Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II. Auszug aus einem Briefe an Arnauld über einige Gegenstände der Metaphysik und Physik

... Der Körper ist eine Anhäufung von Substanzen und nicht eine Substanz im eigentlichen Sinne. Folglich müssen sich überall im Körper unteilbare, unerzeugbare und unzerstörbare Substanzen finden, die etwas der Seele Entsprechendes haben. Alle diese Substanzen sind immer mit organischen, mannigfacher Umgestaltung fähigen Körpern verbunden gewesen und werden es immer sein. Jede dieser Substanzen schließt vermöge ihrer Natur legem continuationis seriei suarum operationum Das Gesetz der Aufeinanderfolge ihrer Verrichtungen. und alles, was ihr geschehen ist und geschehen wird, in sich. Alle ihre Handlungen entstammen ihrem eigenen Vermögen, ausgenommen die Abhängigkeit von Gott. Jede Substanz spiegelt das ganze Universum wider, eine jedoch deutlicher als die andere, jede überhaupt in Hinsicht auf bestimmte Dinge und ihrem Gesichtspunkte gemäß. Die Verbindung der Seele mit dem Körper und sogar die Wirkung einer Substanz auf die andere besteht einzig in dieser vollkommenen gegenseitigen Übereinstimmung, die ausdrücklich durch die Anordnung bei der ersten Schöpfung festgestellt worden ist und der zufolge jede Substanz nach ihren eigenen Gesetzen mit dem zusammentrifft, was die übrigen verlangen, so daß auf diese Weise die Verrichtungen der einen der Verrichtung oder Veränderung der andern folgen oder dieselbe begleiten. Die mit Verstand ausgerüsteten Substanzen oder mit der Fähigkeit der Überlegung und der Erkenntnis Gottes und der ewigen Wahrheiten begabten Seelen haben viele Vorrechte, infolge deren sie von der Zerrüttung, welche die Körper trifft, verschont bleiben, und hinsichtlich ihrer müssen die moralischen mit den physischen Gesetzen verknüpft werden. Alle Dinge sind hauptsächlich für sie geschaffen. Sie bilden zusammen den Weltstaat, dessen Monarch Gott ist. In diesem Gottesstaate wird eine vollkommene Gerechtigkeit und Verwaltung innegehalten und bleibt keine böse Handlung ohne Strafe, keine gute ohne angemessene Belohnung. Je mehr man die Dinge erkennt, um so schöner, um so mehr den Wünschen eines Weisen entsprechend wird man sie finden. Man muß immer mit der Ordnung der Vergangenheit zufrieden sein, weil dieselbe dem unumschränkten Willen Gottes entspricht, der durch das Ergebnis kund wird, aber man muß sich auch bemühen, die Zukunft, soweit es von uns abhängt, mit dem mutmaßlichen Willen Gottes oder seinen Geboten in Übereinstimmung zu bringen; wir müssen unser Sparta schmücken und uns bestreben, Gutes zu tun, ohne uns jedoch zu betrüben, wenn der Erfolg ausbleibt, in dem festen Vertrauen, daß Gott schon die für die Veränderung zum Bessern geeignetste Zeit zu finden wissen wird. Schon in dieser ersten Skizze offenbart sich der Widerspruch, den das Leibnizsche System bezüglich der Willensfreiheit enthält: Denn wenn die mit Verstand ausgerüsteten Substanzen oder die Seelen nach ausdrücklicher Anordnung bei der ersten Schöpfung »das Gesetz der Aufeinanderfolge ihrer Verrichtungen und alles, was ihnen geschehen ist und geschehen wird«, ein für allemal in sich tragen, und wenn die Einwirkung einer Substanz auf die andere »einzig in der vollkommenen gegenseitigen Übereinstimmung besteht, derzufolge jede Substanz nach ihren eigenen Gesetzen mit dem zusammentrifft, was die übrigen verlangen«, so ist es durchaus unbegreiflich, inwieweit es von uns abhängt, uns mit dem mutmaßlichen Willen Gottes in Übereinstimmung zu bringen. Unsere Seele kann nicht anders denken und unser Körper nicht anders handeln, als Gott es von Ewigkeit her festgesetzt hat, von einem »Sichbemühen« kann daher in keiner Weise die Rede sein, da dies Bemühen ebenfalls eine Verrichtung der Substanz und als solche in der von Gott bestimmten Reihenfolge dieser Verrichtungen mit enthalten ist. Leibniz verneint also im Grunde genommen die Freiheit, da er aber das Wort nicht entbehren mochte, so legte er demselben einen Begriff unter, der die reine Verneinung des üblichen Begriffs ist. Vgl. Anm. 22 und Theodizee, 1. Bd., Erl. 115. Alle, welche nicht mit der Ordnung der Dinge zufrieden sind, dürfen sich nicht rühmen, daß sie Gott lieben, wie es sich gehört. Die Gerechtigkeit ist nichts anderes als die Nächstenliebe des Weisen. Die Nächstenliebe ist ein allumfassendes Wohlwollen, dessen Betätigung der Weise der Vernunft angemessen verteilt, um das größte Gut zu erlangen. Die Weisheit aber ist die Wissenschaft des Glücks oder der Mittel, zu einer dauernden Zufriedenheit zu gelangen, die in einer steten Annäherung an eine größere Vollkommenheit oder zum wenigsten in der Abwechslung innerhalb des nämlichen Grades der Vollkommenheit besteht.

In betreff der Physik muß man die Natur der Kraft kennen, die ganz verschieden ist von der Bewegung, einer mehr relativen Sache. Diese Kraft muß an der Menge der Wirkung gemessen werden. Es gibt eine unbedingte, eine Richtung erteilende und eine bezügliche Kraft. Jede von diesen Kräften erhält sich im Universum oder einer nicht mit andern in Verbindung stehenden Maschine in gleicher Stärke, und die beiden letztern Kräfte bilden zusammen die erstere oder unbedingte Kraft. Die nämliche Menge von Bewegung erhält sich dagegen nicht, da sonst, wie ich zeige, die ewig dauernde Bewegung gefunden und die Wirkung stärker sein würde als ihre Ursache. Unter unbedingter Kraft (force absolue) versteht Leibniz die gesamte überhaupt im Universum enthaltene Kraft, die nach ihm in die Richtung erteilende (force directive) und in die bezügliche Kraft (force respective) zerfällt, wobei unter letzterer die Rückwirkung (réaction) oder das Mittlere zwischen dem Vermögen zu handeln und dem Handeln selbst (also der Druck) zu verstehen ist; vgl. Anm. 138. ? Mit der »ewig dauernden Bewegung« ist das perpetuum mobile gemeint.


 << zurück weiter >>