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III. Neues System über die Natur, über den Verkehr zwischen den Substanzen und über die Verbindung zwischen Seele und Körper

1. Das vorliegende System habe ich bereits vor mehreren Jahren entworfen und darüber mit gelehrten Männern, namentlich aber mit einem der größten Theologen und Philosophen unserer Zeit verhandelt, der, nachdem er durch eine Person von höchstem Stande von einigen meiner Ansichten unterrichtet worden war, dieselben höchst sonderbar gefunden hatte. Nach Empfang meiner nähern Erläuterungen nahm er jedoch seine Worte in der edelmütigsten und erbaulichsten Weise zurück und ließ, nachdem er einen Teil meiner Sätze gebilligt hatte, auch den Widerspruch gegen die übrigen fallen, mit denen er noch nicht sogleich einverstanden war. Seit jener Zeit habe ich je nach Gelegenheit meine Betrachtungen fortgesetzt, um dem Publikum nur wohlerwogene Ansichten vorzulegen, und habe zugleich versucht, den Einwänden zu begegnen, die gegen meine Versuche über die Dynamik, welche mit dem vorliegenden Gegenstande in Verbindung stehen, geltend gemacht worden sind. Die erwähnten Versuche über die Dynamik erschienen im April 1695 in den »Actis Eruditorum« unter dem Titel: »Specimen dynamicum pro admirandis naturae legibus circa corporum vires et mutuas actiones detegendis et ad suas causas revocandis.« Da nun endlich schätzenswerte Personen dem Wunsche Ausdruck gaben, meine Ansichten deutlicher dargelegt zu sehen, so habe ich mich mit den hier vorliegenden Bemerkungen hervorgewagt, obgleich dieselben keineswegs gemeinverständlich noch geeignet sind, jeder geistigen Art zu gefallen. Ich habe mich hauptsächlich zu dieser Veröffentlichung entschlossen, um von dem Urteile derer Vorteil zu ziehen, die in diesen Gegenständen bewandert sind, da es zu umständlich sein würde, diejenigen einzeln aufzusuchen und aufzufordern, die geneigt wären, mir Belehrung zuteil werden zu lassen, die ich immer mit Freuden entgegennehmen werde, vorausgesetzt, daß darin die Liebe zur Wahrheit zutage tritt statt der Leidenschaft für die Meinung, für die man eingenommen ist.

2. Obgleich ich zu denen gehöre, die sich eingehend mit den mathematischen Wissenschaften befaßt haben, habe ich nichtsdestoweniger von Jugend auf auch über die Philosophie Betrachtungen angestellt, denn mir schien immer, daß es Mittel gäbe, durch klare Beweise etwas Zuverlässiges in derselben festzustellen. Ich war schon tief in das Gebiet der Scholastik eingedrungen, als die Mathematik und die neuern Autoren mich noch in früher Jugend davon abzogen. Die schöne Manier derselben, die Natur auf mechanische Weise zu erklären, entzückte mich, und mit Recht verachtete ich die Methode derer, die nur Formen oder Vermögen dazu benutzen, von denen man nichts erlernt. Formen (formae) nannten die Scholastiker die Urbilder der erschaffenen Dinge, die (nach Thomas von Aquino) schon vor den Dingen im Verstande Gottes existierten. Diese reinen Formen, die Leibniz zum Unterschiede von den Seelen konstitutive nennt (§ 4), galten für das Prinzip der Formen der materiellen Dinge, an denen wieder die substantiellen Formen (formae substantiales) oder das Wesen von den akzidentellen Formen (formae accidentales) oder dem Unwesentlichen unterschieden wurden. Da aber in diesen Formen oder Ideen schon die ganze Vielfältigkeit und Verflechtung im Bau und der Einrichtung des Seienden enthalten war, das man doch eben auf einfache Gesetze zurückgeführt haben wollte, so konnte diese Lehre Leibniz ebensowenig befriedigen wie die Hypothese von den vier Vermögen der Seele, durch welche die Scholastiker die Sinnesoperationen und die Verstandestätigkeit zu erklären suchten, denn auch für die Wirksamkeit dieser Vermögen fehlten die Gesetze, nach denen man verlangte. Aber seitdem ich versuchte, den Prinzipien der Mechanik selbst auf den Grund zu kommen, um Naturgesetze zu begründen, welche die Erfahrung uns kennen lehrt, ward ich inne, daß die bloße Inbetrachtnahme einer ausgedehnten Masse nicht hinreichte und daß noch der Begriff der Kraft benutzt werden müsse, der sehr verständlich ist, obschon er zum Gebiet der Metaphysik gehört. Auch schien mir die Meinung derer, welche die Tiere zu reinen Maschinen machen oder erniedrigen, obgleich sie den Anschein der Möglichkeit für sich hat, doch der Wahrscheinlichkeit und sogar der Ordnung der Natur entgegen. Die Definition der körperlichen Substanz als einer ausgedehnten Masse und die Behauptung, die Tiere seien bloße Automaten, belebte, aber empfindungslose Maschinen (da sie sonst eine unsterbliche Seele haben müßten), sind bekannte Aufstellungen des Cartesius. – Die paradoxe Behauptung, der Begriff der Kraft gehöre zum Gebiet der Metaphysik, wird erklärlich, wenn man bedenkt, daß Leibniz die Kraft hier als Streben seiner Monade von einer Vorstellung zur andern auffaßt und sie damit allerdings zu einem Gegenstande der Metaphysik macht.

3. Anfangs, als ich mich vom Joche des Aristoteles befreit hatte, war ich auf das Leere und die Atome verfallen, da diese Anschauung die Einbildungskraft am besten sättigt; nachdem ich aber von dieser Auffassung zurückgekommen, entdeckte ich nach vielem Nachdenken, daß es unmöglich ist, die Prinzipien einer wahren Einheit im Stoffe allein oder in dem, was sich rein leidend verhält, aufzufinden, weil hier alles nur Ansammlung oder Anhäufung von Teilen ohne Ende ist. Da nun aber die Menge ihre Wirklichkeit nur von wahren Einheiten erhalten kann, die anderswoher kommen und etwas ganz anderes sind als die Punkte, aus denen das Stetige erwiesenermaßen nicht zusammengesetzt sein kann, so war ich, um jene wirklichen Einheiten aufzufinden, genötigt, meine Zuflucht zu einem formalen Atome zu nehmen, da ein stoffliches Wesen nicht gleichzeitig stofflich und doch vollkommen unteilbar oder mit einer wahren Einheit begabt sein kann. Ich mußte also die heutzutage so verrufenen substantiellen Formen wieder ins Leben rufen und gleichsam von neuem zu Ehren bringen, aber in einer Weise, die sie verständlich machte und den Gebrauch, den man von ihnen machen darf, von dem Mißbrauch abschied, der damit getrieben worden ist. So fand ich, daß ihr Wesen in der Kraft besteht, daß aus diesem Wesen etwas dem Gefühlsvermögen und dem Begehren Ähnliches folgt, und daß sie daher in Annäherung an den Begriff aufgefaßt werden müssen, den wir von den Seelen haben. Da aber die Seele nicht benutzt werden darf, um das Einzelne im Bau und der Einrichtung des Tierkörpers zu begründen, so schloß ich, daß man auch diese Formen nicht zur Erklärung der besondern Probleme der Natur benutzen dürfe, obgleich sie für die Aufstellung wahrer allgemeiner Prinzipien unentbehrlich sind. Aristoteles nennt sie erste Entelechien; ich nenne sie, vielleicht verständlicher, ursprüngliche Kräfte, Kräfte, die nicht bloß die Wirkung oder die Ergänzung der Möglichkeit, sondern auch eine ursprüngliche Tätigkeit in sich schließen.

4. Ich sah ein, daß diese Formen und diese Seelen unteilbar sein müßten wie unser Geist, wie ich mich denn auch erinnerte, daß dies in der Tat die Ansicht des heiligen Thomas bezüglich der Tierseelen gewesen ist. Aber diese Wahrheit erneuerte die großen Schwierigkeiten hinsichtlich des Ursprungs und der Dauer der Seelen und der Formen. Denn da jede Substanz, die eine wahre Einheit besitzt, nur durch ein Wunder ihren Anfang wie ihr Ende nehmen kann, so folgt, daß sie nur durch Schöpfung beginnen und nur durch Vernichtung enden können. So war ich denn, von den Seelen abgesehen, die Gott noch ausdrücklich erschaffen kann, zu dem Anerkenntnis genötigt, daß die konstitutiven Formen der Substanzen mit der Welt geschaffen worden sind und immer fortbestehen. Auch einige Scholastiker wie Albertus Magnus und John Bacon hatten einen Teil der Wahrheit über deren Ursprung erkannt, und die ganze Sache kann durchaus nicht ungewöhnlich erscheinen, da ich ja den Formen nur die Dauer gebe, welche die Gassendisten auch ihren Atomen beilegen. John Bacon oder Baconthorp (gest. 1346) gehörte dem Karmeliterorden an und schrieb neben einem Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus ein Werk Quaestiones quodlibetales, in welchem er vorzugsweise dem Kommentar des Averroës zu den Aristotelischen Schriften folgte und demgemäß den Formen die Realität innerhalb der Einzeldinge zusprach. – Pierre Gassendi, von Bayle als der größte Gelehrte unter den Philosophen und der größte Philosoph unter den Gelehrten seiner Zeit bezeichnet, war 1592 zu Chantarsier in der Provence geboren, ward mit 19 Jahren Lehrer der Philosophie in Dijon, erhielt 1645 die Stelle eines Professors am College royal in Paris und starb dort i. J. 1655. Sein größtes Verdienst beruht auf den noch heute in Ansehn stehenden Werken »De vita, moribus et placitis Epicuri« (1647) und »Syntagma philosophiae Epicuri« (1649), in denen er neben einer berichtigenden Darstellung des Lebens und Charakters Epikurs zugleich eine gewissenhafte Entwicklung und Erläuterung der Lehre dieses Philosophen gab. Durch diese Schriften wurde die Aufmerksamkeit der Philosophen zuerst wieder auf die Atomlehre gelenkt, und man nannte daher die Physiker, welche der Wirbeltheorie Descartes' mit atomistischen Theorien entgegentraten, Gassendisten, ohne sie jedoch damit als Anhänger des (allerdings ebenfalls atomistischen) eignen Systems Gassendis bezeichnen zu wollen.

5. Ich meinte jedoch, man dürfe die Geister und die vernünftige Seele nicht unterschiedslos mit diesen Formen zusammenwerfen, weil sie höherer Art sind und unvergleichlich mehr Vollkommenheit besitzen als die in den Stoff eingetriebenen Formen, so daß sie diesen gegenüber kleine, nach dem Bilde Gottes geschaffene Götter sind, die einen Strahl vom Lichte der Gottheit in sich tragen. Eben deshalb regiert Gott die Geister, wie ein Fürst seine Untertanen regiert und sogar wie ein Vater für seine Kinder sorgt, während er mit den übrigen Substanzen wie ein Ingenieur mit seinen Maschinen verfährt. Daher gelten für die Geister besondere Gesetze, die sie über die Zerrüttungen des Stoffs erheben, und man darf behaupten, daß alles übrige nur für sie gemacht ist, da selbst jene Zerrüttungen und Umwälzungen für die Glückseligkeit der Guten und die Züchtigung der Bösen eingerichtet sind.

6. Indessen könnte, um auf die gewöhnlichen Formen oder die materiellen Seelen zurückzukommen, die Dauer, die man diesen an Stelle derjenigen zuerkennen muß, die man den Atomen beigelegt hatte, es zweifelhaft machen, ob sie nicht von Körper zu Körper übergehen, was dann die Seelenwanderung sein würde, ungefähr wie einige Philosophen die Übertragung der Bewegung und der Spezies Der Ausdruck Species (espèce) bezeichnet hier nicht die Art (einer Gattung), sondern das die Art auszeichnende, eigentümliche Merkmal, die spezifische Eigenschaft. aufgefaßt haben. Allein dieser Gedanke ist weit vom wahren Wesen der Dinge entfernt. Es gibt keinen solchen Übergang, und hier nun sind die Umgestaltungen der Herren Swammerdam, Malpighi und Leeuwenhoek, die zu den ausgezeichnetsten Forschern unserer Zeit gehören, mir zu Hilfe gekommen und haben mir die Annahme erleichtert, daß das Tier und jede andere organisierte Substanz nicht anfängt, wann wir es glauben, und daß seine anscheinende Erzeugung nur eine Entwicklung und eine Art Vermehrung ist. Auch der Verfasser der Erforschung der Wahrheit sowie Herr Regis, Herr Hartsoeker und andere tüchtige Männer sind nicht weit von dieser Ansicht entfernt gewesen, wie ich bemerkt habe. Einzig die epochemachende Entdeckung der Samentiere durch Ant. von Leeuwenhoek (1632-1723) veranlaßte Leibniz zu der hier entwickelten Fortbildung seines Systems bezüglich der Fortdauer der organisierten Körper, die uns heute sehr befremdlich erscheint, aber begreiflich wird, wenn man bedenkt, daß man sich damals sozusagen durch das Mikroskop blind guckte und im Samen des Pferdes schon das kleine Füllen, im Blütenstaub der Linde schon die kleine Linde erblickte. Johann Swammerdam (1637-1680), der Sohn eines Amsterdamer Apothekers, der in spätem Jahren zum Schwärmer wurde und zu den Anhängern der Bourignon gehörte, sowie Marcello Malpighi (1628-1693), der 1656 Professor der Medizin in Bologna und später Leibarzt Innocenz' XII. wurde, und Nicolaus Hartsoeker (1656-1725) vervollkommten diese Entdeckung nach der physikalischen Seite hin, während Pierre Sylvain Regis (1632-1707) und Malebranche, der Verfasser der Erforschung der Wahrheit, dieselbe in ihre Spekulationen verflochten.

7. Aber es blieb noch die bedeutendste Frage: was nämlich aus diesen Seelen oder Formen durch den Tod des Tieres oder die Zerstörung des Individuums der organisierten Substanz wird. Diese Frage setzt am meisten in Verlegenheit, um so mehr, da es wenig vernunftgemäß erscheint, daß die Seelen zweckloserweise in einem Chaos verworrenen Stoffs verbleiben. Dies hat mich endlich zu der Ansicht gebracht, daß hier nur ein einziger vernünftiger Ausweg bleibt, nämlich die Annahme der Erhaltung nicht bloß der Seele, sondern auch des Tieres selbst und seiner organischen Maschine, wenn auch die Zerstörung der grobem Teile dieselbe zu einer Kleinheit herabgebracht hat, die für unsere Sinne ebensowenig wahrnehmbar ist wie jene, die ihm vor seiner Geburt eigen war. Auch vermag niemand den wirklichen Zeitpunkt des Todes genau anzugeben; derselbe kann lange Zeit für eine einfache Unterbrechung der bemerkbaren Lebenstätigkeiten gelten und ist im Grunde genommen auch bei den niedern Tieren niemals etwas anderes, wie das Wiedererwachen ertränkter und dann mit pulverisierter Kreide bedeckter Fliegen und mehrere ähnliche Beispiele beweisen, die zur Genüge zeigen, daß es noch viele andere Auferstehungen und nach weit längerer Zeit geben würde, wenn die Menschen die Körpermaschine wieder instand zu setzen vermöchten. Der große Demokrit scheint, so sehr er Atomist war, doch von etwas Ähnlichem gesprochen zu haben, wenn auch Plinius sich darüber lustig macht. Es ist daher nur natürlich, daß das Tier, da es – wie Männer von großem Scharfsinn anzuerkennen beginnen – immer lebendig und organisiert gewesen ist, dies auch immer bleibt. Und da es sonach weder eine erste Geburt noch eine völlig neue Zeugung des Tieres gibt, so folgt, daß es auch keine schließliche Vernichtung desselben noch einen Tod im streng metaphysischen Sinne geben wird, und daß folglich statt der Seelenwanderung nur eine Umgestaltung des nämlichen Tieres besteht, je nachdem die Organe desselben verschieden gestaltet und mehr oder weniger entwickelt sind.

8. Die vernünftigen Seelen indessen folgen höhern Gesetzen und bleiben von allem verschont, was sie ihrer Eigenschaft als Bürger der Genossenschaft der Geister berauben könnte, da Gott dafür gesorgt hat, daß alle Veränderungen des Stoffs sie nicht um die moralischen Eigenschaften ihrer Persönlichkeit bringen können. Auch darf man behaupten, daß alles auf die Vervollkommnung abzielt, auf die Vervollkommnung nicht bloß des Universums im allgemeinen, sondern auch dieser Geschöpfe im besondern, die zu einem solchen Grade des Glücks bestimmt sind, daß das Universum infolge der göttlichen Güte, die sich auf jedes einzelne erstreckt, soweit die Weisheit es gestattet, sich dabei beteiligt findet.

9. Was den gewöhnlichen Verlauf des Daseins der Tiere und anderer körperlicher Substanzen anlangt, bezüglich derer man bisher einen völligen Untergang annahm und deren Veränderungen mehr von mechanischen Regeln als von moralischen Gesetzen abhängen, so bemerkte ich mit Vergnügen, daß der alte Autor der Schrift von der Lebensordnung, die man dem Hippokrates beilegt, einiges von der Wahrheit erkannt hatte, indem er mit ausdrücklichen Worten sagt, daß die Tiere nicht geboren werden und nicht sterben und daß die Dinge, denen man einen Anfang und ein Ende zuschreibt, eben nur erscheinen und wieder verschwinden. Dies war auch die Ansicht des Parmenides und des Melissos bei Aristoteles, denn diese Alten waren gründlicher, als man glaubt. Parmenides von Elea und sein Schüler Melissos von Samos lehrten allerdings, daß es kein Werden und Vergehen gebe aber in einem ganz andern als dem Leibnizschen Sinne. Sie faßten die Sinnenwelt überhaupt als täuschenden Schein auf, dem dem Einen wahren Seienden gegenüber nur die Bedeutung des Nicht-Seienden zukomme, das gar nicht erkannt werden könne. Von dieser Negation des Werdens oder der Veränderung ist aber Leibniz weit entfernt, er erkennt vielmehr die Veränderung durchaus als ein Seiendes an und legt also hier die Aussprüche der Eleaten ungefähr in derselben Weise zu seinen Gunsten aus, wie Chrysippos die Volksreligion zugunsten der stoischen Lehre umdeutete. -- Der Verfasser der in § 10 erwähnten »Entretiens sur la pluralité des mondes« ist Fontenelle (1657-1757).

10. Ich bin gewiß geneigt, den Neuern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Indessen finde ich, daß dieselben die Reform zu weit getrieben haben, unter anderm auch darin, daß sie die natürlichen Dinge mit den künstlichen vermengten, weil sie keine hinlänglich große Vorstellung von der Majestät der Natur hatten. Sie meinen, der Unterschied zwischen deren Maschinen und den unsern sei nur der zwischen Groß und Klein, was vor kurzem einen sehr tüchtigen Mann, den Verfasser der Unterhaltungen über die Vielheit der Welten, zu der Bemerkung verleitet hat, wenn man die Natur in der Nähe betrachte, so finde man sie weniger bewundernswert, als man glaubte, da sie nur der Werkstatt eines Handwerkers gleiche. Ich glaube, das heißt keine hinlänglich hohe Vorstellung von ihr geben, und nur mein System zeigt endlich den wahren und ungeheuren Abstand zwischen den geringfügigsten Hervorbringungen und Mechanismen der göttlichen Weisheit und den größten Meisterwerken der Kunst eines begrenzten Geistes, da dieser Unterschied nicht allein im Grade, sondern sogar in der Art besteht. Die Maschinen der Natur haben nämlich eine wirklich unendliche Anzahl von Organen Die »wirklich unendliche Anzahl« (nombre véritablement infini) von Organen in einer natürlichen Maschine ist ein offenbarer Widerspruch: ein Endliches, wie es doch der organische Körper unstreitig ist, kann nie eine wahrhafte Unendlichkeit enthalten. und sind so gut ausgerüstet und allen Unfällen gegenüber stichhaltig, daß es nicht möglich ist, sie zu zerstören. Eine natürliche Maschine bleibt noch in ihren kleinsten Teilen Maschine, und noch mehr: sie bleibt immer die nämliche Maschine, die sie war, da sie durch die verschiedenen Zuschnitte, die sie erhält, nur umgestaltet, bald ausgedehnt, bald zusammengedrückt und nur gleichsam konzentriert wird, wenn man sie für untergegangen hält.

11. Noch mehr, vermittelst der Seele oder der Form besteht eine wahrhafte Einheit, die dem entspricht, was man das Ich in uns nennt. Dies kann weder bei den künstlichen Maschinen noch bei der einfachen Stoffmasse statthaben, so organisiert dieselbe auch sein mag; die Stoffmasse kann vielmehr immer nur wie ein Heer oder eine Herde oder ein Teich voll Fische oder eine aus Federn und Rädern zusammengesetzte Uhr betrachtet werden. Wenn es indessen keine wahrhaften substantiellen Einheiten gäbe, so würde es auch in einer solchen Anhäufung nichts Substantielles noch Wirkliches geben. Dies hatte Herrn Cordemoy gezwungen, von Descartes abzufallen und die Atomenlehre Demokrits anzunehmen, um eine wahre Einheit aufzufinden. Giraud de Cordemoy (gest. 1684) ist sonst nur als durchaus getreuer Anhänger Descartes' bekannt. Durch seine Schrift: Le discernement de l'âme et du corps (1666), in der er die Behauptung aufstellte, der Einfluß des Willens auf die willkürlichen Bewegungen des Körpers sei durch die Gelegenheitsursachen bedingt, bahnte er übrigens bereits den Okkasionalismus an. Allein die stofflichen Atome widerstreiten der Vernunft, abgesehen davon, daß sie noch immer aus Teilen zusammengesetzt sind, da die unüberwindliche Verbindung des einen Teils mit dem andern – wenn sie zu begreifen oder mit Grund anzunehmen wäre – doch deren Verschiedenheit nicht aufheben würde. Leibniz läßt nur die Substanzen für einfach gelten, bei denen eine weitere wirkliche Zerlegung unmöglich ist; die körperlichen Substanzen aber sind ohne Ende teilbar, bei der Teilung derselben kann sich also nie ein wirklich letzter Teil, ein wirklich Einfaches ergeben – folglich, sagt Leibniz, sind die stofflichen Atome des Demokrit gar keine Einheiten, wie man sie zur Erklärung der Bildung der Dinge braucht. Da nun aber alle Naturgegenstände sich durch die Analyse als Verbindungen verschiedenen Grades einer bestimmten Anzahl verschiedener, nicht weiter zerlegbarer Grundstoffe nachweisen lassen, während sich aus dem Dasein der zusammengesetzten Dinge kein Schluß auf das Dasein absolut einfacher Dinge ziehen läßt (s. Anm. 101), so ist nicht einzusehen, warum jene Grundstoffe, wenngleich die mechanische Teilung bei ihnen nicht zu Ende geführt werden kann, nicht als Einheiten sollten betrachtet werden dürfen, und weshalb man, wenn man eben ein System haben will, die Entstehung der gegenwärtigen Welt nicht der Bewegung und Verbindung der kleinsten Teilchen jener Elemente zuschreiben soll. Es gibt nur substantielle Atome, d. h. wirkliche und völlig von Teilen freie Einheiten, welche die Quellen der Wirkungen, die ersten unbedingten Prinzipien der Bildung der Dinge und gleichsam die letzten Elemente bei der Analyse der Substanzen sind. Man könnte sie metaphysische Punkte nennen: sie besitzen etwas Lebendiges und eine Art Vorstellungsvermögen, und die mathematischen Punkte sind ihre Gesichtspunkte, um das Universum wiederzugeben. Werden aber die körperlichen Substanzen zusammengedrückt, so bilden ihre Organe in bezug auf uns nur einen physischen Punkt. Daher sind die physischen Punkte nur dem Anscheine nach unteilbar; die mathematischen Punkte sind wahre Punkte, aber sie sind nur Eigenschaften. Nur die von den Formen oder Seelen gebildeten metaphysischen oder substantiellen Punkte sind wahre und wirkliche, und ohne sie würde es nichts Wirkliches geben, da es ohne die wahrhaften Einheiten keine Menge geben würde. Der Ausdruck physischer Punkt bezeichnet die durch mechanische Teilung erreichbare kleinste räumliche Größe, die aber ihrer Kleinheit ungeachtet immer noch Körper und mithin teilbar bleibt, während der mathematische Punkt keine Dimension hat und also auch nicht geteilt werden kann, hingegen aber auch nur eine Eigenschaft (modalité) ist, aus der sich nichts Wirkliches ableiten läßt.

12. Nach Feststellung dieser Dinge glaubte ich in den Hafen einzulaufen, als ich aber nun über die Verbindung zwischen Seele und Körper nachzudenken begann, wurde ich von neuem in das offene Meer hinausgeschleudert, denn ich fand kein Mittel, um Aufschluß darüber zu geben, wie der Körper etwas in die Seele hinüberführen kann und ebenso vice versa Umgekehrt. noch wie eine Substanz mit einer andern erschaffenen Substanz in Verkehr treten kann. Herr Descartes hatte, soweit sich aus seinen Schriften ersehen läßt, das Spiel bei diesem Punkte aufgegeben; in der Erkenntnis aber, daß die gewöhnliche Ansicht darüber unbegreiflich ist, kamen seine Schüler zu dem Schlusse, wir fühlten die Eigenschaften der Körper, weil Gott gelegentlich der Bewegungen des Stoffs Gedanken in der Seele entstehen lasse, und da auch die Seele ihrerseits den Körper bewegen kann, so schlossen sie, daß Gott es sei, der ihn an ihrer Stelle bewege. Weil nun aber die Mitteilung der Bewegungen ihnen noch immer unbegreiflich schien, so meinten sie, daß Gott einem Körper gelegentlich der Bewegung eines andern Körpers Bewegung verleihe. Und das nennen sie das System der Gelegenheitsursachen, das durch die schönen Betrachtungen des Verfassers der Erforschung der Wahrheit sehr in die Mode gebracht worden ist.

13. Es muß anerkannt werden, daß man die Schwierigkeit durch Aufdeckung dessen, was nicht sein kann, richtig ergründet hat, aber es scheint nicht, daß man sie durch Darlegung des wirklichen Sachverhalts auch gehoben habe. Allerdings gibt es im streng metaphysischen Sinne keinen wirklichen Einfluß einer geschaffenen Substanz auf die andere und werden alle Dinge mit ihren sämtlichen Realitäten beständig durch das Vermögen Gottes hervorgebracht, allein zur Lösung von Problemen ist es nicht hinreichend, wenn man die allgemeine Ursache dazu verwendet und das herbeiholt, was man den Deus ex machina nennt. Denn wenn dies geschieht, ohne daß es eine andere Erklärung vermittelst der zweiten Ursache gibt, so ist das eigentlich nur ein Zurückgreifen auf die Wunder. In der Philosophie aber muß man sich bemühen, dadurch eine Begründung zu geben, daß man zeigt, auf welche Weise die Dinge sich durch die göttliche Weisheit in Gemäßheit des Begriffs des Gegenstandes, um den es sich handelt, vollziehen.

14. Demnach zu dem Zugeständnis gezwungen, daß die Seele oder irgendeine andere wahrhafte Substanz unmöglich etwas von außen empfangen kann, wenn nicht etwa durch die göttliche Allmacht, wurde ich unmerklich auf eine Ansicht gebracht, die mich überraschte, mir aber unvermeidlich schien, und die in der Tat sehr große Vorteile und höchst bemerkenswerte Schönheiten bietet. Es muß nämlich angenommen werden, daß Gott die Seele oder jede andere wirkliche Einheit von vornherein so geschaffen hat, daß bei ihr alles aus ihrem eigenen Schatze entsteht, durch eine vollkommene Selbstbestimmung von ihrer Seite und doch in vollkommener Übereinstimmung mit den Außendingen. Da sonach unsere innern Empfindungen, die ihren Sitz in der Seele selbst und nicht im Gehirn und den feinern Teilen unseres Körpers haben, nur Phänomena, die die äußern Dinge begleiten, oder auch wahrhafte Erscheinungen und sozusagen wohlgeregelte Träume sind, so müssen diese innern Vorstellungen in der Seele selbst ihr durch ihre eigene ursprüngliche Beschaffenheit, d. h. durch ihre vorstellende Natur (die fähig ist, die Außendinge in bezug auf ihre Organe darzustellen), zufließen, welche Natur ihr bei ihrer Erschaffung verliehen wurde und die ihren individuellen Charakter ausmacht. Dieser etwas weitschweifige und ungelenke Satz will besagen: Da die Vorstellungen in der Seele mit den Vorgängen außer der Seele in Zeit und Ort übereinstimmen, ohne daß eine Beeinflussung der Seele durch die Außendinge stattfindet, so müssen diese Vorstellungen in ihrer Art und Reihenfolge der Seele anerschaffen sein, und zwar jeder einzelnen Seele nach ihrem besondern Stand- oder Gesichtspunkte. Dies hat aber zur Folge, daß, da jede von diesen Substanzen das ganze Universum genau nach ihrer Weise und einem bestimmten Gesichtspunkte gemäß abspiegelt, und da die Vorstellungen oder Abbilder der Außendinge in der Seele vermöge ihrer eigenen Gesetze zur bestimmten Zeit eintreten wie in der Welt daneben, und als ob nichts existiere als Gott und sie (um mich der Ausdrucksweise einer gewissen Person von großer geistiger Erhabenheit zu bedienen, deren Heiligkeit eine gefeierte ist Augenscheinlich eine Anspielung auf Fénelon (1651-1715), der diesen Ausdruck in einer seiner quietistischen Schriften gebraucht haben mag. – dies alles hat zur Folge, sage ich, daß zwischen allen diesen Substanzen ein vollkommener Einklang entsteht, der den nämlichen Eindruck macht, als wenn sie durch eine Übertragung der Spezies und Beschaffenheiten miteinander verkehrten, wie der große Haufe der Philosophen glaubt. Da ferner die organisierte Masse, in welcher sich der Gesichtspunkt der Seele befindet, aus größerer Nähe abgespiegelt wird und sich im Austausch bereit findet, gemäß den Gesetzen der körperlichen Maschine von selbst in dem Augenblicke zu handeln, wo die Seele es verlangt, ohne daß die eine die Gesetze der andern stört, weil die Lebensgeister und das Blut gerade dann die erforderlichen Bewegungen machen, um den Gefühlen und Vorstellungen der Seele zu entsprechen Die Hypothese der Lebensgeister findet sich bereits bei Bacon, ist dann aber hauptsächlich von Descartes ausgebildet worden. Nach dessen »Traité sur les passions« (§ 7) bilden sich die Lebensgeister im Gehirn aus den feinsten Teilen des Blutes als eine Art sehr feiner Luft (Äther), die sich teils in den Nerven mit großer Schnelligkeit vom Gehirn nach den Muskeln bewegt, teils in diesen letztern selbst ihren Sitz hat und die Bewegung derselben bewirkt, je nachdem die Seele oder auch ein äußerer Reiz sie dazu anregt. Ihrem Namen zum Trotz sind also die Lebensgeister durchaus körperlicher Natur, Quintessenzen des Blutes, mit dem zusammen sie die willkürliche oder unwillkürliche Streckung und Verkürzung der Muskeln bewirken, und so werden sie hier auch von Leibniz aufgefaßt., so sind es diese gegenseitigen, in jeder Substanz des Universums im voraus geregelten Beziehungen, welche das hervorbringen, was wir den Verkehr dieser Substanzen miteinander nennen, und welche einzig und allein die Verbindung zwischen Seele und Körper ausmachen. Dadurch vermag man auch zu begreifen, wie die Seele im Körper ihren Sitz hat vermittelst einer unmittelbaren Gegenwart, die nicht unmittelbarer sein kann, weil die Seele im Körper ist, wie die Einheit im Resultate der Einheiten, in der Menge. Durch diesen Vergleich soll die innige Verbindung zwischen Seele und Körper charakterisiert werden: die Seele ist im Körper, d. h. in jeder der Monaden, aus denen er besteht, wie die Einheit in der Menge, d. h. in jeder der Einheiten, von denen diese gebildet wird. Dabei bleibt jedoch die Schwierigkeit, wie bei der Unräumlichkeit aller Monaden überhaupt von einer Gegenwart der einen in einer andern die Rede sein kann. Vielleicht enthält diese Stelle eine Reminiszenz an den Satz Malebranches, daß Gott der Ort der Geister sei, wie der Raum der Ort der Körper ist, und daß die Seelen unmittelbar mit Gott vereinigt sind; vgl. Nr. XXV.

15. Diese Hypothese ist sehr möglich. Denn warum sollte Gott der Substanz nicht von vornherein eine Natur oder innere Kraft verleihen können, die in ihr (wie in einem geistigen oder formalen Automaten, der aber frei ist in dem Teile, welchem die Vernunft angestammt ist) der Reihe nach alles hervorbringen kann, was ihr geschehen wird, d. h. alle Erscheinungen oder Spiegelbilder, welche sie haben wird, und zwar ohne Hilfe eines andern Geschöpfes? Er kann dies um so mehr, da die Natur der Substanz einen Fortschritt oder eine Veränderung notwendigerweise fordert und wesentlich in sich schließt, da sie ohne eine solche Veränderung keine Kraft zum Tätigsein haben würde. Und da die Natur der Seele eine das Universum sehr genau, wenn auch mehr oder weniger deutlich vorstellende ist, so wird die Folge der Vorstellungen, welche die Seele in sich erzeugt, auf natürliche Weise der Folge der Veränderungen im Universum selbst entsprechen: wie umgekehrt auch der Körper der Seele angepaßt worden ist für jene Vorkommnisse, wo sie als nach außen wirkend aufgefaßt wird. Es ist das um so vernunftgemäßer, da die Körper nur für die Geister allein geschaffen worden sind, die mit Gott in Gemeinschaft zu treten und seinen Ruhm zu feiern imstande sind. Sobald man also die Möglichkeit dieser Hypothese der Übereinstimmungen einsieht, sieht man auch ein, daß sie die vernünftigste ist und daß sie eine wunderbare Vorstellung von der Harmonie des Universums und von der Vollkommenheit der Werke Gottes bietet.

16. Auch bietet diese Hypothese den großen Vorteil, daß man, anstatt zu sagen, wir seien nur dem Anschein nach und in einer für die Wirklichkeit ausreichenden Weise frei, wie mehrere geistvolle Personen geglaubt haben, vielmehr sagen muß, wir sind nur dem Anscheine nach dem Zwange unterworfen und befinden uns, streng metaphysisch genommen, in einer vollkommenen Unabhängigkeit von dem Einflusse aller anderen Geschöpfe. Abgesehen davon, daß es wenig philosophisch ist, eine Hypothese durch Gründe der Moral zu stützen, wie Leibniz dies in § 16 tut, kann auch der »vollkommenen Unabhängigkeit der Seele von dem Einflüsse aller andern Geschöpfe« in dem Sinne, wie Leibniz dieselbe proklamiert, durchaus kein moralischer Wert zugestanden werden, weil diese Unabhängigkeit von vielen um den Preis der vollen und ganzen Abhängigkeit von einem erkauft ist. Wenn der Mensch nur ein Automat ist, wie Leibniz lehrt, so kann ihm weder Schuld noch Verdienst zugerechnet werden, und daher ist alles, was Leibniz über diesen Punkt vorbringt, entweder Inkonsequenz oder Phrase. Dies setzt zugleich die Unsterblichkeit unserer Seele in ein wunderbares Licht sowie auch die immer gleichförmige Erhaltung unseres Individuums, die durch die eigene Natur desselben vollkommen geregelt und gegen alle Zufälle von außen sichergestellt ist, so sehr auch der Schein dagegen spricht. Nie hat ein System die Erhabenheit unserer Stellung im Universum klarer dargetan. Da jeder Geist eine Welt für sich ist, unabhängig von jedem andern Geschöpfe sich selbst genügt, das Unendliche umschließt, das Universum abspiegelt, so ist er auch ebenso dauerhaft, ebenso fortbeständig, ebenso unbedingt wie das Universum der geschaffenen Dinge selbst. Man muß daher annehmen, daß er in demselben immer die Rolle spielen muß, die am meisten geeignet ist, zur Vollkommenheit der Gemeinschaft aller Geister beizutragen, da diese Vollkommenheit die moralische Verbindung unter denselben im Gottesstaate bildet. Ferner bietet diese Hypothese einen neuen Beweis für das Dasein Gottes, der von überraschender Klarheit ist. Denn diese vollkommene Übereinstimmung so vieler Substanzen, die keinen Verkehr miteinander haben, kann nur von der gemeinsamen Ursache herrühren. Der gerühmte Beweis für das Dasein Gottes würde sich völlig im Zirkel drehen, denn erst muß man einen allmächtigen, allweisen und allwissenden Gott haben, um die vorherbestimmte Harmonie nur als möglich annehmen zu können.

17. Abgesehen von allen diesen Vorteilen, die meine Hypothese empfehlenswert machen, darf man aber auch behaupten, daß sie etwas mehr als bloße Hypothese ist, weil es kaum möglich scheint, die Dinge auf eine andere verständliche Weise zu erklären, und weil verschiedene bedeutende Schwierigkeiten, welche die Geister bisher beschäftigt haben, von selbst zu verschwinden scheinen, sobald man diese Hypothese gehörig begriffen hat. Auch verträgt sich die gewöhnliche Ausdrucksweise sehr gut mit derselben, denn man kann sagen, diejenige Substanz, deren Beschaffenheit die Veränderung auf verständliche Weise begründet (so daß man annehmen kann, die andern seien ihr von Anbeginn hinsichtlich dieses Punktes nach der Reihenfolge der göttlichen Beschlüsse angepaßt worden), sei die, welche man in diesem Punkte als auf die andern einwirkend auffassen müsse. D. h. in etwas weniger verwickelten Ausdrücken: Wenn man eine Reihenfolge (ordre) in den Beschlüssen Gottes annimmt, so muß die Substanz, welche einen höhern Wert hat und nach deren Tätigkeit daher die der übrigen Substanzen geregelt ward (also die Seele) als eine auf die andern einwirkende betrachtet werden;, und dies verträgt sich eben mit der gewöhnlichen Ausdrucksweise, wonach die Seele den Körper regiert. Auch ist die Einwirkung einer Substanz auf die andere keine Aussendung oder Verpflanzung eines Seienden, wie der große Haufe meint, und kann vernünftigerweise nur so aufgefaßt werden, wie ich oben dargelegt habe. Allerdings lassen sich beim Stoffe sowohl Aussendungen wie Aufnahmen von Teilen, vermöge derer man mit Recht alle physikalischen Erscheinungen zu erklären sucht, sehr wohl begreifen, da aber die stoffliche Masse keine Substanz ist Vgl. den ersten Satz des Briefes an Arnauld (S. 14): »Der Körper ist eine Anhäufung von Substanzen und nicht eine Substanz im eigentlichen Sinne.«, so erhellt, daß die Tätigkeit der Substanzen selbst nicht anders erklärt werden kann, als das von mir geschehen ist.

18. So metaphysisch diese Betrachtungen erscheinen, sind sie doch in der Physik behufs Feststellung der Gesetze der Bewegung von staunenswertem Nutzen, wie meine Dynamik zeigen wird. Man kann nämlich sagen, daß beim Stoße jeder Körper nur infolge seiner eigenen Elastizität, der Ursache der Bewegung, die bereits in ihm ist, leidet. Wie bereits im Briefe an Bayle (S. 12) angedeutet ist, faßt Leibniz alle Körper als elastisch auf und leitet dementsprechend die Mitteilung der Bewegung beim Stoße nicht von einem Leiden oder Empfangen des gestoßenen Körpers, sondern aus der demselben innewohnenden Elastizität her. Was aber die absolute Bewegung anlangt, so kann sie in keiner Weise mathematisch bestimmt werden, weil bei ihr alles auf Beziehungen hinausläuft. Bewegung ist die zeitliche Veränderung der örtlichen Verhältnisse eines Dinges. Um also überhaupt von Bewegung reden zu können, muß das Ding im Räume sein oder einen Ort in demselben haben, ob es sich aber bewegt, kann immer nur im Hinblick auf ein zweites Ding entschieden werden, das als ruhend aufgefaßt wird, über dessen Zustand jedoch erst im Hinblick auf ein drittes entschieden werden kann, bei dem sich dann die nämliche Frage ohne Abschluß wiederholt. Daraus erhellt, daß es keine Bestimmung der absoluten Bewegung geben kann. Das hat zur Folge, daß hinsichtlich ihrer immer eine vollkommene Gleichwertigkeit der Hypothesen besteht wie in der Astronomie, dergestalt daß, wieviel Körper man auch annimmt, die Zuteilung der Ruhe oder eines bestimmten Grades von Geschwindigkeit an einen beliebigen unter denselben ganz von der Willkür abhängt, ohne daß die Erscheinungen der geraden, der kreisenden oder der zusammengesetzten Bewegung jene willkürliche Annahme zu widerlegen vermögen. Indessen ist es vernunftgemäß, daß man gemäß der Hypothese, welche auf die verständlichste Weise von den Erscheinungen Rechenschaft gibt, den Körpern wirkliche Bewegungen beilegt, da diese Bezeichnung mit dem Begriffe der Wirksamkeit übereinkommt, den ich oben festgestellt habe. Alle Bewegung setzt die Existenz des Sichbewegenden im Raum und in der Zeit voraus (s. Anm. 27). Nach Leibniz sind jedoch Zeit und Raum nur Vorstellungen und demgemäß auch die Bewegung kein Seiendes, sondern ein Ideales, eine Art von Vorstellung. Die Anerkennung wirklicher Bewegungen in der Körperwelt ist daher ein Zugeständnis, das Leibniz der gewöhnlichen Anschauung von der Sache macht.


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