Kurd Laßwitz
Sternentau
Kurd Laßwitz

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Bedauernswerte Erde!

Die Stammkolonie der Idonen in der Nähe ihres Mutterbaumes Bio hatte mit Hilfe der Pflanzen leicht in Erfahrung gebracht, wo Menschen nicht hinzukommen pflegen. Ein solcher Platz war der Gipfel des Felsens, den die Menschen das Riesengrab nannten. Hier, zum Teil noch unter den Wipfelzweigen der Buche, hatten sie ihre schwebenden Wohnungen verankert. Diese waren freilich nicht so anmutig und bequem wie die Bauten auf dem Neptunsmond, denn die Hilfsmittel, die sie auf der Erde fanden, entsprachen wenig ihren Bedürfnissen, und außerdem fehlte ihnen das Beispiel und die Erfahrung ihrer Vorfahren und Volksgenossen. Doch genügten sie, um sie gegen die Witterung zu schützen, und darauf Luftreisen auszuführen. Auch verschmähten sie es nicht, Produkte der Menschenhand zu ihren Zwecken zu benützen, wo sie solche geeignet fanden.

Während die Expedition unter Elsu und Gret, die sich ein eigenes, schnelles Luftfahrzeug hergestellt hatten, vorsichtig und den Menschen unerkennbar sich in den großen Ansammlungsstätten der Erdbewohner umtat und von ihrer Fähigkeit Gebrauch machte, die Vorstellungen der Menschen durch direkte Übertragung von Gehirn auf Gehirn in sich aufzunehmen und zu verstehen, hatte die Stammkolonie die Aufgabe, die neu entstehenden Idonen zu sammeln und das Treiben derjenigen Menschen zu beobachten, denen Kunde von der Existenz der Idonen geworden war. Hier war Ildu, die älteste der irdischen Idonen, die Leiterin.

Es war den Idonen nicht entgangen, daß Eynitz und Harda durch die Einrichtung des Laboratoriums und die Absperrung von Bio-Pflanzen bezweckten, Idonen in ihre Gewalt zu bringen, wenn sie auch die genauere Bedeutung der einzelnen Maßnahmen vorläufig nicht verstanden. Die erste in der Gefangenschaft entwickelte Idone hatte sich dort den Namen Stefu gegeben. Sie war es, die von Eynitz photographiert worden war, zugleich mit Lis, der sie zu befreien suchte. Dieser Idone war es auch, der durch suggerierende Einwirkung auf Harda sie zur Öffnung des Gefängnisses bestimmen wollte und dann Eynitz' Hand verbrannte. Das war nur in der Not der Selbstverteidigung geschehen. Denn die Idonen hegten nicht im Geringsten eine feindliche Gesinnung gegen die Menschen. Diese bedeuteten für sie lediglich Gegenstände des wissenschaftlichen Interesses. Sie wollten an ihnen und an ihrem Denken und Tun die Zustände auf diesem ihnen unbekannten Planeten studieren, und viel zu groß war ihre Achtung vor allem Lebendigen, als daß sie irgend einem organischen Wesen absichtlich ein Leid angetan hätten. Zugleich aber wollten sie zu ihrer eigenen Sicherheit vermeiden, sich den Menschen zu offenbaren. Deswegen scheuten sie sich, zur Befreiung der Gefangenen Mittel anzuwenden, die den Menschen ihre Tätigkeit verraten hätten. Irgend welche entscheidende Entschlüsse über ihr Verhalten gegenüber den Erdbewohnern sollten erst gefaßt werden, wenn die Erforschungs-Expedition zurückgekehrt sein würde.

Das hatte sich nun geändert, als die Idonen von Eynitz' Eingriffen in das Leben der ihrigen Kunde erhielten. Es war dies an dem Morgen, an welchem Harda unter der Buche schrieb. Auf Ebahs Bitten hatte eine Idone, sie hieß Adu, sich auf Hardas Kopf gesetzt, um ihre Unterhaltung mit dem Efeu zu ermöglichen. Dieses Gespräch wurde plötzlich unterbrochen, indem Lis und andere Idonen vom Laboratorium herbeistürzten, wo sie die am Tage vorher von Eynitz vollzogenen Handlungen entdeckt hatten. Derartige Angriffe auf ihre Genossen und ihre Stammpflanze mußten sie aufs Äußerste empören und verletzten zugleich ihre heiligsten Gefühle.

Während Harda nach ihrer Flucht von der Buche im Laboratorium den Brief Frickhoffs las, versammelte Ildu alle Idonen der Stammkolonie über dem Riesengrab zu einer wichtigen Beratung.

In einer Beziehung waren alle sogleich einig, nämlich darin, daß derartige feindliche Handlungen der Menschen für die Zukunft unbedingt verhindert werden müßten, indem man weder Idonen noch Bio-Pflanzen länger in ihrer Gewalt ließe. Man beschloß, zunächst die Gefangenen zu befreien und durch Zerstörung der Apparate die Menschen der Macht zu berauben, sich neuer Gefangener zu bemächtigen. Da man aber nicht sicher wußte, inwieweit sich die Fähigkeit der Menschen erstreckte, doch noch inbezug auf die zurückbleibenden Pflanzen neue Maßregeln zu treffen, um später hervorkommenden Idonen Gewalt anzutun, so entschloß man sich, die weitere Entwicklung dieser Individuen unmöglich zu machen. Denn nach der Anschauung der Idonen war es ein Recht und eine Pflicht der Vernunft, die Ausbildung individuellen Bewußtseins zu verhindern, das nur zum Leide geboren sein würde. Damit war auch zugleich der Gefahr vorgebeugt, daß die Menschen ihre Forschungen fortsetzten.

Freilich blieb es nicht zu vermeiden, daß die Erdbewohner nunmehr von der Macht und den Fähigkeiten der Idonen Kunde erhielten, wenn sie die Zerstörungen sahen, die planmäßig durch die Anwendung ihrer ätzenden Säfte, ihrer kneifenden und würgenden Bewegungsapparate hervorgerufen werden konnten. Aber man sagte sich, daß es kein Schade wäre, wenn sie auch von den Machtmitteln der Idonen unterrichtet würden, deren leibhaftige Existenz sie nun doch einmal entdeckt hatten. Bei einigen der Idonen jedoch, die persönlich unter der Handlungsweise der Menschen gelitten hatten, bildete sich die Ansicht, daß man in der Bekämpfung der Menschen weitergehen solle. Wesen, die sich der Verletzung des Lebensrechtes anderer mit Bewußtsein schuldig machten, verdienten überhaupt keine Schonung. Die Idonen besäßen durchaus die Macht, sämtliche Menschen zu vernichten, denn da sie sich ihnen unsichtbar nähern könnten, so genüge eine einzige kleine Verletzung mit einem giftigen Stachel, oder eine elektrische Entladung, um den einzelnen zu töten. So könne man ohne Schwierigkeit in wenigen Tagen das Land entvölkern.

Es war namentlich Lis, der diese radikale Ansicht vertrat, empört durch die Leiden der gefangenen Stefu, deren Zeuge er gewesen war.

Stefu selbst aber trat für die Menschen ein, die sie genau hatte beobachten können. Ihr Verhalten wiese darauf hin, daß sie keineswegs bloß aus Lust an Schädigung die Idonen angegriffen hätten, sondern daß für die Gesamtheit der Erdbewohner wichtige Interessen dabei im Spiele gewesen wären, die vorläufig den Idonen noch unbekannt seien. Darauf betonte Ildu, daß über keine Frage, die eine Maßregel momentaner Abwehr überschreite, eine Entscheidung getroffen werden könne, bis die Expedition zurückgekehrt wäre. Denn genau genommen kenne man jetzt ja nur die beiden einzigen Menschen, die von den Pflanzen als Harda und ihr Freund Werner bezeichnet würden, und man wisse gar nicht, wie weit das Reich der Menschen sich erstrecke und welche höheren Rechte ihnen vielleicht durch den Zustand ihres Geistes vom Planeten gegeben seien. Dies eben würden Elsu und Gret erforschen, und erst danach könne sich die Entscheidung richten.

Somit wurde nur beschlossen, die Zerstörung des Laboratoriums noch an demselben Abend zu vollziehen.

In der darauffolgenden Nacht kehrte die Forschungsexpedition zurück, und gleich am Morgen, während im Laboratorium Harda und Werner ihr Leid und ihr Glück fanden, wurde der Bericht an die Versammlung der Idonen erstattet.

Gret und Elsu mit ihren Begleitern hatten zunächst, immer nahe der Oberfläche sich haltend, weite Fahrten gemacht, um das Land und seine Bewohner zu beobachten. Dabei wurde von ihnen die weite Ausdehnung dieses Planeten im Vergleich zu ihrem Saturnmond bald erkannt und durch ihre astronomischen Beobachtungen seine Größe bestimmt. Die Menge der Bewohner, die Mannigfaltigkeit ihrer Wohnstätten, die Gestaltung der Oberfläche hatte sie schnell belehrt, daß sie auf diesem äußerlichen Wege schwerlich zu einer Erkenntnis der Eigenart dieses Weltkörpers gelangen würden. Sie schlugen daher nun ein Verfahren ein, das ihrer ganzen, auf die Innerlichkeit des Erlebnisses gerichteten Natur näher lag und ihnen durch die Einrichtung ihres Zentralorgans ermöglicht war; nämlich unmittelbar aus den Gehirnzuständen der Menschen, also aus dem Vorstellungsleben der Erdbewohner, das abzulesen und in sich bewußt aufzunehmen, was die Menschen über sich, ihren Wohnort und ihre Welt überhaupt wußten, dachten und erstrebten. Nicht lange konnte es den Idonen verborgen bleiben, daß eine außerordentliche Verschiedenheit in der Intelligenz und der Weite der Auffassung bei den Menschen bestand, daß es aber gewisse Klassen von Menschen, und in diesen wieder besonders weitsichtige Individuen gab, die in der Lage waren, sie über alles das aufzuklären, was sie selbst zu wissen begehrten. Indem die Idonen von ihrer Gabe des suggestiven Einflusses Gebrauch machten, stellten sie mit solchen geeigneten Persönlichkeiten ein förmliches Examen an über die Fragen, die ihnen von Interesse waren. Die Menschenhirne selbst waren für sie eine Bibliothek, in der sie alles Gewünschte nachschlagen konnten. Und hierbei gelang ihnen eine wichtige Entdeckung.

Es war ihnen hinderlich und beschwerlich, daß sie, um in einem Menschen zu lesen – wie sie sich ausdrückten – in körperliche Berührung mit seinem Kopfe kommen mußten. Dadurch wurden auch einzelne Menschen auf diese Erscheinung einer äußern Beeinflussung ihres Vorstellungsverlaufes aufmerksam, und die Idonen mußten befürchten, daß man der Ursache dieser Erscheinung von seiten der Menschen nachforschen würde. Aber es gelang Gret, bei einer zufälligen Situation zu beobachten, daß die von dem Bestrahlungsorgan der Idonen ausgehenden Wellen die Eigentümlichkeit hatten, als verbindende Brücke zwischen dem Menschenhirn und dem Zentralorgan der Idonen zu dienen. Sie bezeichneten diese physische Übermittlung als Zerebral-Strahlung. Und nun konnten sie in viel leichterer und ergiebigerer Weise in der großen Bibliothek der menschlichen Gehirne lesen und waren imstande, im Verlauf weniger Wochen sich ein Bild von Menschenart und Menschenkultur zu machen. Bewunderung, Staunen und Mißbehagen wechselten dabei in ihrer Idonenseele, und erfüllt von neuen Kenntnissen, erschüttert von neuen Erfahrungen kehrten die Mitglieder der Expedition zu den ihrigen bei der Stammutter zurück.

»Wohl uns,« sagte Gret zu der Versammlung, »daß ihr nichts weiter getan habt, als die unsrigen gegen die Angriffe der Menschen zu schützen. Denn unser weiteres Verhalten bedarf ernstester Erwägung. Den Planeten, auf dem wir uns befinden, nennen die hiesigen Bewohner »Erde«. Er ist derjenige, den wir als den »Dritten« (nämlich den dritten Planeten von der Sonne aus gerechnet) bezeichnen. Er ist freilich viel kleiner als unser Zentralplanet, um den unser Heimatsstern als Mond kreist, aber er ist sehr viel mächtiger, weil er bereits von sechzehnhundert Millionen Menschen und zahllosen Tieren und Pflanzen bevölkert ist. Diese seine Organe ermöglichen es ihm, eine gewisse Kultur zu erreichen.«

»Kultur?« Eine lebhafte Erregung ging mit dieser Frage durch die Versammlung der daheim Gebliebenen.

»Ich muß diesen Zustand so nennen,« fuhr Gret fort »weil er für die Erde eine gewisse Stufe auf dem Wege zur Vollendung bezeichnet, wenn er auch in unserm Sinne wie Unkultur aussieht. Aber ich weiß kein andres Wort dafür. Der Weg, den dieser Planet in seiner Entwicklung einzuschlagen hat, ist nach unsrer Auffassung ein unbegreiflicher Umweg zur Einheit der Kultur. Dennoch liegt auch darin, wie ihn die Weisesten der Erde allmählich zu erkennen versuchen, eine große Idee. Und ehrfürchtige Bewunderung mag uns erfassen, wenn wir begreifen, wie der unendliche Geist des Kosmos auf einem andern Planeten eine ganz andre Form seiner Verwirklichung einschlagen konnte als bei uns. Müssen wir uns nicht sagen, daß auf jedem der unendlichen Weltkörper wieder andere und andere Formen existieren könnten, das Gute und das Schöne lebendig in die Zeit zu führen, und daß wir kein Recht haben, gerade die Ideale, die unser Glauben an die Gottheit geprägt hat, für die einzigen zu halten, durch die das Leben zur Vollendung dringen kann? Es mag eben jeder Stern, wie er seine eigne Bahn hat, auch seine eigne Gestaltung zum Ewigen besitzen. Aber freilich, jedes lebendige Wesen wird sich den Gesetzen einfügen müssen, die es auf seinem Sterne zu begreifen vermag.

Die Pflanzen der Erde haben von dem Wesen der Menschen nur eine unvollkommene Vorstellung, sie konnten uns daher auch nur unzureichende Angaben machen. Denn sie sind nicht wie bei uns eine periodisch immer wiederkehrende Stufe zur höchsten Entwicklung, sondern nur ein Seitenzweig darin. Aber selbst die Menschen haben erst zum kleinsten Teil den Sinn des Lebendigen begriffen, sie sehen in den Pflanzen nur Mittel für ihre menschliche Existenz, nicht Teilnehmer am Geiste des Planeten.

Es liegt dies daran, daß sich das Tierleben, dessen höchste Stufe durch die Intelligenz des Menschen repräsentiert wird, auf der Erde gleich in seinen tiefsten Formen vom Pflanzenleben getrennt hat, während bei uns, durch den steten Wechsel von pflanzlicher und animaler Generation, auch wir Idonen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Dauerseele des Weltkörpers bleiben und so nicht angewiesen sind auf den schwachen Vererbungsbeitrag von Individuum zu Individuum. Wir haben dauernd teil am aufgespeicherten Erbschatz des ganzen Planeten. Mit einem Worte, wir haben eine organische Kultur.

Auf der Erde aber bestehen zwei große Geschlechter, die einander nicht verstehen, die Pflanzen und, als die intelligentesten Tiere, die Menschen. Wie eine Krankheit des Planeten hat diese Spaltung seine Seele zerrissen. Und ganz allmählich erst muß sie heilen. Es ist ein völlig andrer Weg, den der Planet einzuschlagen gezwungen ist. Zwischen den getrennten Reichen seiner Geschöpfe muß die seelische Verbindung äußerlich hergestellt werden, weil sie im organischen Zusammenhang verloren wurde. Das Verständnis für diese Aufgabe zu erreichen, ist Sache des Menschenhirns. Die Menschheit muß durch die Arbeit zahlloser Generationen sich die Herrschaft über die Natur erwerben, um alsdann zu erkennen, daß sie damit die Mittel gewonnen hat, selbst wieder mit der Natur sich zu verbinden. Ihr wächst nicht zu, wie uns, die anschauende Einsicht in den Zusammenhang der Erscheinungen, das Gefühl für den Wert des Einzelwesens und die Pflicht der Gattung, die Kraft des Willens, nur zu erstreben, was im Sinne des Ganzen liegt. In stetem Kampf zwischen vorwärts dringender Einsicht und blindem Naturtrieb verzehrt sich ihre Kraft im Leide des einzelnen. Denn dieser muß sich dem Ganzen erst allmählich unterwerfen, während wir im Besitze des Allgefühls uns freuen, im einzelnen willig des Ganzen gewiß zu sein.

Wohl mögen die Menschen uns dauern. Und doch ist es auch ein Großes um solches Menschenleben. In Arbeit und Erkenntnis ringen sie sich empor, lernen allmählich sich zusammenzuschließen, bezwingen die Widerstände der getrennten Planetenzweige und gewinnen so die Natur auf dem Wege der Intelligenz. Sie haben eine technische Kultur. Und von hier aus lernen sie ihre Mutter verstehen. Wenn sie die eroberte wieder in ihre Arme schließen, wenn sie in der Pflanzenwelt den geschwisterlichen Zweig erkennen werden der emporsprießenden Planetenseele, so wird auch ihnen das Glück der harmonischen Einheit des Planeten aufgehen, während sie jetzt an wunderlichen Mythenbildungen herumdeuten und sich untereinander bestreiten und verfolgen. So dürfen wir die Menschen mehr bedauern als verachten. Auch ihre Kultur führt dem Ziele entgegen; einen andern Weg zur Einheit und zur Höhe gibt es nicht für sie. Sich ihrem Gefühle genießend zu überlassen, würde sie vernichten. Nur Arbeit bringt sie hinauf, wo wir spielend stehen. Idonen, wir sind geraten auf den Planeten der Mühe und der Not.«

Lis schwieg und Elsu ergriff das Wort.

»Ich sehe, liebe Freunde, es fällt euch schwer, so unglückliche Wesen euch vorzustellen, die sich ihrem Gefühle nicht genießend überlassen dürfen, weil ihnen dann das Gesetz des Dauernden als eine äußere Macht hemmend, ja vernichtend, gegenübertritt. Es ist dies die Folge ihrer Trennung von der schaffenden Einheit der Allseele. Nun erleben sie wohl in sich, jeder für sich, diese ewig rege, freie Gestaltung, sie nennen sie Phantasie. Aber das, was sie umgibt, was ihnen gegenübertritt als der immer neu zu gestaltende Stoff, das halten sie für ein äußeres Gebilde, worin erst die wahre Erfüllung ihres Lebens liege; sie nennen es Wirklichkeit. Und so zerreißt sich ihnen das Ganze des Daseins in zwei unversöhnliche Teile, in die innere Freiheit ihrer Phantasie und in die äußere Welt, die sich ihnen entgegenstellt. Keine Befriedigung stillt ihre Sehnsucht, wenn sie ihnen nicht erfüllt wird von dem Geschehen, das sie Wirklichkeit nennen, und die doch nichts anderes ist als die neue Aufgabe für ihre Phantasie. Sie verstehen nicht das Wort: »Leben ist Schein, und Schein ist Leben.« Einer ihrer großen Dichter nannte diesen Gegensatz das Ideal und das Leben. Er ahnte den Weg, wie Schein und Leben eins werden kann im schönen Gestalten. Die Menschen aber ringen nach diesem Leben jenseits des Scheins und zehren sich auf in schmerzvollem Entbehren eines gehofften Gutes, das stets vor ihren Organen zurückweicht, während sie es tatsächlich schon besitzen im Eigenspiel ihres Gehirns. Immer meinen sie, daß über ihren Vorstellungen, über dem Bewußtsein, als das sie die zentralen Reize ihres Individualleibes erleben, noch eine Wirklichkeit liege, die ihnen mehr geben könnte. So hasten sie sich ab in fruchtlosem Jagen nach Unerreichbarem. Denn wenn die eine Sehnsucht ihnen gestillt ist, so wird der neue Zustand wieder zu einer neuen Außenwelt. Nimmer verstehen sie, daß die echte Wirklichkeit und ihre Erfüllung nur im Eigenspiel der Vorstellungen liegt. Werden und Scheinen ist unser Wandel.

Wenn wir Idonen hinschweben durch den Farbenraum und es treten uns Erscheinungen entgegen, die uns anlocken und erfreuen oder ängstigen und bedrohen, so wenden auch wir unsre Aufmerksamkeit ihnen zu. Dann werden sie unsre Erwartungen erfüllen oder nicht; und wir werden das unsrige dazu tun nach besten Kräften, das Erwünschte zu erreichen, das Gefürchtete zu besiegen oder zu meiden. Soweit gleichen wir den Menschen. Wenn aber der Erfolg nicht eintritt, den wir erhofften, ja an den wir unser bestes Können zu setzen uns verpflichtet glauben, dann werden wir nicht klagen in schmerzlichem Unmut, nicht uns elend fühlen in ungestilltem Begehren, nicht gedemütigt in mißglücktem Tun, nicht verzweifeln im Leide. Denn in uns selbst schaffen wir jederzeit, was der Stoff der Umwelt versagt, aus dem unerschöpflichen Vorrat der Innenwelt, den das Erbe des Planeten in unsern Gehirnzellen angehäuft hat. Wenn die Freude uns lächelt im Reigen der Genossen, wenn das Problem sich löst, dem wir ernsthaft nachsannen, wenn der Flug uns gelang zu nützlicher Tat, wenn der Geliebte uns zärtlich entgegenschwebt, wenn die Idonen rühmen unser Verdienst um Gutes und Schönes, dann beglückt uns die Stunde wie Göttergeschenk. Aber stört uns der stürmische Tag, zerrinnt die Mühe des Denkens fruchtlos, versäumen wir das Ziel, verschmäht uns der Freund und verkennt uns die Zeit, nicht werden wir klagen und zürnen. Denn Leben ist Schein. Sofort baut den Ersatz unser Gemüt freier und höher uns auf. Entschwunden ist, was uns antrieb, oder wir sehen uns am erreichten Ziel im Siege der Phantasie. Klar strahlen Planet und Sonne in unsrer Seele, in schönem Wahne krönt uns der Erfolg, umarmt uns die Liebe. Nicht minder lebhaft ist irgend ein Sinn erregt, nicht weniger kräftig Empfindung und Gefühl, wenn wir selbst auf dem Instrumente spielen, das sonst nur vom Zufall der äußern Begegnung erregt wird. Tiefer und heiliger scheint uns die Wirklichkeit, die aus uns selbst heraussteigt, als jene, die der Hilfe der Umwelt bedarf. Denn die Tat der eignen Phantasie ist die Gabe vom Seelenerbe unsres Stammes, ist Eigenbesitz; jene scheinbare Wirklichkeit aber ist nur gefundenes Gut wie Spielgewinst, wie Gabe des Glücksgottes. Und also sind wir die seligen Kinder des Planeten.

Die Menschen aber haben ihr Erbe verloren, sie müssen es erst wieder gewinnen durch Leid und Mühsal. So mögen wir sie bemitleiden, die Mühseligen. Wir wollen sie nicht stören in ihrem bedauernswerten Leben; denn was wir ihnen antun, das können sie nicht dichtend abstreifen wie wir das Mißgeschick. Lassen wir ihnen ihren Planeten der Not und des Leides.«

»Seid froh,« sagte Telu, eines der Mitglieder der Expedition, »daß ihr nicht den Jammer gesehen habt, der über diesem Erdgeschlechte liegt. Denn furchtbar ist das Los derer, die ihresgleichen zur Welt bringen, die immer wieder sorgen müssen für den unvollkommenen hilflosen Anfang ihrer Gattung und mit ihm durchleben alle Kläglichkeit und Not der überwundenen Entwicklung. Denn nicht wachsen ihnen die Nachkommen gesegnet aus der alten Bodenkraft, sondern ihre Frauen gebären lebendige Kinder. Es ist wirklich wahr, was die Pflanzen euch erzählten. Was aber sollen wir sagen zu diesen unseligen Geschöpfen? Wie können sie je des freien Scheins teilhaftig werden und der Blüte des Lebens im seligen Spiel der Liebe, wenn die furchtbare Verantwortung für die Organe des Planeten über der zartesten Regung ihrer Seele liegt, über der holdesten Wonne ihrer Tage? Weil sie niemals ledig sind der Sorge um das kommende Geschlecht, die uns die pflanzliche Generation abnimmt, so erreichen sie nie die Höhenstufe der Freiheit, im Bewußtsein und Wollen reiner Neigung die einzelnen zu wählen, deren Seelen und Körper zusammenstimmen. Ihre unglückliche organische Entwicklung hat die Liebe, den Gipfel der Weltseligkeit, zum Schauplatze des furchtbarsten Konfliktes gemacht zwischen dem Rechte des Individuums auf Genuß und der Gattung auf Erhaltung. Dauernd bedroht den rosigen Schimmer des Lebensfrühlings die tragische Nacht der Entsagung. Zahllose Schwierigkeiten äußerer Not und innerer Entbehrung sind zu überwinden, ehe ihnen ein Zufall gewährt, was des Lebendigen höchstes Blütenrecht ist, und das reinste Glück wird ihnen zur lastenden Not des Daseins. Darum löst sich ihr Leben nicht auf in schönen Schein. Darum sehe ich nicht, wie diesem Erdengeschlecht Rettung kommen soll. Und darum frage ich, darf man überhaupt den Menschen wünschen, daß sie ihre unlösliche Sorge weiterschleppen sollen auf diesem Planeten der Mühe und der Not?«

Da erhob sich Lis und sprach:

»Dies, ihr Freunde, scheint mir der entscheidende Punkt. Niemals, so glaube ich, werden die Menschen den Fluch ihrer Entwicklungsgeschichte abwerfen, niemals werden sie durch Vernunft dazu gelangen, das Höchste zu vereinigen, was der Idonen heiliges Erbteil ist, Freiheit und Liebe. Dieser ganze Planet scheint mir ein verfehlter Versuch der Natur, ein Mißgriff des großen Sonnengeistes, zum mindesten ein verkrüppeltes Exemplar in dem Dauerreigen der Gestirne. Ein solcher Weltkörper hat kein Recht zu leben. Größere Vorteile vielleicht entstünden dem Sonnensystem, wenn er ausgemerzt würde, ich meine, wenn sein Leben vernichtet würde durch Abtötung seiner höchsten Organe. Besser schiene es mir für die Menschen, gar nicht zu leben, als ein so klägliches Bild nach Vernunft strebender Organismen dem ganzen Weltall zu bieten; besser für sie, im Bewußtlosen auszuscheiden aus dem Lebendigen, als in ihrer Unfähigkeit, die sie die Vollkraft der Hirnschöpfung zu nützen hindert, die Qual des Daseins hinzuschleppen ins Endlose. Wir sind auf diese Erde verschlagen worden als ein höheres Geschlecht von überlegenem Bewußtsein. So meine ich, wir sind bestimmt, diesem verfehlten Zustande des Planeten ein Ende zu bereiten. Ich beantrage, daß wir die Menschen vernichten.«

Ildu erwiderte sogleich:

»Sind wir hierher verschlagen, diesen Planeten zu bessern, so können wir unsere Bestimmung nur verstehen im Sinne des Idonentums als eine Tat der Rettung, nicht der Vernichtung. Dann mögen wir uns verbinden mit den höchsten Organen der Erde, mit den Menschen, ob ihnen durch unsre Hilfe, durch Rat und Lehre eine Kultur von innen, durch Neudichtung ihres ganzen Daseins, zu teil werden könne. Aber nach dem Bericht der Freunde, die draußen bei den Menschen waren, scheint mir dies unmöglich. Gret hat recht, daß der Weg der Erdbewohner ein andrer ist als der unsre. Wir können ihr Hirn nicht umgestalten, wir können auch nicht für sie denken. Unsre Invasion auf der Erde bedeutet, daß eine überlegene Kultur sich neben die der Menschen setzt. Aber das könnte diesen nur dann ein Glück bedeuten, wenn sie sich dazu erziehen ließen, in dieser Kultur zu leben. Was glaubt ihr wohl, wenn es überhaupt möglich ist, welche Zeit dazu nötig wäre? Welch zahllose Generationen von Menschen müßten auf einander folgen, bis die Energie ihrer Gehirne die Vollkraft gewänne, ihrer Eigenwelt eine Stärke zu geben, die dem Einflusse ihrer Umwelt gleich wäre? Nein, die Menschen haben eben auf ihre Weise begonnen, den Jugendfehler des Planeten zu verbessern durch Intelligenz, dabei müssen wir sie belassen. Die Stärkung der Phantasie würde sie jetzt nur verwirren. Den Weg ihrer Entwicklung aber durch Vernichtung einfach abzuschneiden, dazu haben wir kein Recht. Und wer sagt uns, liebe Freunde, daß wir dazu auch nur die Macht haben? Sollen wir jedem einzelnen suggerieren, daß er zu sterben wünsche? Dazu ist doch der organische Zusammenhang mit dem Leben des Planeten zu stark bei den Menschen. Denn was sie verloren haben, ist ja nur das Wissen um die Tatsache, daß ihr eigenes Bewußtsein vom Planeten selbst stammt und in ihm und in den Pflanzen in besondern Formen fortlebt. Den Zusammenhang des physischen Lebens selbst haben sie nicht verloren, den können wir ihnen auch nicht nehmen. Den verlorenen Zusammenhang des Bewußtseins aber können sie durch Erkenntnis wieder gewinnen. Darin mögen wir sie unterstützen.

Ich habe aber noch ein weiteres Bedenken, weshalb ich raten möchte, uns von aller Berührung mit den Menschen lieber zurückzuhalten. Das ist der Gedanke, daß wir selbst noch nicht genügend unterrichtet sind, ob es denn überhaupt möglich sein wird, unter den veränderten physischen Bedingungen, die dieser schwere Planet uns bietet, unser eignes Gedeihen auf der Erde durchzusetzen. Ihr wißt alle, daß wir so leicht und mühelos hier nicht leben, wie es als ererbte Erinnerung an die Existenz der Vorfahren auf dem Heimatsstern uns vorschwebt. Wir entbehren des direkten Beispiels und der Hilfe der früheren Generationen; alles, was wir bedürfen, müssen wir selbst uns schaffen. Vielleicht fehlt uns doch vieles, was das Gedächtnis des Keimes nicht mit herübergebracht hat, was uns nur durch die Lehren der Erfahrung am lebenden Geschlecht überliefert werden kann. Und wer sagt uns, wie unsre eigne Fortpflanzung sich hier gestaltet, wie die Stammutter Bio hier weiter zu gedeihen vermag, ob wir selbst wieder neue Pflanzen des Rankenbaums auszusäen vermögen?«

Ein nachdenkliches Schweigen lag auf der Versammlung. Dann begann Elsu:

»Was Ildu sprach, ist sehr ernsthaft zu erwägen. Wir sind schon viele Erdentage in diesem Lande. Wer von den Idonen hat sich vermählt? Wohl haben wir nicht danach zu fragen, aber wenn es geschehen wäre, hätten wir es doch wohl erfahren. Die Glücklichen würden ja doch von der Mutter Bio den Rankenschleier geholt haben. Aber noch sehen wir keine im Festgewande. Und wenn es geschieht, wissen wir denn, ob das Geheimnis des Schleiers in dieser Luft, in diesem Boden sich fortpflanzt? Nirgends fanden wir eine Pflanze hier, die unsern Müttern gleicht, nirgends bei den Menschen ist eine Kunde verbreitet von ähnlichem Wechsel der Generationen. Sind wir aber angewiesen allein auf die Sprossen unsrer ehrwürdigen Bio und ihrer Brutknospen, kann nicht Vermählung von Idonen neue Sporen zu Rankenbäumen erzeugen, dann muß unser Geschlecht bald entarten. Dann sind wir diejenigen, die zu weichen haben.«

»Das gibt den Ausschlag,« sagte Ildu entschieden. »Nicht der Menschen Geschick, sondern der Idonen Wohlfahrt und Würde kann allein maßgebend sein für unser Tun und Lassen. Und wenn es sich zeigt, daß uns die dauernde, kräftige Ausbreitung unsres Volkes auf diesem Planeten abgeschnitten ist, dann ist es nicht Idonenart, zu warten, bis Natur uns zwingt, den Erdgeborenen zu weichen. Stolz werden wir unsern Entschluß fassen, frei zurück zu treten von einer Stelle, wo unser Wirken und Gedeihen verkümmern muß. Ich bin die älteste hier, ich werde um mich schauen, und ihr alle, bis auf die Kinder der letzten Tage, könnt euch prüfen, ob wohl Gefährten sich zusammenfinden zu Seelenreigen und Frohgefühl. Wir wissen von den Pflanzen, daß die Zeit ihres Blühens hier noch mehrere Monde anhält. Aber schon eher werden wir wissen, ob unsre Wahl und unser Wunsch die Hoffnung der Idonen erfüllen wird. Wir müssen es eher wissen, weil wir unser Verhalten zu den Menschen davon abhängig machen wollen. Halten wir uns vorläufig zurück von ihnen! Doch da wir jetzt durch Zerebralstrahlung in ihnen lesen, ja mit ihnen verkehren können, so ist es nicht ausgeschlossen, sie weiter zu beobachten. Handle da jeder nach klugem Ermessen. Sobald es aus irgend einem Grunde wünschenswert scheint, möge er uns zur Versammlung laden an diesem Orte.«

Lis bat noch einmal um Gehör.

»Nicht mehr kann ich meinen Antrag aufrecht erhalten, gegen die Menschen vorzugehen, nachdem Ildu und Elsu unsre eigne Lage so überzeugend und sorgfältig geprüft haben. Keiner möge in andrer Wesen Wunsch und Wille eingreifen, solange die eigne Würde ihm einen Weg gestattet, Schwierigkeiten abzuhelfen. Solche Schwierigkeiten sind entstanden durch unsre Versetzung auf die Erde. Ich sehe jetzt ein, daß wir uns selbst Zurückhaltung aufzuerlegen haben. Wie aber auch unsrer späterer Entschluß ausfallen mag, in einer Hinsicht müssen wir uns schützen. Wir können uns als Idonen den Menschen entziehen. Unsere Pflanzengeneration und deren Sporenkapseln aber können es nicht. Menschen werden sie entdecken und werden Wege finden, wieder aufs neue Idonen in der Gefangenschaft aufwachsen zu lassen, vielleicht weit fort von hier, wo wir keine Macht haben, dies zu hindern. Dem dürfen wir unser Geschlecht nicht aussetzen.

Vielleicht finden wir einmal Orte, wo Menschen nicht hingelangen und Rankenbäume gedeihen können. Zunächst aber halte ich es für notwendig, daß wir keine weiteren Kapseln zur Entwicklung kommen lassen. Zeigt es sich später, daß wir auf der Erde aufhalten können, so sind wir schon Idonen genug, um dann unser Geschlecht zu vermehren. Zeigt es sich, daß wir alle weichen müssen, so wäre es sinnlos, die Zahl der Scheidenden noch zu vermehren. Unsre heiligen Mutterpflanzen selbst zu zerstören, wäre Frevel. Aber ihre Idonensprossen an der Entwicklung zu hindern, scheint mir Pflicht. Denn die Pflanze selbst kann den Trieb des Wachstums nicht hemmen; um Schaden zu vermeiden, muß die Vernunft eingreifen, und diese sind wir. Darum laßt uns überall die Sporenkapseln abschneiden und an einem geschützten Orte bestatten. Die Mutter Bio aber möge uns verzeihen.«

Noch längere Zeit berieten die Idonen hin und her. Dann einigten sie sich auf die Vorschläge, sich selbst zurückzuhalten, bis die Zukunftsfrage entschieden sei, die Sprossen der Mutterpflanzen aber zu beseitigen.

Mit dieser Tätigkeit waren sie noch beschäftigt, als Geo auf dem Wege von seinem Häuschen nach der Villa Kern unter der Buche rastete und dort Harda begegnete.


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