Kurd Laßwitz
Sternentau
Kurd Laßwitz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Gespenster

Die Tafel war programmäßig verlaufen. Der Wagen fuhr zum Gartentor hinaus und die Gäste winkten noch mit den Tüchern. Der Geheimrat versicherte dem Landrat, daß die Kernschen Damen entzückend liebenswürdig seien und die Weine vortrefflich. Die Werke schienen ja geradezu imposant. Das bestätigte der Landrat aufs eifrigste.

Harda war sehr müde. Sie trat in ihr Zimmer mit der Absicht, sich auf ein Stündchen hinzulegen. Aber als sie die Tür öffnete, sprangen ihr zwei junge Mädchen mit Jubelrufen entgegen und umarmten sie..

»Wir warten schon lange!«

»Wir wollten uns unten nicht sehen lassen.«

»Kinder, was bringt ihr denn?«

»Wir sind ja das Komitee, wir beide und du sind gewählt.«

Es waren Gerda Wellmut und Annemi von Ratuch, die Töchter des Bürgermeisters und des Obersten. Sie erklärten, die Erholungs-Gesellschaft hätte beschlossen, ein großes ländliches Fest zu veranstalten, und sie drei müßten seitens der jungen Mädchen einige Überraschungen vorbereiten.

Damit umfaßten sie Harda und alle drei tanzten vor Vergnügen im Zimmer herum. Die Müdigkeit war verschwunden.

Die Beratung war sehr eingehend. Dann ging man zum Kaffee hinunter in die Veranda, Sigi und Tante Minna kamen hinzu, und es war sechs Uhr geworden, ehe es die Mädchen merkten. Nun war es ja höchste Zeit, zur Tennispartie zu gehen.

Sie hatten sich von der Tante verabschiedet und begannen eben im Scherze einen Wettlauf nach dem Spielplatz, als Harda einen Telegraphenboten bemerkte, der sein Rad an das Gartentor stellte. Sie rief den Mädchen zu, daß sie warten sollten und ging dem Boten entgegen. Die Depesche war an sie persönlich. Sie wußte, was darin stehen würde. Der Vater telegraphierte aus Breslau: »Bin auf dem Wege nach Nikolai wegen Maschine. Komme bestimmt bis Sonnabend früh zurück. Teile dies Minna, Milke, Frickhoff mündlich mit.«

»Was ist denn los?« rief Sigi.

»Geht nur, ich kann erst später kommen, ich muß noch mit Tante sprechen. Der Vater bleibt zwei Tage länger fort.«

»Komm nur bald nach.«

Hardas Übermut war vorüber. Sie ging zunächst auf ihr Zimmer, um die Depesche fortzulegen. »Teile dies mündlich mit.« Sie wußte, warum. Es brauchte niemand zu wissen, wo ihre Nachricht den Vater erreicht hatte. Sie schloß die Depesche in ihren Schreibtisch und stützte den Kopf in ihre Hände. Jetzt fühlte sie wieder, daß sie müde war. Wie zufällig richtete sich ihr Blick auf den Efeu hinter der Büste. Dann schloß sie auf einen Augenblick die Augen. Da war es ihr, als wenn ein kühler, beruhigender Hauch um ihr Haar wehte, alles wurde ganz still in ihr; statt des Efeus in ihrem Zimmer sah sie draußen die Buche am Riesengrab in ihrem dichten, dunklen Efeukleide. Und es stieg in ihr auf wie eine Botschaft, die vom Walde käme:

»Arme Harda, warum sorgst du dich unter den Hastenden? Wache auf und blühe mit uns unter den Wurzelnden! Groß und lebendig und dauernd ist das Reich der Werdewelt. Wir hasten nicht, wir wachsen nach unserm Gesetze. Ich will dir von meiner Seele geben, daß du nur der Macht folgst, die dich zur Eigenblüte bildet im großen Walde des Lebendigen.«

Harda fuhr empor. Vor ihren Augen hatte sie wieder den dunkeln Efeu mit der weißen Büste davor. Sie konnte nicht sagen, daß sie eigentlich Worte gehört hatte, aber die Gedanken waren ganz deutlich in ihrem Bewußtsein. Wie ein trostvoller Ruf zum eignen Wollen. Hatte sie denn geträumt? Nein, nein! Es war wohl ein Mahnruf des geliebten, fernen Freundes, der ihr durch das Nachbild der Büste erweckt war.

Der kühle Hauch um ihr Haar war verschwunden, aber sie fühlte sich wieder frisch und mutig, wie von der Kraft einer andern Welt erfüllt.

Sie stand auf. Jetzt wollte sie ihre Botschaft an die Tante ausrichten, und dann – dann mußte sich Zeit finden. –

Tante Minna saß mit einem Buche im Garten, als Harda herantrat.

»Du bist es?« sagte Minna erstaunt aufblickend. »Ich denke, du bist beim Tennis?«

»Ich war im Begriff, hinzugehen, da kam eine Depesche vom Vater.«

»Wann kommt er?«

»Übermorgen, mit dem Nachtzug.«

»Erst übermorgen? Nicht heute? Warum denn? Wo ist die Depesche?«

»Sie war an mich, ich – ich habe sie nicht hier. Vater hat sich entschlossen, noch nach Nikolai zu fahren, um die Ankunft der Maschinen zu beschleunigen.«

»So so, – nach Nikolai,« sagte Minna nervös. »Da muß er ja wohl über Breslau.«

Harda nickte.

»Und da braucht er zwei ganze Tage.«

»Aber Tante, er muß sich doch in Nikolai aufhalten, da kann er sich die Zeit auch nicht aussuchen, in der er die Herren gerade in der richtigen Stimmung trifft.«

»Das konnte er doch überhaupt telegraphisch machen.«

»Das hat eben nichts geholfen. Du weißt, wenn Vater selbst kommt, das ist etwas ganz anderes.«

»Nun so eilig ist die Sache wohl nicht.«

»Sie ist äußerst eilig, besonders wegen der neuen Maschine –«

»Das konnte ja Hermann gar nicht wissen, er war schon unterwegs –«

»Hm, – vielleicht hatte Milke noch eine Adresse.«

»Du hast immer eine Entschuldigung für den Vater. Zeig mir doch mal die Depesche.«

»Ich sagte dir ja, ich habe sie nicht hier.«

»So hole sie doch einmal. Wo war sie denn ausgegeben?«

»Aber Tante, das ist ja ganz gleichgültig. Es stand nichts drin, als was ich dir gesagt habe, und daß ich es dir, Milke und Frickhoff mitteilen soll. Und das will ich jetzt tun.«

Harda wandte sich zum Fortgehen. Sie wollte das Telephon im Hause benutzen.

»Harda!« rief Minna heftig. »Ich will wissen, woher die Depesche war! Warum sagst du's nicht? Aber ich weiß schon. Sie war aus Breslau!«

Harda zuckte mit den Achseln.

»O, ich weiß schon!« sprach Minna immer aufgeregter. »Das war wieder eine abgekartete Sache mit Breslau! Nikolai ist ein Vorwand. O ja! Und ihr steckt alle zusammen! Alle gegen mich im Komplott! Ich arme, arme –«

Harda trat an die Schluchzende heran und legte ihr beruhigend den Arm um die Schulter. Minna wies sie zurück.

»Geh nur, geh!« rief sie. »Ich will nichts von dir wissen. Du bist ebenso schlecht wie dein Vater! Ihr betrügt mich alle!«

»Tante!« sagte Harda entschieden. »Ich bitte dich, mäßige dich. Ich kann das nicht hören. Du weißt es.«

»So lauf' nur fort! Allein ist mir am wohlsten. Geh nur! Du wolltest ja lange schon auf die Universität. Kannst ja auch nach Breslau gehen! Viel Vergnügen zur Gesellschaft! Hahaha!«

Sie lachte krampfhaft.

»Tante,« sagte Harda ruhiger, »ich will dir etwas sagen. So geht das nicht. Ich habe mir's immer und immer wieder überlegt – ich halte das nicht mehr aus. Den ganzen Tag in Unruhe, und dann von dir diese Beleidigungen. Ich weiß ja, es tut dir nachher wieder leid, aber es kehrt auch immer wieder. Ja, ich gehe auf die Universität, wenn auch nicht gerade nach Breslau. Sobald Vater hier ist, werde ich es ihm sagen. Noch nächste Woche gehe ich fort.«

»Geh nur, geh! Wenn du mir nur aus den Augen kommst!«

Harda schritt langsam auf das Haus zu. Sie klingelte dem Fräulein und schickte es mit einer Erfrischung zu Minna. Dann trat sie ans Telephon und benachrichtigte nach dem Auftrage des Vaters den stellvertretenden Direktor und den Kommerzienrat.

Als sie durch den Hausflur ging, um sich in ihr Zimmer zu begeben, kam ihr Sigi eilig entgegen.

»Was ist denn?« fragte sie. »Warum kommst du nicht? Und Tante sitzt im Garten und sieht aus, als wenn sie geweint hätte. Es ist doch dem Vater nichts passiert?«

»Nein, nein, gar nichts. Er ist noch wegen der Maschinen nach Nikolai gefahren, und ich – ich habe einen kleinen Streit mit der Tante gehabt.«

Sigi sah der Schwester tief in die Augen.

»Harda,« sagte sie ernst, »der Vater ist gesund, wahrhaftig?«

»Ja, Schöpsel,« antwortete Harda und küßte Sigi zärtlich.

»Nun denn,« sagte Sigi wieder in ihrem gleichmütigen Tone, »dann ist kein Grund, hier Trübsal zu blasen. Gleich kommst du mit hinüber und machst kein Aufsehen.«

Sie zog Harda vor das Haus und wies hinüber nach dem Wege, wo im Schatten des Gebüsches die weißen Anzüge zweier Herren schimmerten.

»Da ist meine Eskorte!«

»Randsberg und Tielen, natürlich. Da muß ich dich freilich bemuttern.«

»Nun endlich! Ich bringe sie!« rief Sigi hinüber und zog die Schwester mit sich fort.

* * *

Es war schon spät, als die Mädchen nach Hause kamen; denn man mußte die schönen hellen Abende zum Spiel ausnützen. Harda hatte, um weiteren Erörterungen vorzubeugen, ihre Freundin Anna Reiner, eine entfernte Cousine, mitgebracht. Es wäre gar nicht nötig gewesen, denn sie fanden schon Besuch vor. Der Kommerzienrat Frickhoff war gekommen und fragte mit Interesse nach den unerwarteten Gästen aus Hildenführ.

Als es dunkel geworden war, lustwandelte man an dem herrlichen Sommerabend durch Garten und Park. Frickhoff hatte sich zu Harda gesellt, Minna ging mit den beiden andern Mädchen, von denen jedoch Sigi nach einiger Zeit verschwunden war.

»Wenn wir mit Hildenführ zur Einigung kommen, Fräulein Harda,« sagte der Kommerzienrat, »dann werden Sie sicher ein ganz wesentliches Verdienst darum haben. Der Landrat war ganz neidisch, so liebenswürdig sollen Sie gegen seinen Freund gewesen sein.«

»Glauben Sie wirklich, daß der Geheimrat so großen Einfluß hat?« fragte Harda.

»Ausschlaggebend ist natürlich die technische und geschäftliche Erwägung, und die ist uns jedenfalls günstig. Es ist aber doch bei jeder solchen großen Sache ein Risiko, und da kommt es auch darauf an, mit welcher Stimmung die entscheidenden Persönlichkeiten an den Entschluß gehen. Außerdem haben wir Mitbewerber. Ich bin überzeugt, daß Brunnhausen nur hier war, um einen – sozusagen – lokalen Eindruck zu gewinnen. Nun, einen bessern konnte er nicht finden. Solche Tischnachbarin –«

»Sagen Sie weiter nichts, sonst verlange ich Provision, wenn der Abschluß »H« perfekt wird.«

»Verlangen Sie nur, ich garantiere Ihnen persönlich.«

»Ich will mir's überlegen, Herr Kommerzienrat.«

»Ach, geraten Sie nicht schon wieder ins Formelle. Ich war doch so artig.«

»Meinetwegen. Also, Onkel Frickhoff.«

»Sie sind schrecklich! Sagen Sie mir lieber, was Sie sich wünschen.«

»Wünschen – ach – das würde Ihnen auch nicht gefallen. Eigentlich wissen Sie's ja längst. Aber im Ernste – ich kann diese fortwährende Unruhe hier nicht gut vertragen. Ich werde Vater bitten, daß er nun sein altes Versprechen einlöst und mich studieren läßt. Ich sage es Ihnen ganz offen, damit Sie sich nicht wundern, wenn ich nächste Woche abreise.«

»Harda! Nein – nun erschrecken Sie mich wirklich. Ich glaubte, Sie hätten endlich diese – diesen alten Wunsch glücklich überwunden. Sie haben doch hier eine Tätigkeit gefunden, wie Sie sich keine schönere, größere, einflußreichere denken können. Sie haben sich einen gemeinnützigen Wirkungskreis geschaffen, in unsern sozialen Einrichtungen und in unsern repräsentativen Verpflichtungen. Was wollen Sie dafür eintauschen? Ein Verschwinden in beengten Verhältnissen, ein Studium, von dem sie nicht einmal wissen, ob es Ihnen Befriedigung gewähren wird.«

»Das wird es, das weiß ich. Und hier finde ich eben die Befriedigung nicht. Ich werde hin und her geworfen in tausend Dingen, von denen mich keines zu innerer Ruhe kommen läßt. Ich möchte Sammlung und – Freiheit!«

»Die würden Sie dort nicht finden. Und warum so plötzlich? Ist irgend etwas vorgekommen –«

»Es ist der alte Gedanke, der mich nicht verläßt. Hier finde ich keine Zeit, meine Kenntnisse zu vertiefen, und ich kann nicht länger warten, wenn mir nicht das verloren gehen soll, was ich mit der Reifeprüfung erworben habe. Und, sehen Sie, wenn Sie mein Freund sind, so sollten Sie mich darin unterstützen.«

»Daß ich Ihr Freund bin, Harda, von ganzem Herzen, das wissen Sie. Aber gerade darum bitte ich Sie, überlegen Sie noch. Übrigens würden Sie ja jetzt mitten in das Semester hineinkommen – doch das ist Nebensache. Ich bin überzeugt, Ihr Glück liegt auf andrer Seite. Sie brauchen nicht erst zu suchen, was Ihre Aufgabe ist. Sie können andre glücklich machen, das weiß ich. Sehen Sie, Harda, Sie gehören in einen großen Wirkungskreis, und Sie wollen Freiheit. Das läßt sich vereinigen. Wenn Sie die Freiheit hier nicht finden, ich könnte mir eine Stellung für Sie denken, ja ich wünschte nichts sehnlicher –«

»Nein, nein, Herr Kommerzienrat, bitte, lassen Sie mich jetzt in meinem Traum – in meiner Freiheit – machen Sie mir nicht alles schwerer – jetzt nicht –«

Sie blieb stehen und sah sich nach den andern um.

Frickhoff blickte sie von der Seite an mit überwältigendem Verlangen. Aber er wagte im Augenblick nichts weiter zu sagen.

Minna und Anna näherten sich, Harda lief ihnen entgegen, Frickhoff kam langsam nach.

»Sigi!« rief Harda halb singend in die Nacht hinaus.

Ganz von weitem klang eine signalartige Antwort.

»Wir gehen nach Haus!« sang Harda hellstimmig.

Vor der Haustür trafen sie auf Sigi. Da stand auch der Wagen Frickhoffs. Er bot sich an, Anna Reiner nach Hause zu bringen. Bei der Verabschiedung hielt er lange Hardas Hand fest und fragte dann scherzend: »Zum Gesellschaftsfest sind Sie doch noch hier?«

»Vielleicht,« antwortete Harda lächelnd.

»Ich gehe schlafen,« sagte Minna kurz, als der Wagen fortgefahren war. »Gute Nacht.«

»Ich auch,« fügte Sigi hinzu. »Gute Nacht.«

Beide traten ins Haus.

Harda rief ihnen neckend einen freundlichen Gruß nach.

Sie selbst konnte sich von der stillen, milden Nacht noch nicht trennen. Sie rief Diana und ging, von dem treuen Hunde begleitet, noch einmal langsam die breite Straße oberhalb des Parkes entlang.

Der junge Mond war im Untergange begriffen. Die zwischen hohen Bäumen hinlaufende Straße wurde nur in der Mitte schwach von der Dämmerung der Sommernacht im Norden erhellt. Die Seiten lagen in tiefem Schatten. Zur Linken erstreckte sich jetzt die alte niedrige Friedhofsmauer. Schwerer, süßer Fliederduft zog herüber.

Harda sog tiefatmend den Nachthauch ein. Solche reich blühende Büsche standen auch drüben am Grabe der Mutter, wo unter dem Efeu der Sternentau seine blauen Kapseln geöffnet hatte. Dort mußte ja inzwischen die Entwicklung ebenfalls vorgeschritten sein, dort wollte sie nachsehen – freilich, jetzt ging das nicht, aber nächstens, am Tage. Und nun waren ihre Gedanken wieder bei der Frage – Wie weit mochte inzwischen der Botaniker gekommen sein?

Da war es ihr plötzlich, als wehe es ihr wieder leise kühlend um die Stirn, sie sah die efeuumzogene Buche, ihr Bewußtsein zerfloß in einem seltsam wonnigen, allgemeinen Gefühle, das sich aus eigner Kraft zu einem mutigen Wollen verdichtete – –

Aber auf einmal schrak sie zusammen. Diana gab Laut. Der große Leonberger richtete sich auf, er wurde durch irgend etwas beunruhigt, das sich über Hardas Haupte befinden mußte. Zugleich war die wundersame Stimmung entflohen. Der Hund bellte noch ein paar Mal in die Luft und rannte ein Stück auf der Straße vorwärts, als wenn er dort einen Gegenstand verfolgte, dann kam er wie beschämt zurück.

Harda sann verwundert über die seltsame Erregung nach. Gerade so hatte die Stimmung eingesetzt, als sie am Nachmittage vor ihrem Schreibtisch saß und den Waldefeu vor sich zu sehen glaubte; aber dann hatte sich das Gefühl zu deutlichen Gedanken ausgebildet. Diesmal war Dianas Gebell dazwischen gekommen. War's nicht wirklich so ein kleiner Traumansatz im Moment des Einschlummerns? Sie war eine Meisterin darin, im Sitzen einzuschlafen, warum nicht auch im langsamen Gehen? Und die Vorstellungs-Assoziation war ja sehr natürlich, der Fliederduft und der Friedhof hatte sie an das Grab der Mutter und den Efeu, dieser an den Sternentau und den Efeu im Walde und die Begegnung erinnert – Aber wozu grübeln? Die Nacht war so schön! Doch es war wohl Zeit umzukehren, die Müdigkeit meldete sich. Sie war schon ein ganzes Stück hinaus über den Friedhof und in den eigentlichen Bergwald hineingekommen. Harda ging zurück. Bald schien es ihr, als höre sie Schritte eines Entgegenkommenden. Der Hund stutzte und eilte ihr dann in großen Sätzen voraus, wo er eine dunkle Gestalt mit Freudesprüngen begrüßte. Es war der alte Nachtwächter Gelimer.

»Gott sei Dank und Lob! Sie sind's, Fräulein Kern,« rief er aufgeregt. »Hatt' ich doch einen Schreck, als ich so 'ne weiße Gestalt sah! Ist Ihnen nichts passiert, Fräulein?«

»Mir? Warum? Sie dachten wohl, ich wär' ein Gespenst?« sagte Harda lachend.

»Lachen Sie nicht, Fräulein,« sprach Gelimer geheimnisvoll. »Es ist was nicht geheuer. Es ist gut, daß ich bei Ihnen bin. Wir wollen machen, daß wir schnell hier vorbeikommen. Wissen Sie, Fräulein,« flüsterte er, »auf dem Friedhof spukt's.«

Jetzt lachte Harda laut auf. »Gelimer, Sie werden doch nicht –«

»Nein, nein, Fräulein. Ich bin ganz nüchtern, aber ich hab's wirklich gesehen. Es sind Lichter zwischen den Bäumen, das sind Seelen, die dort 'rumfliegen! Sie können mir's glauben.«

»Es werden Glühwürmchen gewesen sein.«

»Nee, das kenn' ich doch. Sie waren viel größer und viel weniger hell, nur so ganz matt schimmernd, man konnt's nicht deutlich erkennen. Wissen Sie, Fräulein, so wie kleine Puppen – wir werden's gleich sehen, wenn sie noch da sind. Ruhig, Diana!«

Nach einigen weiteren Schritten blieb Gelimer stehen.

»Nu ganz leise,« flüsterte er. »Sie sind jetzt weiter drüben. Dort in dem Baume, sehen Sie nicht, Fräulein?«

Harda blickte aufmerksam in das Dunkel. Seltsam, da schimmerte es wirklich gelblich – –

»Ach!« rief sie plötzlich. »Das ist ja Goldregen! Das ist weiter nichts als die langen Blütendolden, die herüberschimmern.«

»Aber Fräulein, vorhin waren sie weiter vorn und bewegt haben sie sich auch.«

»Das wird ein andrer Strauch gewesen sein, den Sie da gesehen haben. Vielleicht hat sie ein leichter Wind bewegt, oder eine Katze ist in den Ästen gewesen.«

»Nee, nee, Fräulein! Und sehen Sie, jetzt sind sie auch weg.«

In diesem Augenblick heulte der Hund kurz auf und schnappte in die Luft. Erst auf Gelimers Zuruf beruhigte er sich wieder.

Harda spähte scharf hinüber zwischen die Bäume.

»Allerdings,« sagte sie, »ich kann sie jetzt nicht mehr erkennen, aber es ist eben auch dunkler geworden. Es scheint, daß Wolken heraufziehen. Wir können ja von hier nur ein kleines Stück Himmel sehen. Kommen Sie nur, Gelimer. Was Sie gesehen haben, waren sicher keine Gespenster.«

»Fräulein,« begann Gelimer vorsichtig, »es gibt solche Sachen. Ob es Seelen sind, das weiß ich ja nicht sicher. Auf dem Friedhof, da denkt man eben daran. Aber im Walde, als ich noch beim Förster Gabling war, da hab' ich einmal gesehen, im Mondschein, wissen Sie, mitten auf der Wiese, da stand ein Distelstrauch, und da guckte etwas Helles heraus –«

»Ach, Gelimer, da aus Ihrer Tasche guckt auch was Helles! Da haben Sie vielleicht schon zu tief hineingeguckt.«

»Fräulein, das ist noch gar nicht aufgemacht. Das ist nur für den Morgen, wenn's kalt wird.«

»Daß Sie nur nicht wieder in den Graben fallen! Gute Nacht, Gelimer.«

Harda lief leichtfüßig die Straße entlang, in fröhlichen Sprüngen folgte ihr der Hund. Sie wollte allein sein.

Bald war das Haus erreicht. Diana lagerte sich im Hausflur. Leise stieg Harda die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf.

»Nein,« sagte sie dabei entschlossen zu sich, »Gespenster wollen wir nicht sehen, aber den Sternentau auf dem Friedhof, den wollen wir doch morgen aufsuchen.«


 << zurück weiter >>