Kurd Laßwitz
Sternentau
Kurd Laßwitz

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Erfolge

Wenige Tage später, es war Anfang Juli, als Harda frühzeitig nach dem Hühnerhofe hinüberschritt, kam der alte Wächter Gelimer augenzwinkernd an sie heran und sagte:

»Nehmen Sie's nicht übel, Fräulein, ich muß Ihnen mal was sagen. Nämlich, drüben auf dem Friedhof, da spukt's wieder. Heute nacht um Zweie hab' ich's gesehen; ganz gewiß. Und jetzt blüht der Goldregen nicht mehr.«

Er blickte sie schlau an.

»Gelimer,« sagte Harda lächelnd, »heute nacht war's wohl sehr kalt?«

»Nee, nee, gar nicht, es war sehr milde. Auch nicht einen Schluck habe ich genommen. Aber es waren viele gelbe und rote Lichter, die zwischen den Bäumen herumflogen.«

Harda versuchte gutmütig, dem Alten seine Beobachtung auszureden, aber sie war jetzt überzeugt, daß sich die Idonen dort bei der Sternentaupflanze, die sich Hedo nannte, ein Stelldichein gegeben hatten. Sie war lange nicht dort gewesen und hatte nur von Eynitz gehört, der einmal am Tage das Grab ihrer Mutter aufgesucht hatte, daß auch dort alle Sporenkapseln abgeschnitten seien. Eine nicht unerhebliche Menge eingetrockneten Rorins hatte er gesammelt und mitgebracht. Vielleicht hatten die Idonen jetzt ihren Versammlungsplatz dorthin verlegt.

Harda beeilte sich möglichst nach dem Laboratorium zu kommen, wo sie Werner zu treffen hoffte. Er wünschte sich jetzt nichts mehr, als wieder einmal auf lebende Idonen zu stoßen. Und das hing mit der Auffindung von Hardas Hut in der Höhle zusammen.

Die Untersuchung im Laboratorium hatte zwei interessante Tatsachen zu Tage gefördert. Zunächst war festgestellt worden, daß in chemischer Hinsicht das Material der feinen Fäden, aus welchen der Bau auf Hardas Hut hergestellt war, identisch war mit dem Rorin. Es war auch gelungen, bei besonderer Behandlung das Rorin in Fäden auszuziehen, die sehr elastisch waren. Zweitens aber verhielten sich diese Rorinfäden in ihren optischen Eigenschaften ganz ähnlich wie das von den Idonen hergestellte Gespinst, wenn sie auch nicht dessen außerordentliche Feinheit und Durchsichtigkeit besaßen.

Eynitz war geneigt daraus zu schließen, daß vielleicht die Idonen ihre Schleier aus demselben Material verfertigten. Wenn das aber der Fall war, so hoffte er, die Idonen auch für Menschenaugen unter Umständen sichtbar machen zu können.

Zahlreiche Versuche im Laboratorium hatten nämlich zu dem Ergebnis geführt, daß das Idonengespinst und in geringerem Grade auch die Rorinfäden Doppelbrechung besaßen. Im Tageslichte und bei gewöhnlichem künstlichem Lichte waren sie schwer sichtbar. Wenn man sie aber samt ihrer Umgebung ausschließlich mit grünem Lichte von derselben Zusammensetzung beleuchtete, wie sie das vom pflanzlichen Blattgrün zurückgeworfene Licht besaß, so zeigte sich von den beiden entgegengesetzt polarisierten Strahlen der eine rot, der andere grün. Löschte man diesen durch einen geeigneten Analysator aus, so erhielt man deutliche, rötlich gefärbte Bilder. Als Analysator hatte in der Höhle der Wasserspiegel gedient.

Auf Hardas Frage, woher das komme, erwiderte Eynitz, daß er die Tatsache eben rein empirisch gefunden habe. Eine ausreichende optische Theorie könne er schon aus Mangel an physikalischen Kenntnissen nicht im einzelnen geben. Die Tatsache steht fest. Die physikalischen Gesetze sind im ganzen Weltall dieselben; dagegen könne der Bau bestimmter Apparate und organischer Stoffe, die Struktur ihrer Gewebe, zahllose Verschiedenheiten besitzen, die wir noch nicht kennen. Je nachdem wir Linsen und Prismen anordnen, vermögen wir optische Instrumente mit den verschiedensten Wirkungen zu konstruieren. Ebenso müssen wir darauf rechnen, in Organismen, deren Zellenstruktur wir noch nicht kennen, auch auf überraschende Apparate und demnach auf optische Erscheinungen zu stoßen, über deren Ursache uns erst eine spätere, wissenschaftliche Untersuchung wird aufklären können. Die Hauptsache aber war vorläufig eine neue Beobachtung.

Der Erfolg, das Idonengespinst durch besondere Beleuchtung sichtbar zu machen, ließ sich auch subjektiv erreichen bei Betrachtung mittels eines farbigen Glases und eines Nicolschen Prismas. Wenn man durch ein Glas sah, das mit Ausnahme der Blattgrünstrahlen alle andern Farben stark, aber nicht völlig, abblendete, so gelang es, bei einer bestimmten Stellung des Nicols auf dem matten Hintergrunde der Umgebung das Idonengespinst als eine dunkelrötliche Zeichnung zu erkennen. Zu diesem Zwecke hatte sich Eynitz von dem geschickten Wiesberger Optiker einen einfachen Apparat konstruieren lassen, ein Nicolsches Prisma mit passender Blendung vor einem guten Opernglase.

Sollte es nun nicht vielleicht auch möglich sein, Idonen im Tageslicht auf diese Weise sichtbar zu machen?

Ja, wenn man es nur probieren könnte! Aber Idonen hatten sich nirgends mehr gezeigt. Was der Bau auf Hardas Hut für die Idonen bedeutete, war den Menschen nicht bekannt. Doch darauf kam es auch nicht an. In Wirklichkeit war es nicht ein Wohnhaus, wie Eynitz glaubte, sondern eine Konstruktion zu technischen Zwecken, zu deren Unterbau die Idonen in Ermangelung eines andern geeigneten Materials Hardas Hut benutzt hatten.

So war denn Eynitz sehr erfreut, als ihm Harda die Nachricht brachte, daß der alte Gelimer Gespenster gesehen habe.

Er entschloß sich, sogleich seinen Apparat auf dem Friedhof zu probieren, ob es ihm gelänge, vielleicht Idonen auf diese Weise zu bemerken. Freilich, wer konnte sagen, ob die Idonen sich überhaupt noch am Schauplatz ihrer nächtlichen Versammlung befanden? Aber es war doch die Hoffnung dazu vorhanden.

Gern hätte ihn Harda begleitet und sich an dem Versuche beteiligt. Indessen schien es beiden zu auffallend, zusammen nach dem Friedhofe zu gehen und sich dort längere Zeit aufzuhalten; denn man mußte darauf rechnen, daß man stundenlang auf gut Glück zu warten haben würde.

Es war Eynitz sehr peinlich, daß er sich Hardas Vater gegenüber noch nicht erklärt hatte und so beide zur Verheimlichung ihrer Liebe gezwungen waren. Aber Harda hatte sich bis jetzt nicht entschließen können, zu ihm von ihren häuslichen Verhältnissen zu sprechen, bis nicht irgend eine Klärung inbezug auf des Vaters häusliche Verhältnisse eingetreten wäre. Und so nahm sie das Glück ihrer Liebe als ein Geschenk, wie es sich bot, und wartete vertrauensvoll auf den Augenblick, der ihr die Möglichkeit geben würde, es zu offenbaren.

Harda hatte, etwas zurück im Zimmer stehend, Werner nachgeblickt, als er zu seiner Expedition nach dem Friedhof ging, und verharrte so noch eine Weile nachdenklich. Da sah sie ihren Vater in eifrigem Gespräch mit Doktor Emmeyer vom chemischen Laboratorium her auf das Kontor zuschreiten. Schnell war sie die Treppe hinabgehuscht.

»Darf ich mit?« rief sie dem Vater zu und hängte sich an seinen Arm.

Die dunklen Augen des Vaters leuchteten fröhlich, als er zu ihr aufblickte.

»Du kommst schon zu spät,« sagte er scherzend. »Es war sehenswert, was mir eben Herr Emmeyer gezeigt, erklärt und bewiesen hat. Und – Harda –« er blieb stehen und nickte ein paar mal langsam mit dem Kopfe – »alle Achtung! Eine großartige Sache. Es handelt sich auch um dich, um deinen Sternentau.«

Harda blickte zu Emmeyer hinüber.

»Haben Sie etwas mit dem Rorin herausgebracht, Herr Doktor?« fragte sie.

»Ich muß es dem Herrn Direktor überlassen, zu bestimmen, was ich darüber mitteilen darf,« sagte Emmeyer lächelnd.

»Dann steht's gut, das seh' ich dir an, Vater!« rief Harda fröhlich. »Natürlich muß ich alles wissen.«

»Ich ginge gern noch einmal mit dir, um mich mit dir zu freuen, Herzel. Aber meine Zeit drängt. Die Post wartet schon. Vielleicht ist Herr Emmeyer so freundlich, dir die nötigen Erklärungen zu geben. Sagen Sie ihr nur alles. Und das will ich dir schon jetzt verraten, Kind. Wir kaufen dir jede Quantität Rorin ab, d. h. wir nehmen das Vorkaufsrecht für sämtliche Sternentaupflanzen in Anspruch. Überlege dir deinen Preis.«

Über Hardas Gesicht blitzte es übermütig. »Ich weiß ihn schon! Leb wohl, Vater. Kommen Sie nur, Herr Doktor, ich bin furchtbar neugierig.«

Sie traten in das Gebäude. Vorsichtig nahm Harda ihre Kleider zusammen und schlüpfte zwischen den Apparaten und Bottichen hindurch.

Emmeyer legte die Proben von Resinit vor, große Stücke in rohem Zustande und in gehärtetem, sowie in verschiedene gebrauchsfähige Formen gebracht. Er erklärte:

»Zunächst darf ich daran erinnern, daß sich unser Resinit vom Kautschuk in einem wesentlichen Punkte unterscheidet. Der Kautschuk erhält seine Festigkeit und Elastizität erst durch das Vulkanisieren, wenn er zugleich in die Form gebracht wird, in der er zur Verwendung kommen soll. Unser Resinit aber, dessen Grundstoff ja mit den Gummisäften gar nichts zu tun hat, besitzt alle seine Vorzüge schon als Rohmaterial, so daß es als solches zur Versendung kommen kann, und verliert diese bei der Formgebung nicht, die durch einfaches Pressen bei sehr mäßiger Erwärmung geschieht. Das hier nun ist unser bisheriges Fabrikat, Sie kennen es ja. Und dieses hier ist das neue, gewonnen durch Zusatz von Rorin. Den Unterschied im Gewicht fühlen Sie schon mit der Hand.«

Harda wägte die beiden gleichgroßen Stücke, die Emmeyer ihr gab, in beiden Händen und sagte überrascht:

»Das neue ist ja nur halb so schwer.«

»Ja,« sagte Emmeyer mit freudestrahlendem Gesicht. »Aber es hat noch andre Eigenschaften.«

Sie gingen weiter. Emmeyer erläuterte die Prüfungen auf Härte, auf Elastizität, auf Inanspruchnahme durch Druck, durch Zug, durch Torsion. Hier der Widerstand gegen Abreiben und Abschleifen, hier die Ausdehnung bei Temperaturerhöhungen, hier die isolierende Wirkung bei elektrischen Strömen. Alles hatte sich bedeutend vorteilhafter erwiesen als bei dem früheren Produkt, vor allem aber übertraf die Elastizität alle Anforderungen, die man nur an das Resinit stellen konnte.

Harda staunte.

»Aber das ist ja glänzend, Herr Doktor!« rief sie. »Wenn das nur im Großen nicht etwa wieder versagt?«

»Das ist ausgeschlossen diesmal. Denn – der Versuch ist schon gemacht und gelungen. Da« – sie traten in einen neuen Raum – »da sind die drei Blöcke im Großen, von denen die Proben, die Sie gesehen haben, abgeschnitten sind. Das ist eine Überraschung, gelt?«

Harda sah ganz verwundert von den Resinitblöcken auf den Chemiker und wieder zurück. Sie wußte nicht, was sie denken sollte.

»Ich verstehe nicht, Herr Doktor – wo kommen die Blöcke her? Sie konnten doch nicht heimlich die Kocher in Tätigkeit setzen.«

»Nein,« lachte Emmeyer. »Das ging freilich nicht. Dies hier ist ein Teil von dem alten, verunglückten Produkt, drei Doppelzentner; die habe ich in der üblichen Weise nochmals verflüssigt und dann mit einem Zusatz von Rorin versehen und so weiter. Nach der Härtung haben sie fast das doppelte Volumen bekommen und alle die Eigenschaften, die wir erprobt haben. Wir können also unser bisheriges Fabrikat ohne weiteres veredeln.«

Harda schlug die Hände zusammen.

»Das wäre ja – nein, ist es wirklich wahr? So ein Glück! Da gratuliere ich. Aber wie ist das möglich? Woher hatten Sie soviel Rorin?«

»Wirklich verbraucht habe ich von dem angewendeten nur drei Gramm, auf den Doppelzentner ein Gramm, auf das Kilo ein Zentigramm. Aber es ist kein Zweifel, daß wir später auch davon noch einen Teil werden sparen können.«

»Das ist ja unglaublich.«

»Die mikroskopische Untersuchung erklärt das Rätsel. Die Masse ist nämlich von zahllosen mikroskopischen Hohlräumen durchsetzt, die jene günstigen Veränderungen der Eigenschaften bedingen, sowohl die Verminderung des spezifischen Gewichts als die Elastizität.«

»Aber wie kommt es, daß unsere ersten Proben auch so gut ausfielen, und dann doch der Versuch im Großen nicht gelang?«

»Diese ersten Proben zeigten, wie wir erst später unter dem Mikroskop erkannten, auch die poröse Grundstruktur. Aber niemand konnte wissen, welcher Nebenumstand sie hervorgebracht hat. Auch jetzt war es ja nur ein Versuch aufs Ungewisse, den ich mit dem minimalen Zusatz von Rorin machte, und ein Glücksfall, daß ich das Richtige traf. Nunmehr ist mir erst klar geworden, warum wahrscheinlich die ersten Proben so günstig ausfielen – es befanden sich auch einige weniger gute dabei, doch konnten wir uns das damals nicht erklären. Ich erinnerte mich nämlich, daß ich in denselben Räumen den Saft von Sternentaupflanzen eingekocht hatte, und ich darf wohl annehmen, daß die Spuren von Rorin, die dadurch ohne unser Wissen gegenwärtig waren, schon den ersten Erfolg hervorgerufen hatten.«

»Wie können aber solche geringe Zusätze so gewaltige Änderungen erzeugen? Ich verstehe nicht –«

»Wir nennen das eine katalytische Wirkung. Das Rorin tritt gar nicht in die Verbindung des Stoffes, des Resinits, dauernd ein. Es beschleunigt nur den chemischen Prozeß der Verbindung der übrigen Bestandteile, und durch diese Beschleunigung bildet sich die poröse Struktur. Ein Vergleich: Eine Maschine will nicht in Gang kommen, die Reibung der einzelnen Teile an einander ist zu groß. Da bringen wir eine Kleinigkeit Öl dazwischen, und das Schmiermittel, obgleich es kein Teil der Maschine wird, ermöglicht doch erst ihren Gebrauch. Ein solches Schmiermittel ist das Rorin für den Gang der chemischen Maschinerie. Es ist eben Glückssache, wenn man's findet.«

»Auf die Weise ist alles Glückssache. Machen Sie Ihr Verdienst nicht kleiner, als es ist, Herr Doktor! Ich freue mich ja so sehr!«

»Lassen wir das Verdienst, der Verdienst ist die Hauptsache! Denken Sie, die Herstellungszeit des Resinits wird nun auf die Hälfte herabgesetzt. Was das allein für eine Ersparnis bedeutet!«

»Aber nun kommt noch der Preis des Rorins dazu, den kennen Sie doch gar nicht,« sagte Harda lächelnd.

»Ja, da sind wir freilich auf Sie angewiesen, gnädiges Fräulein. Aber hübsch ist es, daß Ihr Sternentau, da mit seinen unsichtbaren zerfließenden Früchten nichts anzufangen war, uns dafür seinen Milchsaft beschert hat. Wir werden es nun wohl gar nicht mehr zur Fruchtentwicklung kommen lassen?«

»Nein,« antwortete Harda nachdenklich, »damit wird's nun freilich wohl nichts werden. Na, ich will schon den Rorinpreis so stellen, daß die Hellbornwerke bestehen können und Sie auch.«

Ein junger Mann kam herein und trat eilig auf Emmeyer zu.

»Herr Direktor Kern ist am Telephon,« sagte er, »und läßt das gnädige Fräulein bitten, möglichst bald zu ihm ins Privatbüro zu kommen.«

»Ich komme schon,« rief Harda. »Also adieu, Herr Doktor, grüßen Sie Ihre liebe Frau. Die wird sich auch schön freuen, daß Sie einen so großartigen Erfolg erzielt haben.«

»Die darf noch nichts wissen, noch niemand, ohne Einwilligung der Direktion. Aber daß mir Ihr Herr Vater bereits eine erhebliche Zulage versprochen hat, das darf ich schon sagen. Und daß sie sich heute noch das Kostüm zum Sommerfest –«

»Das blaue, das ihr zu teuer war? Ja, ja, das soll sie nur nehmen!«

»Ich will's ihr sagen! Vielen Dank, gnädiges Fräulein.«

Harda schüttelte Emmeyer die Hand und lief zum Vater hinüber.

Als sie eintrat, saß er nachdenklich vor seinem Tische. Jugendlich frisch sprang er auf, ging ihr entgegen und zog sie dann neben sich auf das Sofa.

»Mädel,« sagte er, sich die feinen Hände reibend, »heute ist ein Glückstag. Da liegt das Aktenstück. Es ist alles fix und fertig, sie kann mir nichts mehr anhaben. Der Justizrat hat's durchgesetzt. Aber –«

Er zog die Augenbrauen in die Höhe und strich sich das Haar mit beiden Händen von hinten über die kahlen Schläfen.

»Geld kostet es – Harda – 's ist schauerlich. Ich weiß wirklich nicht, ob ich's tun durfte.«

»Selbstverständlich, Vater! Das ging nicht anders. Ich habe dich ja so gebeten – was es auch koste, die Breslauer Geschichte muß aus der Welt.«

Er seufzte und sagte darauf. »Ich freu' mich ja auch, daß es so weit ist. Sie will heiraten, dazu braucht sie so viel, meint sie – – Und es ist mir jetzt wirklich recht schwer. Ich werde von meinen Hellbornaktien verkaufen müssen, gerade jetzt, wo sie binnen kurzem hinaufschießen müssen. Denn nach dem neuen Verfahren – Ich bin überzeugt, wir werden nächstes Jahr dreißig Prozent Dividende geben können.«

»Verkaufen sollst du nicht, Vater. Ich kann ja frei über meine Staatspapiere verfügen. Die nimmst du. Wird es reichen?«

»Das schon, jedoch – sicher ist sicher –«

»Ich will's aber. Ich will nämlich selbst spekulieren. Wir werden uns schon verständigen. Was du dadurch gewinnst, wird halbiert. Ich vertraue auf meinen Sternentau.«

»Ja, Herzel, ich glaube, das kannst du. Das ist eine tolle Geschichte. Es ist mir ja nicht recht, dich in Anspruch zu nehmen. Und doch ist es wohl das Vorteilhafteste für uns alle. Nun, wir werden uns schon einigen, ich will mir die Sache noch berechnen. Ich muß ja doch an Sigi denken. Als deine Großmutter starb, lebte Sigi noch nicht, sie hat nichts Eigenes, ich muß für sie sorgen.«

»Eben darum sollst du alles von mir nehmen. Ich würde mich schon durchschlagen, auch wenn 's verloren ginge. Aber wie's heute steht, so mache ich zweifellos ein gutes Geschäft. Und nun laß dich mal küssen, Vater! Ich bin ja so glücklich. Nun wird alles gut werden.«

»Du bist mein braves Mädel.« Er sah mit Stolz zu ihr empor, die vor ihm stand.

»Und du bist nicht mehr böse, daß ich – daß ich den Brief an Frickhoff –«

»Ach Kind, da wollen wir gar nicht mehr davon sprechen. Sorge du nur dafür, daß dein Sternentau richtig Rorin produziert. Wir werden ihn massenhaft brauchen. Das Wunderzeug muß methodisch angepflanzt werden.«

»Hm,« sagte Harda wichtig. »Was denkst du von unsrer Sternentau-Kommission? Wir mußten doch auf Material für die Zukunft denken, falls wirklich etwas Brauchbares aus dem Ros stellarius herauskommen sollte. Gleich in der ersten Woche haben wir Kulturen angelegt, hinten bei den Warmhäusern und im Walde, d. h. wo der Park an den Wald stößt. Da haben wir schon ganze Reihen von jungen Pflanzen gezogen, die im Herbst ausgesetzt werden können. Ich weiß von der Anpflanzung in meinem Zimmer, daß sie dann schon im Frühjahr – blühen – na ja, – natürlich muß Efeu dabei sein, sonst gedeiht der Sternentau nicht. Aber da werden wir wohl später andre Aushilfe finden.«

»Das ist prachtvoll. Wir haben ja noch ein großes Waldgebiet.«

»Übrigens, der Sternentau, von dem das erste Rorin stammt, gehört eigentlich Onkel Geo. Und wie die Brutknospen gelöst und verpflanzt werden müssen, das hat Herr Doktor Eynitz erst richtig herausbekommen. Überhaupt, die ganze Idee zu den Anpflanzungen geht von ihm aus –«

»Hm, ja, mit Onkel Geo und dem Doktor müssen wir uns einigen. Dabei rechne ich mit auf dich. Überhaupt, Kind, ich bin dir so zu Dank verpflichtet.«

»Vater!«

»Wir müssen auch an dich denken. Du sollst froh und glücklich sein, du wünschest dir Freiheit. Bis jetzt ging's eben nicht anders. Aber nun wird doch wohl Minna sich beruhigen. Wenn es ihr besser geht, dann ließe sich vielleicht bald dein Wunsch erfüllen. Es wäre mir natürlich sehr schwer, dich nicht mehr hier zu haben; aber – wenn du den Kommerzienrat genommen hättest, wärst du ja zum Winter auch fortgegangen. Wenn du also wirklich noch auf die Universität willst – zum nächsten Semester – ja, dann hätte ich eigentlich kein Recht mehr, dich hier zu halten. Du hast dir doch deine Freiheit verdient.«

Harda saß still auf ihrem Platze mit niedergeschlagenen Augen. Sie hielt die Hände auf dem Schoße gefaltet. Beide schwiegen.

Nach einiger Zeit begann Harda:

»Ich gehe nicht fort, bis wir nicht sicher sind, daß die Anfälle der Tante aufgehört haben – oder – bis Sigi aus dem Hause ist. Allein lasse ich sie nicht, sie soll nicht erleben, was ich erlebt habe.«

Kern zog sie an sich. »Du armes, liebes Kind,« sagte er, »das wird ja besser werden. Ich werde das Meinige dazu tun.«

»Du kannst es,« sagte sie, den Vater mit großen Augen ansehend.

»Du meinst –?«

»Wir sind nun beide erwachsen. Wir haben ja so oft davon gesprochen. Wenn wir beide fortgingen, so wäre es doch das Beste – nicht? Ihr habt Euch doch so lieb, eigentlich. Es würde sich dann auch niemand wundern. Ich sehe keinen Grund, warum du nicht dein Versprechen einlösen solltest?«

Kern schwieg und sagte dann:

»Laß mir nur Zeit, Herzel. Erst denken wir einmal an dich. Du sollst nicht hier gefesselt sein. Jetzt sind ja wohl die Sternentau-Studien im Wesentlichen zu Ende. Da wird dir hier das Getriebe bald wieder zu viel werden, du wirst dich in deiner Weise beschäftigen wollen, und du sollst frei sein. Dafür zu sorgen, bin ich dir schuldig. Wegen Sigi werde ich dann schon einen Ausweg treffen. Vielleicht hat sie selbst Lust, einmal auf ein Jahr anderswohin zu gehen –«

»Vater,« unterbrach ihn Harda mit plötzlichem Entschluß, »mach dir keine Sorgen. Ich gehe nicht fort– diesen Winter noch nicht – freilich, was dann sein wird – das werden wir ja sehen –«

»Du willst nicht mehr studieren?«

»Doch, aber anders. Erst noch hier.«

»Hier. Wie? Bei Doktor Eynitz vielleicht?«

Harda sprang auf und legte dem Vater ihre Hände auf die Schultern. Sie beugte den Kopf zu ihm herab und sprach halblaut.

»Vater, ich will dir was sagen. Fall' nicht aus den Wolken. Ich hab' mich mit Werner Eynitz heimlich verlobt. Nun ist es heraus! Wir lieben uns. Heute schick' ich ihn dir noch her. Bis jetzt wollte ich's nicht, weil ich nicht konnte – weil ich's nicht übers Herz bringen konnte, von dem häuslichen – Jammer – zu sprechen.«

Sie schluchzte. Er streichelte ihre Wange.

»Aber jetzt – braucht man ja davon nichts mehr zu sagen. Jetzt bleib' ich nur wegen Sigi, aber das kann ich doch auch, wenn wir öffentlich verlobt sind. Und dazu sollst du mir deine Einwilligung geben.« Sie trocknete ihre Augen. Und da Kern noch schwieg, fuhr sie fort: »Weißt du Vater, er ist ja doch mein Sozius beim Sternentau, er ist doch beteiligt, es ist ja eigentlich eine Geschäftssache. Die Geschichte mit dem Sternentau ist noch gar nicht zu Ende – ich weiß nicht, was ich rede –«

Kern faßte sie in seine Arme. Er war wirklich wie aus den Wolken gefallen. Dann sagte er:

»So steht die Sache? O du –« er küßte sie – »nun, da ist freilich nicht viel zu sagen. Wer weiß denn davon?«

»Niemand – doch einer, Onkel Geo – weißt du, du warst doch verreist – sonst –«

»Sonst hättest du mir' s auch nicht gesagt? Ich kenne dich doch! Nun begreife ich auch die Absage. Ei, ei! Aber das geht nicht so! Schick mir nur gleich den Doktor her –«

»Vater, du bist nicht ungehalten? Er wollte durchaus zu dir gehen, aber ich hab's ihm verboten.«

»Und er mußte folgen? Na, der wird's gut haben. Also, ich lasse ihn zu Tische bitten, verstanden? Aber, wie willst du ihn denn jetzt auftreiben?«

»Ich weiß, wo er ist. Adieu, Vater!«

Harda fiel dem Vater wieder um den Hals und drückte ihn an sich. Dann riß sie sich los und war im Augenblick aus der Tür. Sie stürmte aus dem Hause, mit wirrem Haar. Die Comptoiristen sahen ihr neugierig durchs Fenster nach, als sie über den Platz eilte.

Ohne Hut, wie sie aus dem Laboratorium dem Vater entgegengesprungen war, lief sie jetzt durch die Fabrik, an der Portiersloge vorüber, die breite Straße entlang, dem Friedhofe zu. Er mußte ja noch dort sein, er mußte!

Sie war schon an der Villa vorüber und hatte den Park zur Rechten. Wo die Straße eine Biegung nach links machte, begegnete ihr auf einmal Leutnant von Tielen. Er schien es sehr eilig zu haben und grüßte etwas verlegen, ohne sie anzusprechen. Auch Harda hatte keine Lust sich aufzuhalten. Sie mäßigte ihre Schritte nicht und dachte nur, wo kommt der jetzt her? Vielleicht von den Schießständen? Dann hat er freilich einen Umweg gemacht. Das helle Kleid, das eben im Park hinter dem Gebüsch verschwand, hatte sie gar nicht bemerkt.

Erst als sie das Tor des Friedhofs erreicht hatte, blieb sie stehen und strich ihr Haar zurecht. Einen Augenblick dachte sie. »Habe ich mich nicht übereilt? Hätte ich nicht noch warten sollen? Oder es ihm zuerst sagen, daß ich mit dem Vater sprechen will? Muß er sich nicht wundern, daß ich plötzlich selbst getan habe, woran ich ihn so dringend hindern wollte?«

Aber sie suchte sich sogleich selbst ihren raschen Entschluß zu begründen. Ihr Verhältnis zum Vater, ihre ganze Situation hatte sich ja heute plötzlich verändert. Und selbst wenn die Tante in ihrem nervösen Zustande beharrte, so war doch der Anlaß fortgefallen, der ihr des Vaters wegen den Mund verschloß. Minna war dann einfach eine Kranke, und darüber konnte sie mit Werner sprechen, er war ja Arzt.

Das alles flog ihr blitzschnell durch den Sinn, aber eigentlich klar wurde sie sich nicht. Sie überließ sich ganz ihrem Gefühl. Und auf einmal überfiel sie wieder die Angst – wenn er die Idonen gefunden hatte, wenn sie doch gegen ihn feindlich vorgegangen wären – –

Mit Herzklopfen eilte sie durch die verwachsenen Gänge des Friedhofs nach der bekannten Stelle. Aber immer langsamer wurde ihr Schritt. Jetzt sah sie hinter dem Gesträuch eine Gestalt. Sie erkannte Werner. Vorsichtig schlich sie näher. Sie mußte lächeln. Er saß auf der Bank, auf der sie so oft geruht hatte. Neben ihm lag sein Strohhut und einige in Holz gefaßte bunte Glastafeln. Mit der rechten Hand hielt er sein Opernglas auf einen bestimmten Punkt gerichtet, während er mit der linken an der Einstellung des Nicols drehte. Sie folgte seinem Blicke. Dieser wies auf die Spitze eines Grabsteines in etwa zehn Schritt Entfernung. Dort konnte sie nichts erblicken. Leise trat sie noch einen Schritt vor.

Da knackte ein Zweig unter ihrem Fuße.

Werner nahm langsam die Hände mit dem Instrumente herab und drehte sich vorsichtig um. Er erkannte Harda und winkte ihr mit einer Kopfbewegung, zu schweigen. Sie schlich sich neben ihn.

Er gab ihr das Glas in die Hand.

»Vorsichtig!« flüsterte er. »Auf dem Borningschen Grabstein.«

Sie blickte durch das Instrument.

»Siehst du?« fragte er leise.

»Noch nicht,« antwortete sie ebenso. »Doch – jetzt – deutlich. Wie ein Schattenriß, eine zierliche Figur, rötlich hebt sie sich gegen die Baumwand ab.«

Eynitz nickte mit dem Kopf. »Viel heller, merkwürdiger Weise, als ich erwartet hatte.«

»Reizend,« bemerkte Harda. »Ich sehe nicht bloß den Schleier, ich sehe den ganzen Kopf. Sie bewegt die feinen Fühler. Darunter zwei dunkle Kreise.«

»Die Augen.«

»Dann kommt das Schleierkleid. Oh – ich glaube, sie sieht mich an –«

Harda schwieg, aber sie hielt noch immer das Instrument vor ihre Augen.

»Ja, ja –« sagte sie jetzt wie geistesabwesend. »Ganz sicher. Du hebst die Arme. Nein, nein. Sage es Ebah. Wir wollen die Pflanzen lieben –«

Die Hände sanken ihr herab.

Eynitz griff rasch zu.

»Was ist dir, Liebste?« fragte er erschrocken.

»Nichts, nichts. Ich sah eine Idone. Sie sprach zu mir. Ich weiß nicht, wie das möglich ist. Sie fragte mich, ob ich sie sähe und was sie jetzt täte. Dann fragte sie weiter, ob wir die Idonen verfolgten. Ich weiß nicht genau, was ich sagte, aber ich dachte, daß ich mit dem Efeu sprechen möchte und daß ich wohl weiß, die Pflanzen sind auch fühlende Wesen. Dann konnte ich das Glas nicht mehr halten.«

Eynitz hatte noch, während Harda sprach, wieder durch das Instrument nach dem Platze geblickt.

»Es ist nichts mehr zu sehen. Nirgends. Sie sind fort. Aber ich habe vorher wenigstens fünf oder sechs Idonen beobachtet. Kein Zweifel, wir können sie jetzt wahrnehmen, wenn wir wollen. Du brauchst dich nicht mehr zu ängstigen. Aber nun laß dich zuerst einmal begrüßen, Herzblatt. Fühlst du dich auch wohl?«

»Ganz wohl, wohler wie je. Ich bin ja so glücklich. Darum komm' ich hergelaufen.«

Sie schmiegte sich an ihn.

»Aber daß sie zu dir sprechen konnte –« begann Eynitz.

»Ach du,« schmeichelte Harda, »davon nachher. Du weißt ja noch gar nicht, warum ich hier bin.«

Sie wartete seine Frage nicht ab.

»Ich habe mit dem Vater gesprochen. Du möchtest gleich zu ihm kommen. Du sollst bei uns zu Tisch sein. Jetzt weg mit den Dingern, das hat nachher Zeit. Und das Rorin – na, du wirst staunen. Komm, komm! Ich erzähle dir unterwegs.«

Sie ergriff das Kästchen mit den Gläsern und zog den völlig Überraschten mit sich fort.


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