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XIX. Brief an Wagner über die tätige Kraft des Körpers, die menschliche Seele und die Tierseele

1. Auf Ihre Frage betreffs der Natur der Seele antworte ich mit Vergnügen, weil ich aus dem Zweifel, den Sie zur Sprache bringen, ersehe, daß Sie meine Meinung noch nicht hinlänglich erfaßt haben und dies von einem gewissen Vorurteil herrührt, das Sie aus meiner in den Actis Eruditorum erschienenen Abhandlung schöpften, in der ich die Frage von der tätigen Kraft des Körpers gegen den berühmten Herrn Sturm verhandelt habe. Sie behaupten, ich, hätte dort dem Stoffe mit hinlänglicher Sicherheit die tätige Kraft zugesprochen, und insofern ich ihm den Widerstand beilege, demselben auch eine Rückwirkung und mithin eine Tätigkeit beigelegt. Wenn daher das tätige Prinzip allenthalben im Stoffe vorhanden sei, so scheine dies Prinzip für die Verrichtungen der Tiere auszureichen und diese keiner unvergänglichen Seele benötigt zu sein. Wir vermögen nicht anzugeben, ob Tobias Wagner, Kanzler der Universität Tübingen, der sich durch ein Examen Atheismi speculativi einen Namen erworben hatte, der Adressat des Briefes ist. Aus dem, was Leibniz hier über ihn mitteilt, geht nur soviel hervor, daß dieser Wagner ein Anhänger der kartesianischen Philosophie war.

2. Darauf entgegne ich erstens, daß das tätige Prinzip von mir nicht dem reinen oder ersten Stoffe, der rein passiv ist und nur in der Widerstandsfähigkeit und der Ausdehnung besteht, sondern dem Körper oder dem bekleideten oder zweiten Stoffe beigelegt wird, der außerdem noch die erste Entelechie oder das tätige Prinzip enthält. Zweitens erwidere ich, daß der Widerstand des ersten Stoffes kein Handeln, sondern ein reines Erleiden ist, insofern er nämlich die Widerstandsfähigkeit oder Undurchdringlichkeit besitzt, durch welche er zwar dem, was ihn durchdringen will, widersteht, dasselbe aber nicht zurückschleudert, wenn nicht die elastische Kraft hinzukommt, die aus der Bewegung und mithin aus der dem Stoffe hinzugefügten tätigen Kraft abgeleitet werden muß. Drittens aber erwidere ich: dies tätige Prinzip, diese erste Entelechie ist in Wahrheit das Lebensprinzip, das aus den früher von mir angeführten Gründen auch mit der Fähigkeit des Vorstellens begabt und unzerstörbar ist. Und eben dies halte ich bei den Tieren für die Seele derselben. Insofern ich nun überall im Stoffe diesem hinzugefügte tätige Prinzipien annehme, nehme ich also auch allenthalben durch den Stoff verbreitete Lebensprinzipien oder Prinzipien des Vorstellens, also Monaden und, wenn ich so sagen darf, metaphysische Atome an, die keine Teile haben und auf natürlichem Wege nie entstehen noch vergehen können.

3. Ferner wünschen Sie meine Definition der Seele zu wissen. Darauf erwidere ich, daß dies Wort in weiterm und in engerm Sinne gebraucht werden kann. Im weitern Sinne genommen, wird Seele das nämliche sein wie das Leben oder das Lebensprinzip, nämlich das Prinzip der innern Tätigkeit im einfachen Dinge oder die darin enthaltene Monade, der die äußere Tätigkeit entspricht. Diese Übereinstimmung des Innern und des Äußern oder Darstellung des Äußern im Innern, des Zusammengesetzten im Einfachen, der Menge in der Einheit begründet aber in Wahrheit das Vorstellen. Allein in diesem Sinne wird man nicht bloß den Tieren, sondern auch allen andern der Vorstellung befähigten Wesen eine Seele zusprechen. Im engern Sinne wird Seele zur Bezeichnung für die höhere Art des Lebens oder für das empfindende Leben gebraucht, wo es nicht die bloße Fähigkeit des Vorstellens, sondern überdies des Empfindens ist, weil nämlich Aufmerksamkeit und Gedächtnis damit verbunden wird. Auf diese Weise ist andererseits der Geist die edlere Art der Seele, nämlich die vernünftige Seele, bei der zum Gefühle noch die Vernunft oder die Folgerung der Wahrheiten aus der Allgemeinheit hinzutritt. Wie also der Geist die vernünftige Seele, so ist die Seele das empfindende Leben und das Leben das vorstellende Prinzip. Ich habe aber durch Beispiele und Gründe gezeigt, daß nicht jede Vorstellung ein Gedanke ist, sondern daß es auch eine Vorstellung des nicht sinnlich Wahrnehmbaren gibt. So kann ich mir z. B. des Grünen nicht bewußt sein, wenn ich nicht Blau und Gelb wahrnehme, aus denen es sich ergibt. Und doch werde ich mir des Blauen und des Gelben nicht bewußt, wenn nicht ein starkes Mikroskop angewandt wird. Leibniz nimmt an, daß in der Vorstellung der sogenannten Mischfarben (Grün, Weiß, Violett usw.) die einfachen Farben (Blau, Gelb, Rot usw.) als solche enthalten seien, daß also die Vorstellung der erstern durch eine Mischung der letztern beim Wahrnehmen durch die Seele entstehe. Nun verhalten sich aber die Mischfarben im Spektrum genau ebenso wie die einfachen: wenn also, wie Leibniz annimmt, die Vorstellung einer Farbe den das Auge treffenden Oszillationen des Äthers entspringt, für die Mischfarben aber ebensogut eine besondere und bestimmte Geschwindigkeit dieser Schwingungen besteht wie für die einfachen Farben, so läßt sich nicht annehmen, daß die Herstellung der Mischung erst bei der Wahrnehmung durch die Seele geschehe.

4. Sie dürfen aber nicht vergessen, daß nach meiner Ansicht nicht bloß alles Leben, alle Seelen, alle Geister und alle ursprünglichen Entelechien von beständiger Dauer sind, sondern daß auch mit jeder ursprünglichen Entelechie oder jedem Lebensprinzipe beständig eine natürliche Maschine verbunden ist, die wir organischer Körper nennen, mag jene Maschine auch immerhin im Fließen bestehen, da sie doch im allgemeinen ihre Gestalt beibehält und beständig wiederhergestellt wird wie das Schiff des Theseus. Wir sind also gewiß, daß ein sehr kleiner Teil des Stoffs, den wir bei unserer Geburt empfangen haben, in unserm Körper übrig ist, ungeachtet diese Maschine wiederholentlich völlig umgestaltet, vergrößert, Verkleinert, eingehüllt und ausgebreitet wird. Daher ist nicht bloß die Seele von beständiger Dauer, sondern es erhält sich auch immer etwas Beseeltes, wiewohl dies nicht immerwährend genannt werden kann, weil die Art des Beseelten nicht dieselbe bleibt, wie ja die Raupe und der Schmetterling nicht dasselbe Tier sind, wenn auch in beiden die nämliche Seele ist. Demnach hat jede natürliche Maschine das zu eigen, daß sie nie völlig zerstörbar ist, da nach beliebiger Zerstörung der groben Hülle immer ein noch nicht zerstörtes Maschinchen darunter steckt, wie bei der Gewandung des Komikers Harlekin, dem nach Ablegung vieler Kleider immer noch ein neues übrigblieb. Dies darf uns um so weniger wundernehmen, weil die Natur allenthalben organisch und von dem allweisen Urheber zu gewissen Zwecken eingerichtet ist und nichts in der Natur für ungeordnet erachtet werden darf, wenn sich bisweilen auch nur die Masse unsern groben Sinnen zeigt. Wir entgehen also allen Schwierigkeiten, die aus der Natur der durchaus von jedem Stoff abgesonderten Seele entspringen, nur in der Weise, daß die Seele und das Tier vor der Geburt oder nach dem Tode sich von der gegenwärtig lebenden Seele oder dem gegenwärtigen Tiere nur durch die äußere Erscheinung und den Grad der Vollkommenheit der Dinge, nicht aber dem Geschlechte oder Wesen nach unterscheidet. Zugleich glaube ich von den Genien, daß sie Geister sind, die mit einem sehr feinen und zu Verrichtungen geeigneten Körper versehen sind, den sie vielleicht nach ihrem Belieben wechseln können, weshalb sie nicht Tiere genannt werden dürfen. Auf diese Weise ist alles in der Welt ähnlich und aus dem Groben leicht zur Erkenntnis des Feinern zu gelangen, da beides sich auf dieselbe Weise verhält. Nur die Gottsubstanz ist wahrhaft vom Stoffe getrennt, weil sie reine Handlung und nicht mit einem Vermögen, zu leiden, behaftet ist, welches letztere überall den Stoff begründet. Und in Wahrheit besitzen alle erschaffenen Substanzen die Widerstandsfähigkeit, durch welche es auf natürlichem Wege erfolgt, daß eine außerhalb der andern ist und das Eindringen verhindert wird.

5. Wenn aber auch meine Prinzipien sehr allgemein sind und nicht weniger beim Menschen als bei den Tieren statthaben, so ragt doch der Mensch dem Tiere gegenüber außerordentlich hervor und nähert sich den Genien, weil er wegen des Gebrauchs der Vernunft zur Gemeinschaft mit Gott befähigt und mithin für Belohnung und Züchtigung unter der göttlichen Regierung empfänglich ist. Daher bewahrt er nicht bloß das Leben und die Seele, wie die Tiere, sondern auch das Bewußtsein seines Ichs und die Erinnerung an den frühern Zustand und, daß ich es mit einem Worte sage, seine Individualität. Er ist demnach nicht bloß physisch, sondern auch moralisch unsterblich, und deshalb wird im engern Sinne nur der menschlichen Seele Unsterblichkeit beigelegt. Denn wenn der Mensch nicht wüßte, daß ihm in jenem Leben dieses Lebens wegen Strafen und Belohnungen zuteil werden, so gäbe es in Wahrheit keine Strafe und keine Belohnung, und es würde in moralischer Hinsicht gerade so sein, als ob ein anderer Glücklicherer oder Unglücklicherer nach meinem Abscheiden gefolgt wäre. Daher nehme ich an, daß die Seelen, die von Anbeginn der Dinge an in den Samentierchen verborgen liegen, nicht vernünftig sind, bis sie durch die Empfängnis zum menschlichen Leben bestimmt werden. Diese Verleihung der Vernunft an die menschliche Seele hat indessen ihre Schwierigkeiten. Durch den Akt der Zeugung selbst kann sie nicht geschehen, denn es findet dabei nach dem Leibnizschen Systeme keine Einwirkung auf die dadurch zur Entwicklung kommende Seele statt. Ebensowenig kann Gott die Seele, die eine menschliche zu werden bestimmt ist, im voraus so eingerichtet haben, daß sie im Augenblicke der Zeugung die Vernunft empfängt, denn alsdann würde sie durch diese Einrichtung von vornherein von der Tierseele verschieden sein, was Leibniz hier eben bestreitet. Es bleibt also nichts anderes als ein persönliches Eingreifen Gottes auf dem Wege des Wunders übrig – also eine Art Okkasionalismus. Sind sie aber einmal vernünftig gemacht und des Bewußtseins und der Gemeinschaft mit Gott fähig geworden, so legen sie meiner Meinung nach nie den Charakter eines Bürgers des Staates Gottes ab, und da dieser Staat auf die schönste und gerechteste Weise regiert wird, so ist es nur vernunftgemäß, daß die Seele wegen des Parallelismus zwischen den Reichen der Natur und der Gnade durch die Naturgesetze selbst kraft ihrer eigenen Handlungen zur Belohnung und Züchtigung passender gemacht wird. Und in diesem Sinne kann man allerdings sagen, daß die Tugend ihren Lohn, das Laster seine Strafe in sich trage, weil durch eine gewisse Folge sich für den letzten natürlichen Zustand der Seele, je nachdem dieselbe entsühnt oder nicht entsühnt abscheidet, eine Art Scheidewand erhebt, die von Gott im voraus in der Natur eingerichtet ist und den göttlichen Verheißungen und Drohungen, also der Gnade und der Gerechtigkeit entspricht, wozu auch noch, je nachdem wir uns einem von beiden zugesellt haben, die Vermittlung durch die guten und bösen Handlungen der Genien kommt, deren Tätigkeit durchaus natürlich ist, wenn auch ihre Natur erhabener ist als die unsere. Sehen wir doch, wie ein Mensch, der aus tiefem Schlafe erwacht oder sogar, vom Schlage getroffen, wieder zu sich kommt, die Erinnerung an den frühern Zustand wiederzuerlangen pflegt. Das nämliche muß vom Tode gesagt werden, der zwar unsere Vorstellungen dunkel und verworren machen kann, sie aber nicht völlig aus dem Gedächtnisse zu entfernen vermag, bei dessen wiederkehrendem Gebrauch auch die Belohnungen und Strafen statthaben. Daher hat selbst der Erlöser den Tod mit dem Schlafe verglichen. Den für die göttliche Gemeinschaft und das Recht unbefähigten Tieren aber kann die Erhaltung der Individualität und die moralische Unsterblichkeit nicht beigelegt werden.

6. Niemand braucht daher vor gefährlichen Folgerungen aus dieser Lehre Furcht zu haben, da vielmehr die wahre natürliche Theologie, die nicht bloß der offenbarten Wahrheit nicht widerstreitet, sondern sie sogar ungemein unterstützt, auf die schönste Weise aus meinen Prinzipien bewiesen wird. Diejenigen aber, die den Tieren die Seele und den andern Teilen des Stoffs jede Vorstellung und jeden Organismus absprechen, diese haben keine hinlängliche Kenntnis von der göttlichen Majestät, da sie etwas Gottes Unwürdiges und Ungeordnetes annehmen, nämlich eine Lücke in den Vollkommenheiten oder zwischen den Formen, die man eine metaphysische nennen kann und die nicht weniger zu verwerfen ist als die Lücke im Stoffe oder das physische Vakuum. Diejenigen dagegen, die den Tieren wahre Seelen und Vorstellungen beilegen und dennoch behaupten, daß die Seelen derselben auf natürliche Weise untergehen könnten, rauben uns zugleich den Beweis, durch welchen dargetan wird, daß unsere Seelen auf natürlichem Wege nicht vergehen können, und verfallen in die Ketzerei der Sozinianer, denen zufolge die Seelen nur auf wunderbare Weise oder durch die Gnade erhalten bleiben, während sie von Natur untergehen müssen, was die natürliche Theologie um den größten Teil verkürzen heißt. Überdies ist schlechterdings das Gegenteil erwiesen, da eine Substanz, die keine Teile hat, nicht auf natürlichem Wege zerstört werden kann. Diese Behauptung ist bereits in Anm. 102 beleuchtet worden.


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