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Fünfzehntes Kapitel.

Ein Ausflug nach Jena. – Ein hochgeachteter Hund. – Lärmender Einzug in Jena. – Mein Roman »Baldrian Weitmaul«. – Ich verlasse daß Semlersche Haus. – Mein schlechtes gesellschaftliches Benehmen. – Wehe dem, über den die Weiber und die Gelehrten herfallen! – Das Kollegschinden der Studenten. – Schulden! – Mein Bruder hetzt meinen Vater gegen mich auf. – Dozentenelend. – Trotziger Brief nach Hause. – Krankheit. – Verzweifelte Stimmung. – Was soll ich tun? – Auf der Hauptwache in Halle. – Ich werde Soldat.

Mein Freund Dambmann war nach Jena gezogen und hatte mich in seinen Briefen immer gebeten, ihn zu besuchen. Ich nahm mir also diese Reise vor und marschierte zu Anfang des Märzen 1783 zu Fuß nach Jena. Unterwegs verspielte ich aber mein ganzes Reisegeld bis auf 12 Groschen im Tippen; zudem fiel schlechtes Wetter ein, und ich mußte liegen bleiben und erst einen Boten an meinen Bruder in Halle schicken, daß er mir einige Taler Geld zukommen ließe. Er tat dies auch, schickte jedoch leider zugleich einen Studenten Stork mit, einen höchst liederlichen und rohen Menschen. Wir marschierten zusammen nach Naumburg, wo Stork mich in das »Sieb« führte. Am Abend ging ich auf den Ratskeller, Billard zu spielen, und kriegte mit einem Offizier Händel, aber bloß in Worten. Mein Spektakel hatte indessen doch Aufsehen gemacht und nach meiner Abreise dem Offizier Verdruß zugezogen. Im Grunde war er schuld daran; warum nannte er mich einen Bengel, da ich den Hund eines Frauenzimmers, für welches er Achtung haben mußte, getreten hatte?

Am folgenden Tag kamen wir endlich nach Jena; wir hatten wegen des schlechten Wetters und weil Stork sich die Füße aufgegangen hatte, in Naumburg Pferde genommen. Stork ritt in Jena vorweg und rannte im vollsten Galopp vor das Haus, wo Dambmann wohnte; es war das des Protonotarius Hoffmann. Er schrie auf der Straße wie unsinnig: »Dambmann! Dambmann!« einmal übers andere, so daß die Leute an der Straße alle zum Fenster hinausguckten, den Menschen zu sehen, der so fürchterlich spektakeln konnte. Also wurde gleich in ganz Jena herum posaunt: der Magister Laukhard von Halle und ein hallischer Bursch seien eben angekommen, wären abscheulich betrunken – was doch nicht wahr war – und hätten einen fürchterlichen Skandal schon auf der Gasse angehoben.

Ich logierte in Jena bei Herrn Dambmann; Stork trieb sich bei den Mosellanern herum und besoff sich alle Tage zweimal.

Ich hatte in Halle schon angefangen, einen Roman zu schreiben, nämlich: »Leben und Taten des Herrn Magisters Baldrian Weitmaul.« »Magister Weitmaul« war der Spitzname eines Pfälzer Geistlichen, mit dem L. in der Heimat mancherlei Händel gehabt hatte. Ich habe sie in dieser Bearbeitung ausgelassen, da sie ein tieferes menschliches oder sittengeschichtliches Interesse nicht bieten, sondern in den Bereich des gewöhnlichen Klatsches gehören. P. In Jena arbeitete ich fleißig daran, webte noch jenaische Schnurren hinein und brachte ihn zustande. Sonst lebte ich in dem alten Nest sehr fidel und zog erst nach vier Wochen wieder ab.

Semler ließ mich gleich den Tag nach meiner Rückkehr zu sich kommen und las mir die Leviten: er hatte von Jena aus Briefe erhalten, worin mein Benehmen eben nicht vorteilhaft geschildert war. Es hieß darin: der Magister Laukhard führe mit den Studenten auf allen Dörfern herum, läge auf den Mühlen, In Jena damals wie noch jetzt beliebte Kneipen, z. B. die »Rasenmühle«, »Oelmühle« usw. P. mache Kommerse mit, kurz, betrüge sich höchst unanständig. Semler machte mir, wie billig, ernstliche Vorwürfe, und ich Tor war empfindlich, aber nicht zu meiner Besserung; vielmehr beschloß ich, Semlers Haus zu verlassen, um mir die beständigen Vorwürfe zu ersparen. Herr Semler sah dies freilich gern. Ich mietete mich also ein in das Zaus des Buchbinders Münnich, und bat meinen Bruder, das liederliche Haus, den Hanauer Puff, zu verlassen und zu mir zu ziehen. Er tat es, und von dieser Zeit an kam ich höchst selten dahin. Dies benutzte Jungfer Christel und hing sich an einen anderen Studenten; sie kam aber hernach doch wieder zu mir, erhielt mir ihre Gunst, auch noch in der Zeit, da ich schon Soldat war, und bezeigte sich dann und wann recht zärtlich. Ihre Zärtlichkeit hat mich manchmal gefreut, manchmal belästigt, je nachdem ich gestimmt war.

Ich wollte auf Ostern meine Vorlesungen anfangen und hatte die Anzeige davon gehörigen Ortes eingereicht. Zu gleicher Zeit hatte ein hiesiger Buchdrucker meinen Roman »Baldrian Weitmaul« der Zensur übergeben. Unglücklicherweise enthielt das Buch einige Stellen, die auf eine versteckte Art eben den Mann betrafen, dem es zur Zensur mitgeteilt war. Als Zensor strich er also diese Stellen und untersagte den Abdruck des Buches gänzlich. Er teilte mir diese Nachricht selbst mit, und als ich hierauf meine Handschrift in Schutz nehmen wollte, fügte er hinzu: er habe sie bei der Fakultät zirkulieren lassen, und die Vota der Herren Fakultisten gingen einstimmig dahin, den Abdruck zu verbieten, ja einige beständen sogar darauf, daß man mir das Kollegienlesen verbieten sollte – eben wegen meines Romans.

Ich machte große Augen über diese Aeußerungen meines Herrn Zensors, aber noch größere, als er mir obendrein zu verstehen gab, in Halle wäre jetzt für mich nichts mehr zu machen, und ich würde wohl tun, wenn ich mich anderswohin begäbe. Ja, er fügte sogar hinzu: gleichwie die Schuster- und Schneiderzunft, wenn sie wollten, allen Pfuschern das Handwerk legen könnten, ebenso könnte es auch die Fakultät. Ich ärgerte mich häßlich über diese Parallele, kurz, wir debattierten nicht wenig.

Daß es bei dieser Verhandlung dienstfertige Geister gab, die aus purer Menschenliebe Jagd auf Anekdoten über mich machten, um mich als schädlichen Menschen darzustellen, der sich zum Dozenten durchaus nicht schickte – das ist nicht nötig, erst zu erinnern. Freude war es mir aber und Genugtuung zum Teil, hintendrein zu erfahren, daß einige ansehnliche Männer sich meiner angenommen hatten, und man mir das Kollegienlesen fernerhin erlaubte, nachdem ich mich in einer Schutzschrift verteidigt und um die erwähnte Erlaubnis schriftlich angesucht hatte.

Das erste halbe Jahr meiner öffentlichen Lesereien verging ruhig, wenn ich die Händel mit meinem Zensor ausnehme, die ich aber bald vergaß. Meine Sitten waren den Sommer über sehr gut, nämlich wie man Sitten von außen als sehr gut ansehen muß. Ich besuchte keine Kneipen, keine Dörfer, als nur höchst selten, und wo ich hinkam, ging wenigstens alles ehrbar zu, solange ich da war. Große Gesellschaften habe ich selten besucht und vornehme ganz und gar nicht. Einmal haßte ich allen Zwang, der in vornehmeren Zirkeln gewöhnlich ist, und war sodann in Halle zu wenig bekannt, als daß ich auch nur Eingang dazu hätte finden können. Meine Sitten waren obendrein zu roh und zu wenig abgehobelt, als daß ich hätte gefallen können. Der Burschenkomment macht keine feine Sitten, und ich hatte von jeher das Petimäterwesen gehaßt, konnte mich deshalb weder in die Komplimente, noch in die Gespräche der schönen Welt schicken; und so würde ich allerorten, wo ich zur feinen Welt gekommen wäre, das fünfte Rad am Wagen gewesen sein. – Ein hiesiges Frauenzimmer sagte mir einmal unter die Augen, daß ich in der feinen monde niemals mein fortune machen würde, weil mir das bel air fehlte. Aber statt über die richtige Bemerkung dieser Dame nachzudenken, fiel es mir auf, daß sie deutsch und französisch untereinander sprach.

So geht es aber in der Welt: Man gewöhnt sich aus studentischem Heroismus einen ungeschliffenen Ton an und behält ihn hernach immer, weil man sich schämt, den einmal angenommenen Ton abzulegen, oder weil man keine Gelegenheit mehr hat, sich abzufeilen. Ich war von Jugend auf selten unter feinen Leuten gewesen. Vornehme hatte ich zwar mehrmals um mich gehabt und war mit solchen auch umgegangen; aber die waren entweder selbst nicht fein, oder zeigten damals, als ich mit ihnen umging, ihre Feinheit nicht; und wenn sie es auch getan hätten, so würde ich gelacht und ihre Gesellschaft vermieden haben.

Tanzen konnte ich auch nur wenig und hatte es niemals ordentlich getrieben; daher besaß ich die Künste nicht, welche in Honoratioren-Klubs hauptsächlich empfehlen, und mußte immer hören, daß ich außer anderen Mängeln auch den der feinen Lebensart hätte. Und das mußte ich mir sogar von Mädchen sagen lassen, die ich wegen ihrer Lebensart und wegen ihres läppischen Wesens verachtete.

Wehe dem, über den die Weiber und die Gelehrten erst herfallen!

 

Bewirtungen leichtfertiger Freunde, meine Reise nach Jena, meine Liebeleien, die Promotion, der Verlust des Honorars für meinen »Baldrian«, die Geldausgaben, um mich durch Zerstreuungen von dem Aerger über dieses und jenes zu erholen, nebst meiner Gutmütigkeit, einem jeden gern mitzuteilen, was ich hatte – das alles hatte mir Schulden zugezogen, zu deren Tilgung mein Wechsel nicht zureichte. Daß ich mit meinen Kollegien wenig werde verdient haben, versteht sich für mich als Anfänger schon von selbst. Einmal ist in Halle das Freirennen der Kollegien sehr gewöhnlich; da denken viele Studierende, das Geld könne in Lauchstädt, Leipzig, auf den Dörfern und beim Spiel besser angewandt werden, als zum Honorar für die Dozenten. Zudem war ich von jeher nachgiebig, und wer mich um etwas bat, dem konnte ich nichts abschlagen. Und so hatte ich von dreißig Zuhörern kaum zehn, die bezahlen wollten, und unter diesen zehn waren noch einige, die es hernach ganz und gar vergaßen. Ich glaube aber doch, wenn ich weiterhin bei der Universität geblieben wäre, daß ich in Zukunft bessere Einkünfte von Kollegien würde gehabt haben, weil ich mehr in Routine gekommen wäre und ohne Zweifel auch einige Künste gelernt hätte, wie man gutzahlende Zuhörer in sein Auditorium hineinlockt.

Meine Schulden häuften sich also von Tag zu Tag, und ich sah weiter kein Mittel, mich zu retten, als auf das Versprechen meines Bruders zu rechnen, der meine Umstände kannte und wußte, wie mir zu helfen war. Dieser war im Herbst nach Hause abgegangen und hatte mir wie eidlich versprochen, gleich nach seiner Ankunft unseren Vater dahin zu bewegen, daß außer 40 Reichstalern zur Tilgung seiner Schulden ich noch 100 Reichstaler zur Tilgung der meinigen erhalten sollte. Wie er Wort gehalten habe, wollen wir gleich sehen, so leid es mir auch tut, meinen Bruder der Welt als einen schlechten Menschen darzustellen. Ich kann aber einmal nicht anders, es ist gar zu nötig zum Verständnis der folgenden Katastrophe.

Mein Bruder war schon lange fort, ehe er oder der Vater schrieb; endlich schrieb der letztere, und sein Brief war – kalt. Er enthielt viel höfliche Vorwürfe und spielte auf Dinge an, welche ihm wohl niemand konnte berichtet haben, als eben mein Bruder. Doch fügte er hinzu, er würde mir noch einmal Geld schicken, ich sollte aber einen bessern Gebrauch davon machen, als von dem, das er mir sonst geschickt hätte; es wäre doch wahrlich einmal die höchste Zeit, klug zu werden. – Dieser Brief kränkte mich um so mehr, je wahrscheinlicher ich schließen konnte, daß meinem falschen Bruder ich das alles zu verdanken hatte. Um mir indes volles Licht zu verschaffen, schrieb ich erst meinem Bruder einen recht derben Brief, worin ich ihm sein Versprechen vorhielt und auf die Erfüllung desselbigen drang. Dann schrieb ich auch an einen anderen Freund und bat diesen, mir von meines Bruders Gesinnung gegen mich ehrliche Rechenschaft zu geben. Mein Freund antwortete bald, und bedauerte sehr, daß er mir einen Beitrag zu dem Beweise der Wahrheit liefern müsse, daß man sich auf seine Verwandten – die Eltern ausgenommen – nicht oder doch sehr selten verlassen dürfe. Er berichtete mir, daß mein Bruder gleich bei seiner Nachhausekunft vorgegeben habe, er habe auch nicht einen Kreuzer Schulden zu Halle hinterlassen. Nicht lange hernach wäre aber ein Brandbrief von einem hallischen Manichäer eingelaufen, und als jetzt der Vater den Bruder koramiert hätte, da habe dieser alle Schuld auf mich geschoben, abscheulich über meine Ausschweifungen geklagt, habe gesagt, daß ich alles den Mädchen hingäbe, daß ich alle Tage auf den Dörfern läge u. dgl. Nun sah ich deutlich, daß mein Bruder schuld an meines Vaters Kälte war. Ich ergrimmte in der Seele, um so mehr, da ich dem Menschen alle brüderliche Freundschaft erwiesen hatte. Kein Mensch kann es mir verargen, daß ich damals voll Tücke ward.

Etwa acht Tage nach dem Empfang dieses Briefes kam auch einer von meinem Bruder. Da war nun der Ton gar mächtig anders geworden. Er schrieb mir steif und protzig: hier wären 40 Taler, seine Schulden zu bezahlen; ich sollte es nur sogleich tun, oder wenn ich es nicht täte, so sollte ich mich ja auf keine weitere Unterstützung von Haus aus verlassen. Auch wäre der Vater durch Briefe des D. Semler von meinen Ausschweifungen und unnötigen Geldausgaben unterrichtet; ich möchte also an ihn ja nicht schreiben. Dann sollte ich auch alle Briefe an ihn, den Bruder – die er aber sich selten ausbäte, wegen des großen Portos – unter der Adresse des Schulmeisters von Wendelsheim schicken, und was des läppischen Gesudels mehr war. Ich warf den Brief mit innigster Verachtung weg, erboste gewaltig und stieß gräßliche Verwünschungen aus. An jenem Tage wäre ich imstande gewesen, einen Mord zu begehen, wenn ich von jemandem grob wäre beleidigt worden.

Um mich auf der Stelle zu rächen, griff ich die geschickten 40 Reichstaler an, kaufte mir Tuch zu einem Ueberrock und bezahlte meine drückendsten Schulden, so daß ich schon zwei Tage hernach keinen Pfennig mehr zu Händen hatte. Einiges Holz kaufte ich mir auch.

Meine Manichäer hatten von diesem Gelde gehört und quälten mich nun auf rotwelsch, daß ich einige Male ungeduldig ward und die groben Kerls zur Tür hinaus schmiß. Die Kerls liefen nun hin zum Prorektor; allein da wurden sie mit dem alten Weidspruche abgewiesen: »Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren.« Dieses mußte ich mir dann wieder sagen lassen und ärgerte mich nicht wenig.

Indessen setzte ich doch meine gewöhnlichen Vorlesungen fleißig fort; da es mir aber an Holz fehlte, auch das Auditorium zu heizen, so verloren sich meine Zuhörer nach und nach. Die Studenten hatten sich zwar zum Holzgelde unterschrieben, allein nur wenige zahlten, und das bissel Holz, welches für das wenige Geld angeschafft werden konnte, war gar bald verbrannt. Was Wunder, wenn nun der eine Student – wie ich es selbst gehört habe – zum anderen sagte: »Gern ginge ich in Laukhards Reichshistorie, er gefällt mir besser als der ***; aber es ist zu kalt in seinem Kollegium, man möchte das Fieber kriegen«, und der andere dann replizierte: »Es ist schade, daß der Mann so in Not ist; hätt' ich Geld, ich kaufte ihm Holz.« Wie gesagt, ich hörte dies von ungefähr und hörte hintendrein noch eine weitläufige Beschreibung meiner fatalen Lage, welche durchaus wahr, aber desto schmerzhafter für mich war.

Ich rannte nach Haus, als ich dies gehört hatte – ich hörte es auf der Straße, es war ungefähr den 6. Dezember 1783 – und schrieb einen äußerst heftigen Brief an meinen Vater, dem ich einen an meinen Bruder beischloß. Daß ich im letzteren schrecklich loszog, vermutet jeder. Ich bat um schleunige Antwort und setzte dazu den 21. Dezember fest. Würde ich in dieser Zeit keinen Brief erhalten und kein Geld, so müßte ich das Aeußerste wagen; es käme auf sie an, ob sie mich retten wollten oder nicht. – Bitten konnte ich nicht mehr, bloß trotzen und rasen. Solch abscheuliche Briefe sind noch niemals aus meiner Feder geflossen. – Früh schickte ich sie auf die Post und schien mir selbst ruhiger zu sein.

Indessen ward ich krank und mußte einen Arzt haben. Der Chirurgus Noskovius hielt meine Krankheit für Faulfieber, aber er irrte. Ich mußte aber einen Arzt haben. Goldhagen kannte ich noch nicht; ich schickte also zu einem gewissen anderen Herrn und ließ ihn bitten, mich zu besuchen. Es hieß, er wäre nicht zu Hause; ich jagte die Aufwärterin in einem Tage wohl zehnmal hin, aber der Herr kam nicht. – – Das drückte mich beinahe ganz zu Boden; ich ließ mir also von Noskovius Arzenei vorschreiben. Den folgenden Tag kam der Student Dykershof, ein Westfälinger, zu mir, dem ich meine traurige Lage in Rücksicht meiner Gesundheit und der versagten Hilfe vorstellte. Er lief augenblicklich zum Herrn Goldhagen, und dieser große menschenfreundliche Arzt erschien ohne Verzug, gab mir Arzenei und erklärte meine Krankheit zwar für ein Fieber, aber für eine Art von hitzigem Fieber. – Im Bette blieb ich nicht lange und war bald imstande, zwei Lektionen auf meiner Stube zu halten, wozu ich meine Zuhörer einladen ließ. Einige Tage vor Weihnachten ging ich schon trotz dem Verbot des Herrn Goldhagen wieder aus und besuchte einige Bekannte im Semlerschen Hause.

Das Fieber hatte mich zwar bald verlassen, aber meine Gesundheit war zerrüttet und meine ganze Munterkeit niedergeschlagen. Ich tröstete mich noch auf den letzten Posttag vor dem Feste; dann aber, wenn ich dann nichts erhielte, wußte ich wahrlich nicht, was ich ergreifen sollte. Ich gestehe, daß ich mir damals Glauben und rechten Heldenglauben an Vorsehung gewünscht habe, aber leider war Vorsehung für mich ein wahres Wunderding, und Wunderdinge hatte ich schon längst aus meinem Gehirn verbannt.

Eine Frau Wilkin, welche mit den Studenten fleißig handelte und sie auf gut hallisch derb dafür prellte, war auch meine Geschäftsträgerin in der Not. Diese Frau hatte mir so nach und nach seit dem Abschiede meines Bruders meine beiden guten Kleider, meine Wäsche, kurz alles, was ich entbehren konnte, versetzt. In meiner Krankheit mußte sie wieder Rat schaffen, und jetzt verkaufte sie mein übriges rotes Kleid, mit Weste und Hosen, und brachte mir nur fünf Taler und einige Groschen. Aber was wollte ich machen? Ich mußte einmal so handeln. Dem Herrn Semler war ich schon sechs Taler schuldig, welche mein Vater erst im Februar des folgenden Jahres bezahlt hat. Und an wen sonst sollte ich mich wenden? Ich hatte ja keine Bekannten in Halle weiter, und die Erfahrung hat mich nachher noch belehrt, daß ich auch da würde umsonst gebeten haben, und in diesem Falle wäre mein Unmut in Raserei übergegangen.

Ich überlegte in dieser Not, wie es wohl werden würde, wenn ich mich anderswohin begäbe? Allein wohin? Ich traute den Menschen einmal nicht mehr, weil ich Vater und Bruder nicht mehr traute; und wie sollte ich fortkommen? Ich hatte weder Wäsche noch ganze Stiefeln, und im Winter, der es war, mußte ich befürchten, unterwegs umzukommen!

Der bestimmte Posttag kam heran, aber leider wieder kein Brief! Man versetze sich in meine Lage und bemesse danach den Drang und Sturm meiner Empfindungen. Abends durchlief ich alle Gassen, gleichsam außer mir, es war der heilige Abend vor Weihnachten! Köster begegnete mir und fragte, wie mir's ginge. Ich stieß ihn zurück, ohne zu antworten, und rannte weiter. Köster mir nach, und bat mich um Gottes willen, ihm meine Not oder den Grund meines Unwillens zu entdecken. Ich schwieg hartnäckig: er wiederholte seine Frage mehrmals, warum ich ihm nicht antworten wollte. »Weil du ein Schurke bist!« erwiderte ich endlich.

Köster: Um Himmels willen, Bruder, sag', was ist dir? So spricht mein Laukhard nicht; so spricht ein böser Genius aus dir.

Ich: Du bist ein Mensch. Alle Menschen sind Schurken. Also auch du. Hast du meinen Schluß verstanden? Geh!

Köster: Ich lasse dich nicht gehen. Bruder, sag', wo du hin willst? Ich geh' mit, und wenn du zum Teufel gingst. Ich lasse dich so nicht gehen!

Köster verfolgte mich, so sehr ich mich bemühte, auszureißen. Endlich fuhr ich in ein Loch, worin ich noch niemals gewesen war. Köster fuhr mir nach. Dieses für mich und meine Psychologie so merkwürdige Loch war eine Branntweinskneipe auf dem sogenannten Beckershofe zu Halle am Markt. Man nannte diese Kneipe gewöhnlich die »Knochenkammer« oder »Sankt Lukas' Residenz«.

Es saßen Knoten, Soldaten und Menscher drin. Die Leute waren gewaltig lustig, tanzten, hüpften, spielten, taten schön und zeigten auch keine Spur von Gram oder Unmut. O wie beneidete ich diese Knoten und diese Soldaten! – Soldaten und vergnügt? – Und du Magister und so elend? – Soldaten! – Dieser Gedanke umfaßte meine ganze Seele, hallte anhaltend wider und vertiefte mich immer mehr in mich. – Köster forderte Branntwein, setzte sich, fing an, lateinisch zu sprechen, und drang jetzt dringender in mich, um die Ursache meines Kummers mir zu entlocken. Aber ich war stumm; es schwärmten dunkle Bilder in mir herum von dem, was ich tun wollte. So sehr auch Köster zudrang, so sehr verhärtete ich mich. Endlich sagte er:

»Hör', Bruder, ich habe noch deine Particulas graecas; vergib, daß ich sie noch habe.«

»Es hat nichts zu sagen,« erwiderte ich, »wenn du jemanden weißt, der sie kaufen will, so gib sie hin und stelle mir das Geld zu. Weißt du aber keinen, so schicke sie mir morgen früh.«

Köster fragte, ob ich sie ihm für den Pränumerationspreis, 1 Taler 14 Groschen, ablassen wollte. Ich hatte nichts dawider, und Köster lief den Augenblick nach Hause, um mir das Geld zu holen. Vielleicht war er auf den Gedanken gekommen, daß die höchste Geldnot der Grund meines Kummers sei. Er kam wieder, und wir verließen das liederliche Loch. Ich lief noch einigemal durch die Straßen, ging auch noch in eine Kneipe und kam gegen elf Uhr – aber ohne Trunkenheit – nach Hause. Vor lauter Aerger warf ich mein Bett auf den Fußboden und legte mich darauf. Aber meine Unruhe war zu groß, ich konnte nirgends bleiben, wußte auch nicht, wo ich war und was ich tat. Das war ein schrecklicher Zustand. Lachen konnte ich überlaut; alles, woran ich dachte, kam mir sehr lächerlich vor. Aber für den traurigsten Gedanken hatt' ich keine Empfindung.

Früh war ich noch in Kleidern. Ich las in Tassos »Gierusalemme liberata« und las die äußerst rührende Stelle, wo Tancred sein Mädchen ermordet. Diese Stelle hatte mich mehrmals innigst gerührt, aber damals mußte ich überlaut dabei lachen.

Ich ließ mich frisieren und lief sodann spornstreichs zur Christmette um sechs Uhr. Aus der Christmette lief ich, ohne zu wissen, wohin, zum Tor hinaus, zu dem Wirt in den »Pulverweiden«. Ich forderte Breuhahn, und die guten Leute wunderten sich, daß ich schon so früh Breuhahn trinken wollte. Hier saß ich nun fast drei Stunden, ehe ich recht zu mir kam, und untersuchte meine Empfindungen. Die gestrige Lustigkeit der Knoten und der Soldaten kam mir zuerst wieder in den Sinn, und da hob sich denn der Gedanke aus dem Gefühl der verwirrten Vorstellungen heraus, es wäre doch hübsch für dich, wenn du Soldat würdest!

Dieser Gedanke schüttelte mich anfänglich freilich gewaltig zusammen, kam aber immer wieder und wieder, und ich ward endlich mit ihm vertrauter. Das war alles noch bloße Vorstellung, aber von nun an kam auch Ueberlegung dazu. Wenn du Soldat wirst, dachte ich, so bist du auf einmal von den hallischen Manichäern los, dann bist du auch an deinem Bruder und Vater gerächt – an deinem Vater? – deinem guten, biederen Vater? – O, man vergebe mir diesen tollen Gedanken und denke an meine Lage! – Und endlich findest du ohne Zweifel Mittel und Wege, dir ein ruhigeres Leben zu verschaffen. Ruhe, von welcher Art sie sein, welchen Aufwand sie auch kosten möchte, Ruhe schien mir damals bei der gewaltig anhaltenden Unruhe, worin ich schwebte, das höchste Gut auf Erden zu sein.

Aber wo denn willst du Soldat werden? – Diese Frage löste sich bald auf. In Halle und an keinem andern Orte! In Halle bist du gekränkt, in Halle mußt du gerächt werden. – So kindisch rachsüchtig dachte ich damals in der Verwirrung.

 

In diesen Gedanken saß ich bis nachmittags um drei Uhr bei meinem Philosophen – so nannten wir damals den Wirt in den Pulverweiden. Er wollte immer mit mir reden, konnte aber wenig Worte von mir herauszerren; ich war zu sehr weg und bloß mit dem Gedanken, Soldat zu werden, beschäftigt.

Ich kam gegen Abend in die Stadt zurück, ging in die »Knochenkammer«, nicht um zu trinken, sondern um frohe Leute aus der Klasse zu sehen, zu welcher ich von nun an gehören wollte. Ich sprach mit einigen, fragte sie, wie es ihnen ginge, und erhielt natürlich lauter befriedigende Antworten. Dieses machte meinen Entschluß immer fester. Nun war die Frage, an wen ich mich wenden sollte? Allein dazu, dacht' ich, sollte gleich früh Rat werden. Also verließ ich diesen Ort des lärmenden Vergnügens froh, so froh, wie ich seit einem Vierteljahre nicht gewesen war. Zum Ueberfluß besuchte ich noch einen Klub auf dem Ratskeller. Die Leute waren alle froh, mich wieder zu sehen, da sie mich schon seit so langer Zeit nicht mehr gesehen hatten. Ich war über alle Gewohnheit lustig, und dies kam dem Exschustermeister Michaelis so befremdend vor, daß er nach seiner Art Anmerkungen darüber machte. Man stutzte aber nicht wenig, als ich meinen Entschluß, Soldat zu werden, deutlich genug zu verstehen gab. Wir waren indes im Preußischen, und so widersprach keiner. – So weicht der Mensch dem Bürger, der Ernährer dem Zuchtmeister!

Vom Ratskeller ging ich in das Haus, wo sonst mein Bruder gewohnt hatte, den Hanauer Puff. Hier wohnte die Cheminonin mit ihrem Manne, einem Soldaten von des damaligen Hauptmanns von Müffling Kompanie. Ich kannte diesen Cheminon und beschloß, ihm meine Absicht zu entdecken. Nachdem ich mehrere Gläser Schnaps – alles aus betäubender Lustigkeit – eingestürzt hatte, nahm ich ihn auf die Seite und bat ihn, doch ja dafür zu sorgen, daß ich ganz früh einen Hauptmann sprechen könnte, gleichviel welchen. Cheminon machte große Augen, als er von mir vernahm, daß ich Soldat werden wollte; er wollte es anfangs nicht einmal glauben und dachte, ich hätte ihn zum besten. Allein ich beteuerte ihm hoch und teuer, das sei mein Ernst, und so glaubte er's. Nun lobte er mir, wie natürlich, seinen eigenen Hauptmann, den Herrn von Müffling, und versprach mir, mich gleich am folgenden Morgen früh zu ihm zu begleiten. Ich blieb daher diese Nacht über in Cheminons Wohnung und soff mich voll in lauter Fuselbranntwein, den Madame Cheminon damals für Likör ausschenkte.

Früh erinnerte ich den Cheminon an sein Versprechen; er war willig dazu, sagte mir aber, sein Hauptmann käme diesen Tag auf Wache, da könnte ich ihn auf der Hauptwache sprechen. Das war mir denn recht. Nachdem also die Wache aufgezogen war, ging ich mit Cheminon zum Hauptmann, dessen offenes Wesen mir gleich gefiel. Er war sehr gefällig, und wir redeten von allerlei, doch aber kam das Gespräch immer wieder auf mein Soldatwerden. Herr von Müffling hatte einen Band von der deutschen Uebersetzung des Polybius vor sich, worin er lesen wollte. Ich hatte auch viel von Polybius gelesen und war mit der Historie dieses Schriftstellers bekannt. Daher räsonnierten wir lange über die Kriegskunst der Alten, von welcher wir aber beide wenig verstanden. Der Leutnant von Drygalski war die dritte Person.

Endlich kamen wir unserem Zwecke näher: wir kamen auf gewisse Punkte, welche mir Herr von Müffling zu erfüllen versprach. Einige davon sind freilich gehalten worden, aber – – –: doch ich enthalte mich aller Anmerkungen.

Herr von Müffling bot mir 8 Louisdor Handgeld und drang in mich, daß ich jetzt gleich entweder ja sagen oder alles abbrechen sollte; und ich sagte – ja!

So war ich also angeworben. Nun ließ der Hauptmann einschenken, was das Zeug hielt, und da ich die Schnurre noch von der vorigen Nacht im Kopfe hatte, so war es natürlich, daß ich derb besoffen ward. Ich ging nach der großen Wachtstube, machte mit allen Soldaten, die da waren, Brüderschaft, und war nun seelenfroh, daß ich Soldat war. Die Nacht über schlief ich in der großen Wachtstube, und zwar auf der Pritsche, obgleich Herr von Müffling mir in der Offiziersstube ein Bette hatte bereiten lassen.


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