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XII. Bemerkung über eine Stelle der Mémoires de Trevoux vom März 1704

Der ehrwürdige Pater Tournemine Der Pater Tournemine gehörte dem Jesuitenorden an und war einer der Herausgeber des »Journal de Trevoux«, einer philosophischen Revue, die unter dem Titel »Mémoires pour servir à l'histoire des sciences et des beaux-arts« von 1701 bis 1763 in Trevoux herauskam. Die ersten Jahrgänge dieser Zeitschrift enthielten unter anderm auch die »Aufstellungen (conjectures)«, die Leibniz hier erwähnt und in denen Tournemine im Anschluß an die Leibnizsche Hypothese eine neue Erklärung für das einmütige Zusammenwirken des Körpers und der Seele zu geben suchte; s. Anm. 94. Später machte sich der ruhm- und herrschsüchtige Pater weniger vorteilhaft durch die Intrigen bekannt, durch welche er die Aufnahme Montesquieus in die Akademie zu hintertreiben suchte. hat in einer seiner Aufstellungen, mit denen die Mémoires de Trevoux uns bekannt gemacht haben und die in der Regel geistreich erdacht sind, so verbindlich von mir gesprochen, daß ich unrecht täte, wenn ich mich beklagte, daß er mir einen Einwurf gegen die Cartesianer D. h. die Okkasionalisten. Siehe Anm. 45. zur Last legt, dessen ich mich nicht erinnere, und der offenbar gegen mich selbst gekehrt werden kann. Ich erkläre indessen, daß ich, falls ich jenen Einwurf je gemacht habe, denselben jetzt zurücknehme und daß ich diese Erklärung schon früher abgegeben haben würde, wenn ich die betreffende Stelle der Mémoires nicht so spät bemerkt hätte.

Es muß eingeräumt werden, daß ich sehr im Unrecht sein würde, wenn ich den Cartesianern einwerfen wollte, daß die Übereinstimmung, welche Gott nach ihrer Ansicht unmittelbar zwischen der Seele und dem Körper unterhält, keine wahrhafte Verbindung begründe, da sicherlich auch meine vorherbestimmte Harmonie keine engere begründen kann.

Meine Ansicht war, das, was sie durch fortwährende Wunder erklären, auf natürliche Weise zu erklären: und ich habe nur versucht, von den Erscheinungen Rechenschaft zu geben, d. h. von der Beziehung, die man zwischen der Seele und dem Körper wahrnimmt.

Da aber die metaphysische Verbindung, die man dabei annimmt, keine Erscheinung ist, und da man nicht einmal einen faßlichen Begriff davon gegeben hat, so habe ich es auch nicht auf mich genommen, den Grund dafür aufzusuchen. Damit erkennt Leibniz selbst an, daß seiner Hypothese kein Grund für die Übereinstimmung der Tätigkeit des Körpers und der Seele entnommen werden könne, daß also seine »Erklärung der Erscheinung« trotz all seiner Versicherungen des Gegenteils nichts anderes ist als eine willkürliche Annahme, die nur dann von Bedeutung sein würde, wenn sich alle Einzelheiten der Erscheinung auf zwanglose Weise daraus erklären ließen, was eben nicht der Fall ist.

Indessen bestreite ich nicht, daß es etwas Derartiges gibt: Es mag sich damit ungefähr ebenso verhalten wie mit der Gegenwart, deren Begriff man bis jetzt ebensowenig erläutert hat, wenn man ihn auf die unkörperlichen Dinge anwandte und die Gegenwart von den sie begleitenden harmonischen Beziehungen unterschied, die ebenfalls Erscheinungen sind, welche sich zur Bezeichnung des Ortes des unkörperlichen Dinges eignen. Da die unkörperlichen Dinge keine Ausdehnung haben, können sie auch in keiner Beziehung zum Raume stehen, und daher kann nicht einmal vergleichsweise vom Orte oder der Gegenwart eines Geistes die Rede sein. Vgl. Anm. 199.

Nachdem wir bei den stofflichen Dingen eine Verbindung und eine Gegenwart wahrgenommen haben, schließen wir, daß irgend etwas Ähnliches auch bei den unstofflichen bestehe, aber insofern wir kein Mehreres davon wahrnehmen können, haben wir nur dunkle Begriffe davon.

Es ist gerade wie bei den Mysterien, wo wir ebenfalls das, was wir beim gewöhnlichen Lauf der erschaffenen Dinge wahrnehmen, zu etwas Erhabenerm zu erheben suchen, welches dem in bezug auf die Natur und die Macht Gottes entsprechen könne, ohne daß wir etwas erfassen könnten, was hinlänglich geeignet wäre, eine in allen Punkten begreifliche Definition zu bilden.

Eben deshalb kann man auch über derartige Mysterien weder vollkommen Rechenschaft geben noch sie hier auf Erden vollständig begreifen. Es ist etwas mehr vorhanden als einfache Worte, indessen gibt es nichts, was zu einer genauen Deutung der Ausdrücke führte. Eine eingehende Erörterung haben die hier berührten Punkte in der Theodizee gefunden, s. Theodizee, 1. Bd., A. § 54, 55 und Erl. 80, 81.

Ich höre noch, daß man in die Mémoires den nämlichen Bericht über die Erfindung und Ausbildung meiner Infinitesimalrechnung aufgenommen hat, der sich in den Nouvelles de la République des Lettres vom Februar 1706 findet und den ich mit Zustimmung und gemäß dem Rate des Herrn Bernoulli im folgenden Hefte jener Nouvelles zu widerlegen mich genötigt sah. In diesem Falle ist es nur gerecht, daß man auch an dieser Stelle von jener Widerlegung in Kenntnis gesetzt werde, zu der noch hinzuzufügen ist, daß Herr de Fontenelle das in Abrede stellt, was ihm bezüglich dieses Gegenstandes nachgesagt worden ist. Wenn man etwas berichtet, was in einer ein wenig ausgedehnten Erörterung mündlich gesagt worden ist, läuft man eben Gefahr, sich zu irren. Diese Reklamation bezieht sich auf den berüchtigten Streit zwischen Leibniz und Newton über die Priorität der Erfindung der Infinitesimalrechnung. Leibniz hatte auf eine ihn des Plagiats beschuldigende Darstellung der Angelegenheit in den »Nouvelles de la république des lettres« eine Berichtigung eingesandt, die auch in diesem Journale zum Abdruck kam. Dadurch aufmerksam gemacht, brachte dann auch das »Journal de Trevoux« eine Berichtigung des von ihm auszugsweise mitgeteilten Angriffs auf Leibniz unter dem Titel »Lettre de Mr. Leibniz sur quelques faits qui le regardent, mal expliqués dans l'éloge de M. Bernoulli« im Märzhefte des Jahrgangs 1707.

Antwort Tournemines

Herr Leibniz schuldet mir durchaus keinen Dank für die Lobsprüche, die ich ihm erteilt habe. Ich dachte nicht daran, mich dadurch auszuzeichnen, daß ich etwa weniger günstig über ihn urteilte, als alle Gelehrten dies tun. Die Furcht, sich selbst in übeln Ruf zu bringen, verpflichtet immer, einen Mann wie ihn zu loben.

Was den Einwurf gegen die Cartesianer betrifft, den er in Abrede stellt, so bin ich bereit, ihm Glauben zu schenken, obgleich mein Gedächtnis mir jenen Einwurf noch immer vorstellt, als hätte ich ihn vor mehreren Jahren in einer jener Schriften gelesen, mit denen Herr Leibniz die Pariser Zeitschrift D. h. das Journal des Savaris, das 1665 von dem Parlamentsrate de Sallo ins Leben gerufen worden war. bereichert hat. Im übrigen ist es für mein System der Verbindung zwischen der Seele und dem Körper sehr gleichgültig, ob Herr Leibniz jenen Einwurf gegen die Cartesianer aufgestellt hat, als äußerst wichtig aber betrachte ich das hier von ihm gemachte Zugeständnis, daß seine vorherbestimmte Harmonie nicht hinreicht, um eine wahrhafte Verbindung zwischen dem Körper und der Seele herzustellen.

Diese Verbindung ist kein metaphysischer Begriff, wie Herr Leibniz behauptet. Der Körper ist wirklich und physisch mit der Seele verbunden, mehr als zwei vollkommen gleiche Uhren miteinander verbunden sind. Die Beziehung der Bewegungen des Körpers zu den Gedanken und Affekten der Seele kann immer nur für eine Folge der Verbindung gelten, und obgleich Herr Leibniz diese Beziehung glücklicher erklärt als die Cartesianer, erklärt er doch die Verbindung nicht, die ich durch die Aufstellungen zu erklären gesucht habe, die ihm nicht mißfallen haben. Nichtsdestoweniger behaupte ich durchaus nicht, daß ich das Rechte getroffen hätte: ich habe nur Mutmaßungen und keine Beweise gegeben; aber ich behaupte, daß diejenigen, welche nur von der Beziehung der Bewegungen des Körpers zu den Empfindungen der Seele Rechenschaft geben wollen, die Bahn noch gar nicht betreten haben, um den Preis streitig zu machen. Die Aufstellungen Tournemines bilden nur eine Variante des Leibnizschen Systems. Wie der Erfinder der vorherbestimmten Harmonie bestreitet auch Tournemine jede Beeinflussung der Seele durch die Körperwelt, läßt aber – und eben darin besteht nach ihm »die wirkliche und physische Verbindung« zwischen Leib und Seele – dann im Gegensatze zu Leibniz den Körper völlig von der Seele abhängig sein und bestimmt werden. Da indessen auch bei ihm diese letztere eine absolut einfache und rein geistige Substanz ist, so bleibt es rätselhaft, auf welchem Wege jene Einwirkung auf den stofflichen, aus vielen Teilen zusammengesetzten Körper vor sich gehen soll, und die Tourneminesche Hypothese erscheint daher von vornherein nicht weniger dunkel und unwahrscheinlich als die Leibnizsche.

Dem von Herrn Leibniz ausgesprochenen Wunsche sind wir bereits zuvorgekommen: sein Brief über die Erfindung der Infinitesimalrechnung findet sich in den Mémoires vom März 1707, Seite 540. Siehe Anm. 92.


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