, das von der Mehrheit der Dinge oder der Welt, die, wie wir eingeräumt und dargelegt haben, nicht von metaphysischer Notwendigkeit ist, verschieden ist. Dieser Beweis für das Dasein Gottes, der sogenannte kosmologische, der beständig bei Leibniz wiederkehrt, hat in der Theodizee, 1. Bd., Erl. 98 eine eingehende Erörterung gefunden. -- Bezüglich der hier von Leibniz unterschiedenen Notwendigkeiten (vgl. Theodizee, 1. Bd., Erl. 37) sei noch bemerkt, daß die physische Notwendigkeit als aus dem »Übergewicht der Neigungen« (praevalentia inclinationum) entspringend zur Gruppe der moralischen Notwendigkeiten gehört, während die metaphysische Notwendigkeit, »cujus ratio non reddi possit«, d. h., die überhaupt keinen Grund hat, eine besondere Art der logischen Notwendigkeit ist, deren Gegenteil einen Widerspruch enthält. Leibniz bleibt aber nicht bloß den Beweis für das Dasein einer solchen Notwendigkeit schuldig, sondern unterläßt auch jede nähere Bestimmung derselben.

Um jedoch ein wenig deutlicher darzulegen, auf welche Weise aus den ewigen, wesentlichen oder metaphysischen Wahrheiten die zeitlichen, zufälligen oder physischen Wahrheiten entstehen, müssen wir zunächst deshalb, weil Etwas eher besteht als das Nichts, anerkennen, daß bei den möglichen Dingen oder der Möglichkeit oder Wesenheit ein Bedürfnis des Seins oder, wenn ich so sagen darf, eine Anspruchmachung auf das Dasein und, mit einem Wort gesagt, eine Wesenheit besteht, die durch sich selbst nach dem Dasein strebt. Daraus folgt aber weiter, daß alles Mögliche oder eine Wesenheit oder mögliche Wirklichkeit Ausdrückende je nach der Quantität der Wesenheit oder Wirklichkeit oder nach dem Grade der Vollkommenheit, den es enthält, nach dem Dasein Der Erdmannsche Text hat an dieser Stelle: pari jure ad essentiam tendere – schon Herr von Kirchmann aber liest dafür richtig existentiam. strebt; denn die Vollkommenheit ist nichts anderes als die Quantität der Wesenheit. Weil Etwas (oder das Etwas) eher besteht als das Nichts (quod aliquid potius existit quam nihil), sagt Leibniz, so muß bei den möglichen Dingen ein Streben nach dem Dasein bestehen, da sonst kein Ding aus der Form der Wesenheit (essentia) oder möglichen Wirklichkeit (realitas possibilis), d. h. aus dem Sein im Verstande Gottes, in das wirkliche Dasein (existentia) übergehen würde. Dieser Schluß ist indessen nicht zulässig, denn sobald die Dinge als gedachte im Verstande Gottes existieren, sind sie schon ein Seiendes, also mehr als das Nichts, und es müßte nun erst bewiesen werden, daß der Inhalt eines Dings in der Form des Wissens geringwertiger sei als in der Form des Seins. Überdies ist nicht einzusehen, mit welchem Rechte den Wesenheiten oder Möglichkeiten ein Streben beigelegt werden kann, falls sie wirklich nur Akzidenzen Gottes sind, wie Leibniz auf S. 181 darlegt.

Daraus erhellt aber auf das deutlichste, daß von den unendlichen Verbindungen des Möglichen und den möglichen Reihen die zum Dasein gelangt, durch welche die meiste Wesenheit oder Möglichkeit ins Dasein übergeführt wird. In den Dingen findet sich nämlich immer ein Prinzip der Bestimmung, das aus dem Größten oder dem Kleinsten hergeleitet werden muß, daß nämlich die größte Wirkung sozusagen mit dem kleinsten Aufwände erreicht werde. Hier kann nun aber die Zeit, der Ort oder, kurz gesagt, die Empfänglichkeit oder Fähigkeit der Welt für den Aufwand oder für das Terrain genommen werden, auf dem so zweckmäßig als möglich gebaut werden muß, die Mannigfaltigkeit der Formen aber entspricht der Zweckmäßigkeit des Gebäudes und der Menge und Zierlichkeit der Gemächer. Die Sache verhält sich hier geradeso wie bei gewissen Spielen, bei denen gewissen Gesetzen gemäß alle Felder auf einer Tafel auszufüllen sind und wo man, wenn man nicht einen gewissen Kunstgriff anwendet, schließlich, durch ungünstig liegende Felder gehindert, mehr Felder leer lassen muß, als man konnte oder wollte. Es gibt dabei aber eine gewisse Methode, nach der die Ausfüllung der meisten Felder am leichtesten erreicht wird. Wie daher, gesetzt, es solle ein Dreieck konstruiert werden, ohne daß irgendeine nähere Bestimmung hinzukommt, folgt, daß ein gleichseitiges zum Vorschein kommt, und wie, gesetzt, es solle von einem Punkte zu einem andern gegangen werden, ohne daß der Weg näher bestimmt wird, folgt, daß der leichteste oder kürzeste Weg gewählt werden wird, so folgt auch, einmal angenommen, daß das Sein dem Nichtsein vorgehe oder daß ein Grund vorhanden sei, weshalb Etwas eher bestehe als Nichts oder von der Möglichkeit zur Wirklichkeit übergehe – so folgt auch, sage ich, selbst wenn nichts weiter bestimmt wird, daß dann so viel ins Dasein treten wird, wie nach der Fähigkeit der Zeit und des Ortes (oder der möglichen Ordnung des Seins) nur immer möglich ist, ganz so, wie die Mosaiktäfelchen in der Weise zusammengestellt werden, daß soviel als möglich in die bestimmte Fläche hineingehen. Schon daraus erhellt in wunderbarer Weise, wie beim ersten Ursprung der Dinge eine gewisse göttliche Mathematik oder ein metaphysischer Mechanismus zur Anwendung kommt und die Bestimmung durch das Größte statthat, wie in der Geometrie von allen Winkeln nur der rechte ein bestimmter ist und wie in andersartige geschüttete Flüssigkeiten sich in die passendste, nämlich die Kugelgestalt zusammenordnen oder vielmehr wie in der gemeinen Mechanik aus dem Kampfe zwischen mehreren schweren Körpern nur die Bewegung hervorgeht, durch welche im Ganzen das größte Herabsinken sich ergibt. Denn gleichwie alles mögliche nach Verhältnis seiner Wirklichkeit mit gleichem Rechte nach dem Dasein strebt, so strebt auch alles Schwere nach Verhältnis seines Gewichtes mit gleichem Rechte zum Niedersinken, und wie hier eine Bewegung entsteht, in der das stärkste Niedersinken der schweren Körper enthalten ist, so entsteht dort eine Welt, durch welche die größte Hervorbringung des Möglichen bewirkt wird.

Auf diese Weise haben wir also schon eine physische Notwendigkeit, die aus einer metaphysischen hervorgeht, denn wenn auch die Welt nicht metaphysisch notwendig ist, so daß das Gegenteil einen Widerspruch oder logischen Widersinn enthielte, so ist sie doch physisch notwendig oder in der Weise bestimmt, daß das Gegenteil eine Unvollkommenheit oder einen moralischen Widersinn enthält. Wie aber die Möglichkeit das Prinzip der Wesenheit ist, so ist die Vollkommenheit oder der Grad der Wesenheit (durch welchen möglichst vieles gleichzeitig möglich ist) das Prinzip des Seins. Daraus erhellt zugleich, auf welche Weise bei dem Schöpfer der Welt eine Freiheit besteht, wenngleich er alles in bestimmter Weise bewirkt: er handelt nämlich nach dem Prinzipe der Weisheit oder der Vollkommenheit. Die Gleichgültigkeit entspringt nämlich der Unwissenheit, und je weiser jemand ist, um so mehr wird er zum Vollkommensten bestimmt.

Aber, wird man sagen, diese Vergleichung des Mechanismus eines gewissen metaphysischen Bestimmenden mit dem physischen Mechanismus der schweren Körper ist, wenn auch geistreich, doch darin mangelhaft, daß die niederstrebenden schweren Körper in Wahrheit bestehen, während die Möglichkeiten oder Wesenheiten vor oder außer dem Sein nur etwas Eingebildetes oder Erdachtes sind, also kein, Grund für das Sein in ihnen gesucht werden kann. – Darauf erwidere ich, daß weder jene Wesenheiten noch die nach ihnen benannten ewigen Wahrheiten etwas Erdachtes sind, sondern sozusagen in einer Region der Ideen bestehen, nämlich in Gott selbst, dem Quell der Wesenheit und des Daseins alles übrigen. Und daß ich dies nicht ohne Grund vorbringe, ergibt sich aus dem Dasein der wirklichen Reihe der Dinge selbst. Denn da in derselben, wie oben gezeigt, kein Grund zu finden ist, dieser vielmehr in den metaphysischen Notwendigkeiten oder ewigen Wahrheiten gesucht werden muß, die seienden Dinge aber, wie oben erwähnt, nur durch seiende zum Sein gelangen können, so müssen die ewigen Wahrheiten in einem unbedingt und metaphysisch notwendigen Wesen ihr Dasein haben, d. h. in Gott, durch welchen das, was sonst nur etwas Eingebildetes sein würde, realisiert wird, wie man regelwidrig aber treffend sagt.

Und allerdings finden wir in der Wirklichkeit, daß alles in der Welt nach den nicht bloß geometrischen, sondern auch metaphysischen Gesetzen der ewigen Wahrheiten, d. h. nicht bloß gemäß den materiellen, sondern auch gemäß den formalen Notwendigkeiten geschieht. Unter formalen Notwendigkeiten versteht Leibniz die Formen und die ewigen Wahrheiten, die von Ewigkeit her im Verstande Gottes existieren und an die Gott bei seinem Schaffen gebunden ist, wie in der Theodizee B. § 335 näher ausgeführt wird. Dies ist nicht bloß im allgemeinen wahr (aus dem oben auseinandergesetzten Grunde, daß die Welt eher ist als nicht ist und eher gerade so als anders ist, welcher Grund durchaus aus dem Streben des Möglichen nach dem Dasein abgeleitet werden muß), sondern man sieht auch beim Eingehen auf das einzelne, wie auf wunderbare Weise in der ganzen Natur die Gesetze der Ursächlichkeit, der Möglichkeit und der Wirksamkeit Geltung haben und daß diese sogar vor den rein geometrischen Gesetzen des Stoffs den Vorrang behaupten, wie ich bei Begründung der Gesetze der Bewegung zu meiner großen Verwunderung in einem solchen Grade fand, daß ich genötigt war, das Gesetz der geometrischen Zusammensetzung der Kräfte, das ich in meiner Jugend (wo ich mehr Materialist war) verteidigt hatte, fallenzulassen, wie ich anderswo ausführlicher dargelegt habe.

So haben wir denn also den letzten Grund für die Wirklichkeit sowohl der Wesenheiten als der seienden Dinge in einem Wesen, das schlechterdings weit höher und früher sein muß als die Welt, da durch dasselbe nicht bloß das Seiende, welches die Welt in sich schließt, sondern auch das Mögliche seine Wirklichkeit hat; dies kann aber wegen des Zusammenhangs alles dessen unter sich nur in einer Quelle gesucht werden. Es ist aber klar, daß die seienden Dinge stetig aus dieser Quelle hervorströmen, hervorgebracht werden und hervorgebracht worden sind, da nicht einzusehen ist, weshalb der eine Zustand der Welt mehr als der andere, der gestrige mehr als der heutige, aus derselben herfließen solle. – Auch ist klar, wie Gott nicht bloß physisch, sondern auch frei handelt, und wie in ihm nicht bloß die bewirkende, sondern auch die Zweckursache der Dinge liegt, und das von ihm nicht bloß der Größe oder Macht in der schon hergestellten Maschine des Universums, sondern auch der Güte oder Weisheit in der erst noch herzustellenden Rechnung getragen wird. Damit aber nicht jemand glaube, daß hier die moralische Vollkommenheit oder die Güte mit der metaphysischen Vollkommenheit oder der Größe verwechselt werde und dabei die letztere zugibt, die erstere aber leugnet, so muß man wissen, daß aus dem Gesagten nicht bloß folgt, daß die Welt physisch oder, wenn man lieber will, metaphysisch die vollkommenste ist oder daß die Reihe der Dinge wirklich geworden sei, in der das meiste an sachlichem Inhalt zur Wirklichkeit gelangt, sondern daß sie auch moralisch die vollkommenste ist, weil in Wahrheit die moralische Vollkommenheit für die Geister die physische ist. Daher ist die Welt nicht bloß eine höchst bewunderungswürdige Maschine, sondern auch, insoweit sie aus Geistern besteht, der beste Staat, durch welchen den Geistern möglichst viel Glückseligkeit oder Freude zugewandt wird, worin die physische Vollkommenheit derselben besteht.

Aber, wird man einwerfen, in der Welt erfahren wir gerade das Gegenteil, denn den Besten ergeht es sehr oft am schlechtesten und nicht bloß die unschuldigen Tiere, sondern auch die unschuldigen Menschen werden hart heimgesucht und sogar durch Martern getötet, überhaupt aber erscheint die Welt, zumal wenn die Regierung des Menschengeschlechts ins Auge gefaßt wird, eher wie ein verworrenes Chaos denn als eine von der höchsten Weisheit geordnete Sache. Ich räume ein, daß dies allerdings auf den ersten Blick so scheint, bei genauerer Betrachtung erhellt jedoch, daß schon nach dem oben Gesagten a priori das Gegenteil angenommen werden muß, nämlich daß von allen Dingen und mithin auch von den Geistern die höchste Vollkommenheit erlangt wird, die nur möglich ist.

Und in Wahrheit ist es ja unbillig, vor Einsicht des ganzen Gesetzes ein Urteil zu fällen, wie die Rechtsgelehrten sagen. Wir kennen nur einen geringen Teil der sich ins Unermeßliche erstreckenden Ewigkeit, denn wie wenig ist des Geschehenen in den paar tausend Jahren, was uns die Geschichte überliefert! Und doch urteilen wir nach einer so kleinen Erfahrung kühn über das Unermeßliche und Ewige gleich Leuten, die, im Kerker oder, wenn man will, in den unterirdischen Salzbergwerken der Sarmaten geboren und erzogen, der Meinung wären, es gäbe kein anderes Licht als das karge Licht der Lampen, das kaum hinreicht, um den Schritt danach zu lenken. Wir beschauen ein schönes Gemälde und verdecken es dann bis auf einen kleinen Teil – was werden wir dann anderes daran sehen, wenn wir auch noch so scharf hinschauen, ja je mehr wir es in der Nähe beschauen, als eine verworrene Anhäufung von Farben ohne Wahl und ohne Kunst? Und doch erkennt man, sobald man nach Wegnahme der Bedeckung das ganze Gemälde in passender Stellung betrachtet, daß das, was kühn auf die Leinwand geschmiert erschien, vom Urheber des Kunstwerkes mit der größten Geschicklichkeit hergestellt worden ist. Was die Augen bei der Malerei, erfahren die Ohren bei der Musik. Die besten Tonkünstler mengen nämlich häufig Mißklänge unter die Wohlklänge, damit der Zuhörer erregt und gleichsam verletzt werde und dann, gleichsam um den Ausgang besorgt, nachdem bald alles wieder zur Ordnung zurückgekehrt ist, um so höher ergötzt werde, ganz wie man sich nach kleinen Gefahren oder überstandenen Übeln am Gefühle oder der Kundgebung unserer Kraft oder unseres Glückes erfreut, oder wie man beim Anblick der Seiltänzer oder beim Schwertertanz (sauts perilleux) sich am Schrecken selbst ergötzt und wie man selbst Kinder lachend zur Hälfte fahren läßt, als wolle man sie wegschleudern, in welcher Weise auch ein Affe den dänischen König Christiern als Kind in den Windeln auf die First des Daches trug und ihn angesichts der geängstigten Zuschauer gleichsam lächelnd unverletzt in die Wiege zurückbrachte. Aus demselben Grunde ist es auch nicht schmackhaft, immer Süßigkeiten zu genießen, vielmehr muß man Scharfes, Saures, ja selbst Bitteres einmischen, wodurch der Geschmack gereizt wird. Wer das Bittere nicht geschmeckt hat, verdient das Süße nicht und wird es nicht einmal schätzen. Das Gesetz der Lust ist eben dies, daß aus einem gleichmäßigen Fortgange kein Genuß erblüht, denn das erzeugt Ekel und macht stumpf, nicht aber fröhlich.

Das hier vom Teile Gesagte: er könne der Harmonie im Ganzen unbeschadet gestört sein, darf jedoch nicht so aufgefaßt werden, als ob überhaupt keine Rücksicht auf die Teile genommen zu werden brauche oder als ob es genüge, daß die Welt in ihrer Masse vollkommen sei, wenn es auch dabei geschehen könne, daß das Menschengeschlecht elend sei und im Universum nicht für die Gerechtigkeit Sorge getragen oder keine Rücksicht auf uns genommen werde, wie manche meinen, die nicht mit hinlänglicher Richtigkeit das Ganze der Dinge beurteilen. Denn man muß wissen, daß, gleichwie im besteingerichteten Staate möglichst für das Wohl der einzelnen gesorgt wird, so auch das Universum nicht hinlänglich vollkommen sein würde, wenn nicht soweit auf den einzelnen Rücksicht genommen wäre, wie die allgemeine Harmonie es gestattet. Dafür konnte aber kein besserer Maßstab festgesetzt werden als eben das Gesetz der Gerechtigkeit, welches besagt, daß jeder von der Vollkommenheit des Universums und an eigener Glückseligkeit einen Teil erhalten solle, und zwar nach dem Maße seiner eigenen Tugend und seiner Willfährigkeit gegen das Gemeinwohl, wodurch eben das erfüllt wird, was man Anhänglichkeit und Liebe Gottes nennt, worin allein, nach dem Urteil weiser Theologen, die Kraft und Macht der christlichen Religion besteht. Auch darf es nicht wundernehmen, daß den Geistern so viel im Universum zuerteilt worden, da sie dem Bilde des höchsten Urhebers am nächsten stehen und sich zu ihm nicht bloß (wie alle übrigen Dinge) wie Maschinen zu ihrem Erbauer, sondern auch wie Bürger zu ihrem Fürsten verhalten, auch ebenso dauernd sind wie das Universum selbst und dasselbe sozusagen ganz abspiegeln und in sich konzentrieren, so daß man sagen kann, die Geister seien ganze Teile.

Was aber die Bedrängnisse der Guten, namentlich der Menschen, anlangt, so ist für gewiß anzunehmen, daß sich dieselben in ein größeres Gut für dieselben verwandeln, und das ist nicht bloß theologisch, sondern auch physisch wahr, wie ja auch das in die Erde gestreute Korn ein Übel über sich ergehen läßt, bevor es Frucht bringt. Und im allgemeinen darf behauptet werden, daß die Bedrängnisse für die Gegenwart Übel, in ihrer Wirksamkeit aber Güter seien, da sie abgekürzte Wege zu größerer Vollkommenheit sind, gleichwie bei den physischen Dingen Flüssigkeiten, die langsam gären, auch erst später besser werden, während die, bei denen die Gärung eine heftigere ist, sich infolge der mit größerer Gewalt ausgestoßenen Teile schneller vervollkommnen.

Es ist das also gleichsam ein Zurückgehen, um mit größerem Schwünge einen Sprung nach vorwärts zu tun (qu'on recède pour mieux sauter).

Es muß also angenommen werden, daß dies nicht bloß angenehm und tröstend, sondern auch durchaus wahr sei. Und im allgemeinen bin ich der Ansicht, daß nichts wahrer ist als das Glück und nichts beglückender und angenehmer als die Wahrheit.

Auch muß anerkannt werden, daß ein gewisser stetiger und ungehinderter Fortschritt des gesamten Universums zur Höhe der allgemeinen Schönheit und Vollkommenheit der göttlichen Werke stattfindet, so daß es zu immer größerer Bildung gelangt, wie ja jetzt ein großer Teil unserer Erde Kultur empfängt und immer mehr empfangen wird. Es ist dies augenscheinlich eine Anspielung auf Rußland unter Peter d. Gr. Und wenn es auch richtig ist, daß manches wieder verwildert und manches wieder zerstört und unterdrückt wird, so muß dies doch so aufgefaßt werden, wie ich eben die Bedrängnisse ausgelegt habe, nämlich daß gerade diese Zerstörung und Unterdrückung zur Erreichung eines Höhern dient, so daß wir gewissermaßen durch den Schaden selbst gewinnen.

Auf den möglichen Einwurf aber: auf diese Weise müßte die Welt längst zum Paradies geworden sein, ist die Antwort zur Hand: Wenn auch schon viele Substanzen zu großer Vollkommenheit gelangt sind, so bleiben doch wegen der ins Unendliche fortgehenden Teilbarkeit des Stetigen im unermeßlichen Raum der Dinge immer noch schlummernde Teile übrig, die zu erwecken und zu Besserm und Größerm und, mit einem Worte, zu höherer Kultur zu erheben sind, und deshalb kann der Fortschritt nie ein Ende erreichen.


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