Kurd Laßwitz
Sternentau
Kurd Laßwitz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Vater

Die Wolken, von denen Harda auf ihrem nächtlichen Spaziergange gesprochen hatte, waren wirklich aufgezogen, der ganze Donnerstag verlief regnerisch und erst am Freitag klarte das Wetter auf. Gegen Abend konnte dann Harda ihr Vorhaben ausführen, nach dem Sternentau zu sehen, den sie unter dem Efeu auf dem Friedhof angepflanzt hatte. Zu ihrem großen Erstaunen fand sie, daß hier eine Anzahl von Sporenbechern bereits verwelkt waren wie der eine in ihrem Zimmer, daß aber auch noch zahlreiche jüngere in der Entwicklung begriffen waren.

Das Leben in der Villa und in den Werken war an beiden Tagen so unruhig wie gewöhnlich. Die Tante schwankte zwischen Liebenswürdigkeit und Verstimmung, der Haushalt erforderte mehrfach Hardas Eingreifen, Besuche kamen und gingen, und die Mitglieder des weiblichen »Vergnügungskomitees« hielten jeden Nachmittag einige Stunden lang ihre Sitzung auf Hardas Zimmer ab. So war sie auch nicht dazu gekommen, ihren Studienplan auszuführen und selbst am Sternentau etwas zu entdecken.

Vom Vater war keine Nachricht mehr gekommen. Eigentlich beabsichtigte Harda, ihn in der Nacht vom Freitag zu Sonnabend zu erwarten, aber sie sah wieder davon ab, da es der Vater nicht liebte, wenn sie seiner Ankunft wegen ihre Ruhe aufgab. Dafür war sie am Sonnabend Morgen schon um halb sechs Uhr am Frühstückstische; sie hatte Gelimer beauftragt, sie rechtzeitig zu wecken, falls der Vater in der Nacht zurückgekehrt sei.

Und pünktlich wie immer erschien der Vater um dreiviertel auf sechs Uhr zum Frühstück, das im Sommer in der Veranda eingenommen wurde. Da pflegte es sehr hastig herzugehen; denn um sechs Uhr zeigte sich Kern mit absoluter Sicherheit irgendwo in den Werken und machte seinen Rundgang durch die Fabrik.

Er freute sich sehr, daß Harda da war, und begrüßte sie aufs herzlichste, konnte aber doch nur flüchtige Worte mit ihr wechseln. Mit dem Erfolg seiner Reise war er sehr zufrieden, die Maschinen seien unterwegs.

»Ich hoffe, in acht Tagen laufen sie. Dieser Wasserschlag war eine dumme Geschichte. Wie geht's dem Blomann? Also der Geheimrat Brunnhausen war schon hier? Famos. Das habt ihr recht gemacht, daß ihr so nett wart. Was macht denn der Ponny? Wie, ein großes Waldfest wollt ihr loslassen? Na, immer zu!« Dazwischen nur kurze Auseinandersetzungen von Harda. Da hatte er schon in großer Eile, aber sorgfältigst, mit der Serviette seinen Schnurrbart geputzt und seine Fabrikmütze ergriffen.

»Laß dir's gut gehen, Herzel!« Ein flüchtiger Kuß und schon war er im Garten. Von dort rief er noch zurück.

»Eure Pakete sind im Koffer. Nimm sie bald heraus und seht zu, ob ich's richtig mit den Farben getroffen habe.«

Nach einigen häuslichen Besorgungen ging Harda in das Zimmer des Vaters, um den Koffer auszupacken und wieder frisch zu füllen. Es war eine stehende Aufgabe für sie, die Sachen, die der Vater zu einer seiner plötzlichen Reisen bedurfte, stets gebrauchsfertig vorbereitet zu halten, und das überließ sie keiner Bedienung; auch gegen Minna verteidigte sie ihr Gewohnheitsrecht standhaft.

Eben betrachtete Harda mit mädchenhaftem Entzücken die beiden prächtigen Blusen, die der Vater für die Töchter ausgesucht hatte, als sie abgerufen wurde. Es galt erst eine lebhafte Meinungsdifferenz über die Güte von Salat und Erdbeeren zwischen der Köchin und dem Gärtner zu schlichten, dann im Hühnerhofe eine Entscheidung zu treffen und ein entbehrliches Kleidungsstück für eine arme Frau herauszusuchen, so daß längere Zeit verstrich, ehe Harda in das Zimmer des Vaters zurückkehrte. Als sie die Tür öffnete, fand sie zu ihrem Erstaunen Minna in dem Zimmer.

»Guten Morgen, Tante,« sagte Harda freundlich. »Schon so früh auf?«

»Ich wollte nur sehen, ob Hermann diese Nacht gekommen ist,« antwortete Minna.

Damit wandte sie sich schnell an Harda vorüber.

»Hast du denn die reizende Brosche gesehen, die Vater dir mitgebracht hat?« Sie hielt das geöffnete Etui der Tante entgegen. Diese warf einen unwilligen Blick darauf, ohne die Hand danach auszustrecken, zuckte mit den Schultern, drehte sich um und verschwand eilend durch die Tür.

Harda sah ihr erschrocken nach.

»Da ist wieder etwas passiert,« sagte sie sich. »Sie hat irgend etwas gefunden. Das wird schlimm.«

Seufzend ging sie daran, ihr Werk zu vollenden und den Kofferinhalt zu ordnen. Da merkte sie gleich, daß sich die Tante inzwischen damit beschäftigt hatte. Sorgfältig prüfte Harda sämtliche Taschen der Anzüge; denn der Vater war darin sehr zerstreut und ließ manchmal wichtige Briefe stecken. Sie fand aber nichts Bemerkenswertes.

Am Vormittage hatte Harda dringend in der Stadt zu tun und sah die Ihrigen erst wieder, als sie im letzten Momente zu Tische kam. Sie bedankte sich herzlich beim Vater für das schöne Geschenk, Sigi scherzte, der Vater erzählte allerlei von Hildenführ, Hamburg und Oberschlesien. Man unterhielt sich sehr eifrig. Aber Harda sah es am nervösen Zittern der Hand des Vaters und an den rotgeweinten Augen der Tante, daß eine heftige Szene stattgefunden haben mußte.

Als Harda gegen Abend allein zum Tennisplatze ging – denn Sigi war immer schon bedeutend früher verschwunden – trat ihr im Park die schlanke Gestalt des Vaters hastig entgegen.

»Kind,« sagte er, »ich will's nur gestehen, ich hab' dich abgepaßt. Du hast's ja doch schon gemerkt. Ich muß mit dir reden.«

»Ja, Vater,« antwortete sie leise, »ich hab's gemerkt.«

Er faßte Harda, gegen die er klein erschien, unter dem Arm und führte sie nach einem abgelegenen Plätzchen des Parkes; hier ließen sie sich auf einer Bank nieder.

Harda sah zu Boden und spielte mit ihrem Racket. Kern hatte seinen Strohhut neben sich gelegt, er preßte seine seinen Hände zusammen und starrte geradeaus. Da er weiter schwieg, wendete Harda besorgt den Kopf nach ihm. Sie sah, wie sich die kleinen Falten in seinem energischen Gesicht vertieft hatten, die Enden seines Schnurrbarts zuckten, und in seinem Auge stand eine Träne.

Harda konnte den Anblick nicht ertragen, wie der starke Mann mit sich kämpfte. Sie schlang die Arme um seinen Hals und lehnte sich an ihn. Er faßte ihre Hand und streichelte sie.

»Herzel,« sagte er mit erzwungener Stimme, »kannst du nicht hierbleiben? Du willst durchaus fort, behauptet sie.«

»Ja, Vater. Ich kann's hier nicht mehr ertragen. Und es ist auch Zeit. Du hast mir's doch versprochen.«

»Ich habe ja nicht gewußt, daß es mit Minna so schlimm werden würde. Heute wieder –«

»Ach Vater! Ich kann mir' s denken. Die Depesche aus Breslau, sie hat den Ort erraten. Aber Vater, warum mußtest du auch – du hast die – die Person doch wieder gesehn?«

»Mein liebes gutes Kindel! Es ist mir schrecklich, zu dir davon zu sprechen. Ja – ich mußte – aber gegen meinen Willen. Sie hat mich gezwungen, sie läßt mich nicht los. Und ich, ich bin schwach. Ich bin ja doch schuld daran – ihr gegenüber. Es ist eine schwere Last – jetzt nur Last, eine fortwährende Aufsaugung. Doch man würde wohl schließlich einmal fertig damit – wenn nicht das andre wäre! Nein, Harda, du darfst mich nicht verlassen!«

»Vater, ich hab' dich ja so lieb, ich – wenn es sein muß, so müßte ich eben auf meinen innigsten Wunsch verzichten –« die Tränen traten ihr in die Augen – »aber zusammen mit der Tante, bei all der Unruhe, die ich sonst durchmachen muß, auch noch diese Qual – nein, Vater, das mußt du nicht verlangen. Also laß mich fort, oder veranlasse die Tante, fortzugehen.«

»Das tut sie nicht.«

»Die Tante dauert mich gewiß von Herzen, sie leidet selbst so darunter. Aber Vater, schließlich bist du Herr in deinem Hause und mußt es sein. Wenn sie so eifersüchtig ist, das ist doch krankhaft. Sie muß eben anderswohin ziehn. Mit uns beiden erwachsenen Töchtern geht das nicht mehr. Soll ich hierbleiben, so darf mir nicht immer noch jemand hineinreden wollen.«

»Ja, liebes Kindel, ich wünschte mir ja gar nichts anderes, als dich und Sigi für mich zu haben, aber das gibt sie nie zu.«

»Sie muß.«

»Ach, Harda, du weißt ja nicht –«

»Vater, ich weiß es, sie will, daß du sie heiratest – sie schreit es ja heraus, wenn sie ihren Anfall hat. Aber das eben, meine ich, ist doch nur eine bedauernswerte krankhafte Einbildung, sie verliert sich vielleicht in einer Heilanstalt –«

»Harda, du weißt nicht, wie unglücklich ich bin – unglücklich um euretwillen. Du hast schon ein gut Teil deiner Jugend verloren, und Sigi – nein, nein, sie soll nicht auch darunter leiden.«

»Sie soll nichts erfahren, so lange ich hier bin. Aber eben darum mußt du dafür sorgen, daß Tante sich zu einem andern Aufenthalt entschließt, wenigstens zeitweise.«

Der Vater schüttelte traurig den Kopf:

»Du Armes, du opferst dich auf. Das ist der Vorwurf, der mich quält, daß ich durch meinen Leichtsinn euch unglücklich mache –«

»So entschließe dich doch.«

»Ja, ich muß dir's sagen. Ich hatte mir's schon öfter vorgenommen, nur fand ich nicht den Mut. Aber da du gestern so bestimmt erklärtest, fortzugehen, so mußt du wissen, warum ich gegen Minna nichts vermag, ganz abgesehen von aller Teilnahme. Ich bin ihr gegenüber nicht frei. Ich habe – eine Schuld auf mich geladen.«

Harda sah den Vater erschrocken an, sie wußte gar nicht, was sie denken sollte.

Leise fuhr er fort: »Ich habe ihr die Ehe versprochen.«

»Du, Vater, du hast – – Wann?«

»Ihr wart beide in der Pension. Sigi war eben hingekommen, du tratest gerade ins Gymnasium ein – vor sieben Jahren etwa. Wir lebten allein hier. Es waren schwere Jahre voller Sorgen. Minna war so teilnehmend, so gut und lieb – wir – Kind, ich kann nicht davon reden! Kurzum, ich gab ihr das Versprechen, sie zu heiraten, sobald die geschäftliche Gefahr vorüber sei – es war damals eine große Krisis. Nachher kam die Überlegung zurück, ich schob die Erfüllung hinaus – immer wieder. Ich konnte mich nicht entschließen, ich genierte mich, vor den Menschen, vor euch – – und jetzt – – Verzeihe mir, Harda!«

Er war aufgesprungen.

Sie stand schweigend auf und küßte ihn.

»Armer, armer Vater,« sagte sie dann. »Du konntest einmal nicht anders, du bist so. Es ist gut, daß ich nun alles weiß.«

Sie gingen schweigend ein Stück neben einander her. Dann blieb Harda stehen und legte den Arm um seine Schulter.

»Vater,« sagte sie, »sei ruhig, es wird Rat werden. Aber eins muß sogleich geschehen, unbedingt, es koste, was es wolle. Oder hast du etwa auch dort – –«

»Nein, nein, niemals.«

»Diese Sache in Breslau muß aus der Welt. Übergib sie deinem Anwalt. Hast du nicht genügend flüssig, nimm es von mir, ich weiß, du gibst mir's wieder –«

»Herzel, ich danke dir, aber soviel Kredit habe ich jetzt, daß ich nicht von dir zu borgen brauche. Du hast recht. Es soll geschehen. Und du, du denkst nicht schlecht von mir, du –?«

»Wir wollen beide unsre Pflicht tun. Ich will mich zusammennehmen. Aber auch du, Vater – Versprechen ist Versprechen –«

»Du weißt ja, wie ich Minna zu schätzen weiß, ja, wie lieb ich sie habe. Doch unter den jetzigen Umständen ist es unmöglich.«

»Wenn du in Breslau frei bist, wird es besser werden. Und wir – nun – – leb wohl, Vater!«

Sie küßte ihn nochmals und schritt dann langsam weiter, während Kern den Weg nach der Fabrik nachdenklich einschlug.

Noch einmal blieb Harda stehen, ihre Stirn faltete sich. Dann richtete sie sich energisch in die Höhe und eilte dem Tennisplatz zu.

Als sie sichtbar wurde, stürzten ihr Assessor Ingeling und Leutnant von Randsberg entgegen.

»Ich bitte um den Vorzug –«

»Nein ich – ich bin um eine Nasenlänge voran!« rief Randsberg.

»Was gibt's denn?« fragte Harda.

»Zur großen Waldpolonaise natürlich.«

»Da wird überhaupt nicht engagiert. Das ist alles Überraschung.«

»Vorwärts doch,« rief Sigi herüber, »wir warten!«


 << zurück weiter >>