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Drittes Kapitel.

Therese. – Seligkeit reiner Liebe. – Theresens Vater, der Amtmann. – Ich soll katholisch werden. – Pastor Neuner und der Kapuzinerpater Hermenegild wollen mir dabei helfen. – Zukunftspläne. – Mein Vater entdeckt die Umtriebe. – Seine Toleranz. – Ein geistlicher Mörder. – Abschluß meiner Schulzeit. – Reise nach Gießen. – Liederliches Leben in Frankfurt. – Berufswahl; warum ich Theologe wurde. – Gießen. – Die Offiziere. – Die Professoren. – Ein gelehrter Wucherer. – Studentenwitz. – Ein Frauenzimmer von seltener Fleischigkeit. – Auf welche Hochschulen sollten Eltern ihre Söhne schicken?

Der Amtmann zu *** hatte eine Tochter, welche ungefähr ein Jahr jünger war als ich. Das Mädchen hieß Therese, war ziemlich hübsch, aber katholisch, und zwar streng jesuitisch-katholisch, wie ihre ganze Familie. Ich lernte sie auf einem Jahrmarkt kennen und suchte von der Zeit an, näher mit ihr bekannt zu werden. Es war im Herbst, als ich sie zum erstenmal sah; ich sollte auf die nächsten Ostern die Universität beziehen, hatte daher als angehender Student schon mehr Freiheit, und mein Gesuch, Thereschen näher kennen zu lernen, war sehr leicht auszuführen. Ich besuchte sie hernach öfter, der alte Amtmann konnte mich wohl leiden: denn ich suchte mich nach seinen Grillen zu bequemen und widersprach ihm niemals. Therese war auch allemal froh, und sehr merklich froh, wenn sie mich kommen sah. Ich muß gestehen, daß die drei oder vier Monate, welche ich in diesem Umgang zubrachte, die seligste Zeit meines Lebens gewesen ist. Immer, wenn ich mich allein untersuchte, fand ich, daß ich dem Mädchen sehr viel zu sagen hatte, aber sobald ich bei ihr war, hatte ich nicht Mut genug, das zu offenbaren, was mir die Brust drückte, so oft ich mich auch entschlossen hatte, alles gerade heraus zu bekennen, es möchte auch werden wie es wollte.

Endlich machte ich's, wie alle unerfahrenen Liebhaber: ich schrieb ihr einen Brief und gab ihrer Magd einen Gulden, damit sie das Geschäfte einer Unterhändlerin übernehmen möchte. Einige Tage schwebte ich zwischen Furcht und Hoffnung und war wie im Fegefeuer: endlich brachte mir ein Bauer einen Brief von Thereschen, worin sie sich über meine lange Abwesenheit – ich war drei Tage weggeblieben! – beklagte und mir alle Ursache gab, das Beste zu hoffen. Nun flog ich nach ***, traf mein Mädchen allein in der Stube und hatte das erstemal Herz genug, sie mein Mädchen, meinen Engel zu nennen und ihre Wangen zu küssen. Das war ein Tag, lieber Leser, wie ich Ihnen recht viele gönnen möchte! Größere Seligkeit läßt sich nicht denken, als ich an diesem schönsten Tage meines Lebens genoß.

Von diesem Tage an wuchs unsere Vertraulichkeit immer mehr, und wir wechselten beständig Briefe. Ich machte auch Verse, und so wenig Geschick ich auch immer zur Poeterei gehabt habe, gefielen sie meiner Geliebten doch besser als die besten unserer Dichter. Das ist so in der Natur der Liebenden gegründet, und daher erklärt sich auch zum Teil die Verschiedenheit des Geschmacks.

Der alte Amtmann entdeckte auf irgend eine Weise unser Verständnis und hielt mir deshalb eine derbe Strafpredigt. So ein Umgang, meinte er, schicke sich für junge Leute, wie wir wären, nicht; ich hätte keine Aussichten, kein Vermögen u. dgl. Besonders stieß er sich an meiner Religion: ich wäre lutherisch, und er würde nimmermehr zugeben, daß seine Tochter sich mit einem Menschen behinge, der nicht ihres Glaubens wäre. Er bat mich darauf, sein Haus sparsamer zu besuchen, um seine Tochter nicht ins Gerede zu bringen.

Das war ein Donnerschlag für mich! Ich wußte nicht, was ich dem Manne antworten sollte: ich stammelte einiges Unverständliches, faßte mich kurz und führte mich ab, ohne diesen Tag meine Therese gesehen zu haben.

Ich machte mir tausend Grillen; bald wollte ich an den Herrn Amtmann schreiben: aber da war die Frage, was ich schreiben sollte. Bald wollte ich zu Theresens Base laufen, die einige Meilen davon wohnte, und ihr meine Not klagen, bald wollte ich sonst was tun. Aber von allen meinen Anschlägen wurde auch kein einziger ausgeführt; ich wußte nämlich nicht, wozu ich mich entschließen sollte. Zwei Tage nach diesem harten Stand erhielt ich ein kleines französisches Briefchen von meiner Therese, worin sie mir meldete, daß sie zu ihrer Vase reisen würde und mich daselbst auf den Sonntag unfehlbar erwartete.

Ich erwirkte von meinem Vater unter einem falschen Vorwand Urlaub und eilte zu der Base. Kaum war ich mit Therese allem, so erzählte sie mir der Länge nach, daß ihr Vater unseres Umganges wegen böse wäre; daß er sich hauptsächlich an meiner Religion stieße und daß nach Wegräumung dieses Steins des Anstoßes ihr Vater keinen Anstand nehmen würde, unsere Liebe ferner nicht zu stören, daß er mich für einen braven Menschen hielte, aus welchem noch etwas werden könne usw. Ich fing wieder an, Atem zu schöpfen.

Wenn's weiter keinen Anstand hat, erwiderte ich, so wollen wir schon Rat schaffen. Die Religion liegt mir nicht sehr am Herzen, und um dich zu erhalten, Engel Gottes! wollt' ich wohl einen Glauben annehmen, bei welchem ich ewig verdammt werden könnte.

 

Ich beredete mich sofort mit meinem Mädchen und versprach ihr, die katholische Religion näher zu prüfen und mich ganz von ihr und ihrem Vater leiten zu lassen. Wer einmal wirklich verliebt ist, würde gewiß alles tun, was ich tat. wenn er auch viel weniger Leichtsinn besitzen sollte, als Mutter Natur mir mitgeteilt hat. Kurz, recht seelenvergnügt schieden wir von einander, und Therese versprach, mich in ihr Gebet einzuschließen, damit der liebe Gott meine Augen öffnen und mir die Wahrheit recht sichtbar machen möchte.

Sobald ich nach Hause kam, besuchte ich den katholischen Pfarrer Neuner in Erbesbüdesheim, den ich schon lange kannte und der in ziemlich vertrautem Umgang mit meinem Vater stand. Ich fing recht geflissentlich an, von der Religion zu sprechen, und erinnere mich, daß unser Gespräch die Rechtmäßigkeit der lutherischen und überhaupt der protestantischen Geistlichen betraf. Herr Neuner setzte mir starke Gründe entgegen und borgte mir beim Abschied ein Buch von einem gewissen Augsburger Jesuiten namens Neumeyer. Er versicherte mich, daß ich darin die Hauptbeweise der katholischen und die Hauptwiderlegungen der unkatholischen kirchlichen Lehrsätze finden würde.

Herr Neuner hätte mir kein angemesseneres Buch geben können. Neumeyer hat schön Latein und so verführerisch geschrieben, daß auch ein Mensch ohne Interesse hätte irre dabei werden können. Ich hatte niemals viel von theologischen Kontroversen gehört und verstand die Lehrsätze meiner eigenen Sekte nur so obenhin. Da überdies mein Vater sehr tolerant war, so hatte er mir auch keinen Haß gegen andere Kirchensysteme eingeflößt. Auf diese Art war also meine Seele des Eindrucks recht empfänglich, den die Vorstellung von der Güte des Glaubens meiner Geliebten auf sie erregte. Kaum hatte ich daher das Buch durchgelesen, so bekannte ich mir selbst, daß das katholische Kirchensystem besser als das meinige wäre, und wurde recht ernstlich böse auf die Reformatoren, welche den unseligen Kirchenspalt bewirkt hätten, der mir jetzt mein ganzes Glück zu rauben drohte.

Mit aller Freude besuchte ich nun meinen lieben Neuner – denn damals schien er mir mein bester Freund zu sein – und entdeckte ihm ohne Umschweife, daß ich gestehen müßte, die katholische Kirche habe recht, unsere hingegen unrecht. Neuner lächelte mit proselytensüchtiger Zufriedenheit; aber da er ein Jesuitenschüler war, so konnte er mit einem so raschen Bekenntnis nicht zufrieden sein. Er mutmaßte ein Nebeninteresse von meiner Seite und fragte mich geradezu, ob ich reine Absichten bei meiner vorhabenden Bekehrung hätte? Ich stutzte, doch antwortete ich ihm: daß mir nichts näher am Herzen liege als die Wahrheit.

Inzwischen besuchte ich wieder einmal den alten Amtmann und fand seine Gesinnungen gegen mich besser als das letztemal. Ich erzählte ihm, daß ich jetzt beinahe von der Wahrheit der katholischen Religion überzeugt wäre. Er fiel mir ins Wort und sagte, daß er um mein gutes Geschäft schon wüßte, und zwar durch den Kapuziner, Pater Hermenegild von Alzey, der es vom Pfarrer Neuner gehört hätte. Uebrigens dürfte ich nicht fürchten, verraten zu werden, indem niemandem die Sache bekannt wäre, der Vorteil davon haben könnte, sie auszuschwatzen. Er versicherte mich endlich, wenn ich der Wahrheit getreu bleiben und dieselbe öffentlich bekennen würde, daß man bereit wäre, mich auf der Universität zu Heidelberg etwas Rechts lernen zu lassen und mir mit der Zeit auch eine Versorgung zu verschaffen: und so würde schon alles gut werden.

Dies zündete wieder neue Hoffnung in meiner Seele an, und der Himmel hing mir voll Geigen, wie man in der Pfalz zu sprechen pflegt. – Ich durfte seit dieser Zeit mit meinem Mädchen unter den Augen des Vaters vertraut umgehen, durfte sie herzen und küssen, ohne daß er uns je etwas anderes gesagt hätte, als: Leutchen, macht, daß ihr nicht in wüste Mäuler kommt! Noch dank' ich es dem guten Schicksal – denn meinen Grundsätzen hab' ich es wahrlich nicht zu danken –, daß unser Umgang nicht in eine allzu große und schädliche Vertraulichkeit ausgeartet ist. Gelegenheit war überflüssig da; aber so ausschweifend ich auch sonst bei anderen gefälligen Mädchen gewesen war, so fiel mir doch niemals der Gedanke ein, etwas mit meiner lieben Therese vorzunehmen, was wider die Ehrbarkeit gestritten hätte. So viel vermag ein bestimmter ehrbarer Gegenstand der Liebe, auch bei verwöhnten feurigen Jünglingen!

Dem Pastor Neuner und hernach dem Pater Hermenegild versprach ich, nicht auf eine protestantische Universität zu gehen, sondern katholisch zu werden und ohne weitere Rücksicht auf meinen Vater mit Unterstützung einiger reicher und eifriger Katholiken in Heidelberg die Rechtsgelehrsamkeit zu studieren. Ob das Ding so hätte können ausgeführt werden, überlegte ich damals nicht hinlänglich; mir schien es möglich, und wenn ich es noch jetzt überlege, so finde ich keinen Widerspruch. Mein Vater, dem im Herzen alle Kirchensysteme, als solche, gleich waren, würde sich wieder, wenn der Schritt einmal geschehen wäre, mit mir ausgesöhnt haben; eine Versorgung hätte mir auch nicht entgehen können, da ich ein Neubekehrter gewesen wäre, welches in der Pfalz von jeher eine große Empfehlung gewesen ist und es leider noch ist. Thereschen wäre mir am wenigsten entgangen. Doch es hat nicht sein sollen, mein Schicksal hatte es anders mit mir beschlossen.

Mein Vater merkte bald, daß ein Liebesverständnis zwischen mir und Mamsell Therese auf dem Tapet war; aber er hielt das Ding für eine Kinderei, die ihn nichts anginge. Es würde sich schon alles von selbst geben, dachte er, wenn ich auf Ostern die Akademie bezöge.

Zu dieser toleranten Gesinnung meines Vaters trug das regelmäßige und ordentliche Betragen nicht wenig bei, das ich seit dem Anfange meiner neueren Liebschaft annahm. Ich ließ alle meine ehemaligen schlechteren Bekanntschaften fahren, war, wenn ich nicht zu *** oder zu Büdesheim war, beständig zu Hause und studierte besonders fleißig den Quintilian und den Plutarch, meines Vaters erste Lieblinge. Außerdem hatte ich mich bei ihm durch eine lateinische Elegie in starken Kredit gesetzt, die ich auf den tragischen Tod der Tochter des Hofpredigers Herrenschneider gemacht hatte, und die man als ein Meisterstück – so schlecht sie sonst wohl sein mochte – bewunderte. Die Veranlassung zu dieser Elegie ist einzig in ihrer Art und gibt zu manchen Anmerkungen Stoff an die Hand.

Der Hofprediger Herrenschneider, dessen ich oben schon gedacht habe, hatte den Grehweilerschen Pfarrer Valentin zu Münster bei Kreuznach beleidigt, und dieser ihm aus Rachsucht einen tödlichen Haß geschworen. Der Hofprediger wohnte so, daß man aus dem Schloßgarten gerade durch ein Fenster in seine Wohnstube sehen konnte. Das wußte Meister Valentin, welcher ehemals in Grehweiler Hofkaplan gewesen war. Um nun seine Sache auszuführen, begab er sich an einem Winterabend in den Schloßgarten und schoß eine Flinte mit gehacktem Blei durch das gedachte Fenster ab, als der Hofprediger mit seinen Kindern zu Tische saß. Seine zweite Tochter, ein Mädchen von elf oder zwölf Jahren, wurde von einem Stück Blei ins Herz getroffen und starb auf der Stelle; der Hofprediger selbst wurde nur an der Schulter beschädigt.

Diese Begebenheit erregte in der dortigen weiten Gegend fürchterliches Lärmen: aber den wahren Täter erriet niemand. Das ganze Publikum fiel auf den Rheingrafen, welcher den Hofprediger damals schlangenartig verfolgte. Valentin verriet sich aber selbst; auf dem Nachhauseweg ging er zu Kalkofen in eine Schenke. Es war um Mitternacht und also schon verdächtig. Hierzu kam, daß er einige Tage vor der grausamen Tat Blei und Pulver in Kreuznach hatte holen lassen und mehrmalen dem Hofprediger den Tod geschworen hatte. Auf diese und andere mehre Anzeigen ließ ihn die Obrigkeit einziehen; aber er kam dem Richter dadurch zuvor, daß er selbst sein Leben mit Gift unterbrach, welches er zu diesem Gebrauch vielleicht schon lange bei sich geführt hatte. Er starb in schrecklichen Konvulsionen und gestand demohngeachtet, er freuete sich, daß ihm seine Rache an dem Schurken, dem Hofprediger Herrenschneider, gelungen wäre. So italienisch unversöhnlich haßte dieser Mann Gottes in Deutschland! – Er mußte über vier Wochen über der Erde liegen bleiben, weil die pfälzische Justiz ihren gewöhnlichen Schneckengang auch hierbei ging; endlich verdammte ihn die Kammer zu Wetzlar nebst zwei Universitäten zu einem Begräbnis – unter dem Galgen!

Jetzt wieder zu meiner eigenen Geschichte: Also wie gesagt, mein Vater hinderte meine Liebschaft nicht, er ging sogar so weit, daß er mir von Landau, wohin er wegen seiner Alchimie gereist war, ein Paar seidene Pariser Frauenzimmer-Sandschuhe mitbrachte und sie mir mit den Worten überreichte: »Da haste was for dein Mensch!« Die Sprache in der Pfalz ist, wie meine Leser hier sehen, nicht eben delikat; eine Geliebte heißt da, auch unter den Honoratioren, Mensch; der Liebhaber Borsch (Bursche). L.

Aber die Freude dauerte nicht lange; mein Vater entdeckte meinen Briefwechsel und sah da zu seinem Erstaunen, daß meine Liebschaft die Veränderung der Religion zum Mittelzweck hatte. Er blieb wohl nicht ganz gleichgültig, verbarg aber seinen Unwillen und ließ alle Briefe, wie er sie gefunden hatte.

Ich war ausgegangen und kam erst spät nach Hause. Meine Tante nahm mich gleich auf die Seite und steckte mir, daß der Vater meine Schreibereien untersucht hätte; ich erschrak nicht wenig, lief an mein Schränkchen, fand aber alles in der gewöhnlichen Lage und war zufrieden. Nach dem Abendessen warf mein Vater die Frage auf: ob der Kurfürst von Sachsen recht getan hatte, daß er, um die polnische Krone zu erhalten, katholisch geworden wäre? Es wurde über die Frage viel hin und her gesprochen, doch ohne sich etwas merken zu lassen, was eigentlich zur Sache gehört hätte.

Erst am anderen Tage, auf dem Rückweg von einem Besuch, den wir zusammen in der Nachbarschaft gemacht hatten, machte er mich auf das Vernunftwidrige aufmerksam, worein ich verfallen würde, wenn ich die geringere Torheit des Luthertums gegen die größere des Papsttums vertauschen wollte. Schimpfen und Schelten fiel indes nicht vor; ich mußte ihm nur versprechen, mein Vorhaben aufzugeben, und dabei schien er sich zu beruhigen. Zu Hause wurde weiter nichts davon erwähnt, und selbst meine Mutter war wenig von der Sache unterrichtet, weil er sie nicht kränken wollte.

Nach Verlauf von drei Wochen kündigte mir endlich mein Vater an, daß ich mich anschicken sollte, in einigen Tagen eine Universität zu beziehen. Hier, sagte er, wird aus dir nichts, hier verdirbst du an Leib und Seele und ärgerst mich noch zu Tode!

Ich stellte ihm vor, daß noch lange nicht Ostern wäre, daß es Aufsehen erregen würde, außer der Antrittszeit mich zur Universität zu begeben usw. Aber alle meine Einreden waren vergebens, es blieb bei seinem Entschluß; kaum konnte ich noch acht Tage Aufschub erhalten, um nur von meinen nächsten Bekannten Abschied zu nehmen; meine Therese sollt' ich durchaus nicht weiter besuchen. Das tat mir freilich sehr wehe; aber die Erwartung der Dinge, die ich nun bald auf der Universität erleben sollte, milderte meinen Schmerz, erheiterte meine Miene.

Mein Vater wollte mich selbst nach Gießen – denn dahin sollte ich – begleiten, damit ich unterwegs keine dummen Händel vornehmen möchte. Trotz aller dieser Strenge schrieb ich aber doch einige Tage vor meinem Abzug noch an Therese und erhielt eine recht zärtliche Antwort. Von Frankfurt a. M. habe ich noch einmal an sie geschrieben.

Unterwegs gab mir mein Vater viele vortreffliche Lehren; und ich würde gut gefahren sein, wenn ich sie befolgt hätte; aber leider schon in Frankfurt vernachlässigte ich eine seiner Hauptvorschriften. In dieser Stadt diente ein Barbiergeselle aus meiner Gegend, den ich aufsuchte, weil mir seine Anverwandten einen Auftrag an ihn gegeben hatten. Der Mensch war froh, daß er mich sah, und bot sich an, mich auf den Abend in die Komödie zu führen. Mein Vater erlaubte es. Da ich dergleichen schon mehr gesehen hatte und ohnedies ein sehr bekanntes Stück gegeben wurde, so bat ich meinen Führer, mir lieber sonst etwas Merkwürdiges in dieser schönen Stadt zu zeigen. Um meinen Vater hernach zu beruhigen, verabredeten wir, ihm zu sagen, daß wir in der Komödie gewesen wären. Gesagt, getan! Mein Landsmann nahm mich mit und führte mich – ins Bordell, zur Madame Agricola. In meinem Leben war ich noch in keinem Hause gewesen, das der Venus geweiht war; ich erstaunte also nicht wenig, als ich die zügelloseste Wollust sich hier in ihrer abscheulichsten Reizbarkeit entwickeln sah. Mein Kamerad machte sich mit den Mädchen viel zu schaffen; mich aber verhinderte meine Blödigkeit, zu machen, wie man vielleicht erwartet.

Ungefähr um elf Uhr verließen wir dieses lüsterne Haus. Ich machte meinem Vater eine Beschreibung von dem Schauspiel, das ich wollte gesehen haben, und er war zufrieden. Des anderen Tages besuchte er einen Freund, der ihn zum Abendessen dabehielt. Nun konnte ich wieder ausgehen, und meine Leser erraten schon, daß mein Gang zur Madame Agricola war.

Ich war jetzt dreister: mein Begleiter war nicht bei mir; ich blieb bis Mitternacht und verzehrte über einen Karolin von dem Gelde, das mir meine Mutter und einer meiner Verwandten zur Universität geschenkt hatten. Ich Tor wußte noch nicht, wie sauer Geld erworben wird! Die Mädchen waren fürchterlich aufgeräumt und kirrten mich so zuckersüß heran, daß ich ihnen Wein, Schokolade, Gebackenes und dergleichen bringen ließ. Cetera non curat praetor! Mein Vater war ungehalten auf mich, daß ich so lange ausblieb, aber ich wußte ihm so viel vorzunebeln, daß er sich endlich zufrieden gab.

In einem Tage reisten wir von Frankfurt nach Gießen, welches ungefähr zwölf starke Stunden davon liegt. Mein Vater überließ es unterwegs meiner Wahl, ob ich Jura oder Theologie studieren wollte; er stellte mir aber auch vor, daß ich in der Pfalz als Jurist keine Versorgung oder doch nur sehr schwerlich eine zu erwarten hätte, weil Protestanten wegen ihrer Religion wenig Ansprüche auf kurfürstliche Bedienungen machen dürften. Er riet mir also zur Theologie, ob er gleich im Herzen die meisten Sätze des Kompendiums für Erdichtungen oder erzwungene Lehrvorschriften hielt. Ich versprach also, Theologie zu studieren, aber im Ernst hatte ich das nicht im Sinne. Ich wollte nämlich noch sehen, wie es mit meinem Mädchen und ihrem Anhang werden würde. Im Beisein meines Vaters versprach ich zwar hoch und teuer, an Theresen nicht mehr zu denken und noch weniger an sie zu schreiben; aber mein Herz hing noch fest an ihr, so fest nämlich, als es für das Herz eines äußerst leichtsinnigen und unerfahrenen jungen Menschen möglich ist; und noch hatte ich keine andere Vorstellung von Glück, als von dem in ihrem Besitz.

In Gießen ließ ich mich immatrikulieren und meinen Hut nach der neusten Mode zustutzen. Sodann suchte ich mir auf dem Lektionskatalog einige Kollegien aus, pränumerierte sie, kaufte die Kompendien, stattete meinen Besuch auf den Dörfern ab, und verschaffte mir einen neuen blauen Flausch mit rotem Kragen und dito Aufschlägen. Mein Vater blieb nicht lange; er gab mir noch gute Lehren in Menge und reiste nach Hause.

Gießen selbst ist ein elendes Nest, worin auch nicht eine schöne Straße, beinahe kein einziges schönes Gebäude hervorragt, wenn man das Zeughaus und das Universitätsgebäude ausnimmt. Es führt den Namen einer Festung, die aber von allen Festungen, welche ich je gesehen, die elendeste ist; zudem wird sie von einem Berge kommandiert, von woher man sie recht gut beschießen kann. Es steht ein Regiment Soldaten darin, das aber gar nicht stark ist und nur, wenn ich nicht sehr irre, sechs Kompanien zählt. Das Regiment ist das Darmstädtische Kreisregiment und muß zu der Reichsarmee stoßen, wenn dieses Heldenkorps zu Felde zieht. Bei Roßbach sind die Darmstädter recht exemplarisch gelaufen. Die Offiziere haben meistens von der Muskete an gedient und sind endlich zu Chargen gelangt, aus keinem anderen Grunde, als weil sie lange gedient hatten. Ihre Lebensart ist nicht eben die beste. Außer Dienst sitzen sie auf den Dorfschenken, auf dem Schießhaus, bei Eberhard Busch oder sonst in einer Kneipe, machen mit Knoten oder Philistern Knoten = früher studentische Bezeichnung der Handwerksburschen (auch oft Gnoten geschrieben); Philister bedeutet im allgemeinen nur »Bürger« ohne schlechten Nebenbegriff. P. und mit Studenten Brüderschaft und spielen Tarock, sechs Marken zu einem Pfennig. Sehr wenige dieser Herren sind von Adel. Unter den Soldaten gibt es sehr viele alte Invaliden; sonst sind sie lauter Landeskinder.

Die Universität hatte zu meiner Zeit sechzehn besoldete und etwa drei unbesoldete oder außerordentliche Lehrer. Je weniger man von diesen gelahrten Herren sagt, desto besser; aber einiges mag zu ihrer Charakteristik hier Platz finden. Dieser Satz gehört nicht Laukhard an, sondern dem Herausgeber; L. verwendet im Gegenteil anderthalb Druckbogen zur Aufzählung und Kritisierung aller Professoren; aber seine Bemerkungen über ihr mangelhaftes Latein, ihre Schriften usw. können heutige Leser unmöglich interessieren; ich ziehe daher nur das kulturgeschichtlich und allgemein-menschlich Bedeutsamere heraus. P.

Professor Koch ist ein Jurist von Ansehen und nicht gemeinen Kenntnissen, wenn man ihm nämlich und seinen Schülern glauben will. Sein Ton ist im Kollegium und gemeinen Gespräch so diktatorisch, so zuversichtlich, daß es scheint, er habe gleich dem Vizegott zu Rom alle Weisheit allein, und befinde sich im Besitz, im ausschließenden Besitz der ganzen juristischen Gelehrsamkeit. In Gießen fürchtete sich jedermann vor dem Herrn Koch; was Er auf dem akademischen Senat spricht, muß gelten, und wenn Rektor und alle Professoren anderer Meinung wären. Wer daher Ihn zum Freunde hat, darf tun, was er will; kein Haar darf ihm gekrümmt werden. Herr Koch hatte auch eine Tochter, aber nicht in Gießen, sondern in Jena; sie hieß Hannchen und kam im Jahre 1775 nach Gießen. Da aber nahm ihr Vater sie sehr schlecht auf und drohte ihr, er wolle sie durch den Ratsdiener oder Häscher zum Tor hinaus bringen lassen.

Herr Schulz war zu meiner Zeit Professor der orientalischen Sprachen und Extraordinarius bei der theologischen Fakultät. Er war ein reicher Mann, dabei aber auch so geizig, daß er auf Pfänder lieh. Tambour Hofmann brachte oft von geldbedürftigen Musensöhnen Kleider, Schnallen, Uhren, Pfeifenköpfe u. dgl. hin und versetzte sie bei dem Herrn Professor. Einst geschah eine wahre Schnurre. Die Studenten hatten eine maskierte Schlittenfahrt, die sonst in Gießen sehr gemein waren und es vielleicht noch sind. Einer war als Jude maskiert, saß zu Pferde und hatte alte Kleider, Hosen, Hemden u. dgl. bei sich. Herr Schulz war am Fenster, der verkappte Jude ritt hin zu ihm und fragte, ob er nichts zu schachern hätte. Der Herr Professor antwortete: Nein. Der Jude bot ihm darauf seinen ganzen Trödel zum Versatz an und versprach ihm dreißig Prozent. Herr Schulz schmiß das Fenster zu, und die Zuschauer lachten. Weiter wurde nichts daraus.

Seine Gemahlin ist die Tochter des verstorbenen D. Benner, ein Frauenzimmer von seltener Fleischigkeit, wie D. Bahrdt sagte. Aber nicht der Fleischigkeit, sondern des Geldes wegen hat Schulz sie geheiratet. Schon vorher war ihr Ruf sehr zweideutig, und so ist er auch geblieben. Einigemal hat sie ihren Mann verlassen und mit Studenten communem causam gemacht. Aber Herr Schulz ließ sich das alles gefallen, weil sie Erbin eines beträchtlichen Vermögens war.

Daß auch Auswärtige um diese Zeit die Gießener Universität nicht hoch geachtet haben, zeigt folgende Anekdote: Nach dem Absterben des Professors Wolff wurde der Lehrstuhl der orientalischen Sprachen erledigt. Das Kuratorium glaubte, daß Professor Klotz zu Halle auch in diesem Fache gelehrt sei, und bot ihm die Stelle an. Klotz dankte für die Ehre aus guten Gründen. Er verstünde, schrieb er in seiner Antwort, zwar kein Hebräisch noch sonst etwas Orientalisches, doch ceteris paribus solle ihn das nicht abhalten, die Professur anzunehmen, indem er binnen vier Wochen soviel von dergleichen zu lernen gedächte, als die Gießener Studenten nimmermehr brauchen würden.

Manche Eltern glauben noch immer, man könne auf jeder Universität das Seine lernen – was freilich in Ansehung einiger guter Köpfe wahr ist –, man müsse daher den wohlfeilsten Ort aussuchen und den Herrn Sohn da studieren lassen. Aber diese guten Eltern verrechnen sich häßlich, vielmehr sollten sie eine Universität wählen, auf welcher die größere Anzahl der berühmtesten Männer das Fach lehren, für dessen Erlernung ihr Sohn entschieden ist, es sei nun Medizin, Jurisprudenz, Theologie oder ein anderes, und wo bei angemessenen Besoldungen, Bibliotheken und Kuratoren die ausgedehnteste Schreib-, Lehr- und Preßfreiheit herrscht. Freilich wird auch da aus manchem nichts, aber an einem Ort wie Gießen, Heidelberg, Rinteln, Mainz, Straßburg und dergleichen mehr Hochschulen, wo Subjekte lehren, die kaum auf einer Trivialschule lehren sollten, oder wo ein Landesherr oder Kurator ohne Kopf den Vorsitz führt und alles so engbrüstig schematisiert, daß man den Verstand darüber verlieren könnte – da wird es vollends gar nichts. Die Anmerkung ist freilich bitter, aber sie ist wahr, und deshalb sage ich sie frei hin.


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