Kurd Laßwitz
Sternentau
Kurd Laßwitz

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Gestörte Nacht

Die großen Fenster in Hardas Zimmer standen weit offen. Durch die herabgelassenen Jalousien drang der würzige Odem der warmen Nacht. Er durchhauchte den Raum mit dem feinen Dufte der blühenden Gartensträucher.

Die brennende Lampe über dem Bett beleuchtete nur die nächste Umgebung, während der rosige Schimmer ihres Schirms alles Übrige in ein schwaches Dämmerlicht hüllte. Auf dem Teppich vor dem Bett lag ein Buch, aufgeschlagen, wie es herabgefallen war.

Es war jetzt still, ganz still im Hause. Man konnte das ferne Rauschen der Helle vernehmen.

Unhörbar öffnete sich die Tür und lautlos trat Harda herein. Das lange volle Haar hing aufgelöst über dem weißen Nachtgewand. Sie schloß und verriegelte die Tür und lauschte noch einmal ängstlich.

Als alles still blieb, ging sie langsam nach dem Bett zu und hob mechanisch das Buch auf. Sie setzte sich auf den Bettrand und hielt es in den Händen, aber ihre Augen starrten in die Ferne. So saß sie lange regungslos. Dann schauerte sie zusammen, sprang auf, schleuderte das Buch auf das Bett und drehte die Lampe aus. Im Dunkeln schritt sie auf den Diwan zu, der an der gegenüberliegenden Wand nahe am Fenster stand. Hier warf sie sich hin und hüllte sich in die Decke, mit der sie ein leises Schluchzen erstickte. Oh, sie hatte es ja gefürchtet – diese Nacht wird wieder eine von den schlimmen.

Sie war es geworden.

Als Harda mit Sigi vom Tennisspiel nach Hause kam, fand sie wieder Besuch vor, der ziemlich lange sitzen blieb. Nach dem Aufbruch der Gäste hatte sich die gesamte Familie sofort zurückgezogen. Ermüdet suchte Harda ihr Bett auf, und nur, um ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben, hatte sie ein Buch ergriffen, das naturwissenschaftliche Essais enthielt.

Sie hatte kaum zu lesen angefangen, als sie zusammenschrak.

Ein leises Wimmern ertönte, das in ein weinerliches Schluchzen überging – dann wieder aufs neue einsetzte. Es kam aus dem Nebenzimmer, dem Schlafzimmer von Tante Minna. Jedes der Zimmer besaß seinen eigenen Zugang vom Flure her, aber es klang durch die Verbindungstür, die allerdings verschlossen und durch eine Kommode versetzt war. Harda kannte das. Minna bekam einen ihrer nervösen Anfälle. Sie durfte dann nicht allein gelassen werden, sonst geriet sie in eine Aufregung, die das Äußerste befürchten ließ. Aber auch fremde Bedienung mochte man nicht zu Hilfe ziehen, denn Minna wußte dann nicht immer, was sie sprach, und in der höchsten Steigerung ihres Anfalls führte sie mitunter Reden, für die man fremde Ohren nicht brauchen konnte. So war Harda die einzige, der die Nachtwache zufiel. Sie litt unendlich unter diesem Jammer. Oft drohte ihre Kraft zu versagen; denn sie mußte immer auf den Gedankengang der Erkrankten eingehen, wenn sich die Wutausbrüche nicht steigern sollten.

Eilig sprang Harda empor und hatte nur Zeit, ihr Nachtkleid überzuwerfen, denn das Weinen im Nebenzimmer wurde lauter, und Harda fürchtete, daß Sigi es hören könne. Sie lief über den Flur in das Zimmer der Tante und suchte sie zu beruhigen.

Jetzt erst erfuhr sie durch Minnas rücksichtslose Anklagen, was den Anlaß zu den heutigen Aufregungen gegeben hatte. In ihrem eifersüchtigen Mißtrauen fürchtete Minna stets, daß Hermann auf seinen Geschäftsreisen Zusammenkünfte mit jener Dame habe, von der sie wußte, daß er einmal mit ihr in intimen Beziehungen gestanden hatte. Seine Versuche, sich von diesen Einflüssen zu befreien, hielt sie wohl nicht für ganz ernsthaft, jedenfalls schienen sie nicht erfolgreich.

Minna hatte am frühen Morgen, als sie sich in Hardas Abwesenheit an Hermanns Koffer zu tun machte, zum Unheil einen vielsagenden Brief gefunden, der sie äußerst erregte. Damit trieb sie dann Hermann in die Enge und quälte ihn bis zur Verzweiflung. Bald erklärte sie ihm ihre Verachtung, bald wieder drang sie auf Erfüllung seines Versprechens, sie zu heiraten. Alles dies brachte die Unglückliche jetzt unter Klagen und Zornausbrüchen Harda gegenüber aufs neue vor. Dabei verlor sie immermehr ihre Selbstbeherrschung. Zuletzt verstieg sie sich zu Vorwürfen gegen Harda, die den Vater in seinen Heimlichkeiten unterstütze, gegen sie intrigiere, ihre Rechte im Hause schmälere, nur den eigenen Vergnügungen nachjage, den Männern die Köpfe verdrehe – –

Harda kannte das schon, ja sie war froh, daß es so weit kam. Denn dann pflegte der Paroxysmus sich seinem Ende zu nahen.

Die Kranke wurde schwächer, und es gelang Harda, sie zu bewegen, daß sie das für diese Anfälle vom Arzte vorgeschriebene Mittel nahm. Dann endlich verfiel sie in Schlaf, und am andern Morgen wußte sie nur noch wenig davon, wie schrecklich die Nacht gewesen war.

Endlich, endlich gingen die Atemzüge ruhiger. Minna schlief.

Es waren drei Stunden vergangen, als Harda in ihr Zimmer zurückkehrte, wo sie sich jetzt auf den Diwan hingeworfen hatte.

Das Zimmer war nun völlig dunkel. Der Himmel hatte sich leicht umzogen, die Jalousien ließen nur einen so schwachen Schimmer ein, daß man gerade die Stelle erraten konnte, wo sich der weiße Kopf der Büste vor dem Efeu befand, ganz nahe zu Häupten Hardas.

Sie schloß die Augen, aber der Schlaf kam nicht, trotz ihrer Erschöpfung. Sie hatte noch nicht Zeit gefunden, ihre Gedanken zu ordnen. Ja, wenn das ginge!

Freiheit, Freiheit! Das häusliche Elend, das sie vor jedermann verbergen mußte! Diese Angst, daß es zu einem Unglück kommt! Diese furchtbaren Nächte! Der arme Vater, die bemitleidenswerte Tante! Und die stete Unruhe, die Unregelmäßigkeit des Lebens, die der große Haushalt und die fortwährende geschäftliche Repräsentation mit sich brachten!

Freilich, während sie in diesem geselligen Leben schwamm, bei Besuchen und Festen, Tanz und Spiel, da war sie mit dem vollen Genuß der Jugend dabei, da war sie lustig und übermütig, sie wollte es sein. Aber sie wußte auch, warum. Vergessen, vergessen! Das alles war ja nur ein Betäubungsmittel, um sich der Gedanken an den eignen Zustand zu entschlagen. Eine stille Beschaulichkeit lag ihrem Wesen näher, eine Betrachtung der Dinge, eine Teilnahme am Geheimnis und am großen Gesetze der Natur. Deshalb sehnte sie sich danach, sich einem Studium in dieser Richtung zu widmen. Gewiß, sie interessierte sich sehr für die Hellbornwerke, für die umsichtige, rastlose Tätigkeit des Vaters. Hier zog sie das eigentlich Technische an, das Gelingen, das in diesem großen Organismus des industriellen Schaffens lag, und es wurde ihr verklärt durch die Verehrung für den geliebten Vater, dessen eigenstes Werk sie darin sah. Denn die Hellbornwerke waren nicht ursprünglich mit dem Millionenkapital gegründet, das sie jetzt repräsentierten, sondern aus ein paar Sägemühlen im Tale der Helle war durch Kerns Energie die blühende chemische Fabrik entstanden, die jetzt keine Schwierigkeit mehr fand, über große Geldmittel zu verfügen.

Als Harda mit dem Reifezeugnis des Realgymnasiums zurückkam, hatte sie gedacht, bald eine Universität beziehen zu können. Aber die Verhältnisse, die sie vorfand, hielten sie nun schon über ein Jahr hier fest. Sie hatte sich ihnen schnell gewachsen gezeigt; nur zu dem stillen Genusse ihrer Seele kam sie überhaupt nicht mehr. Bis jetzt hatte sie sich dem Vater zu Liebe in Geduld gefaßt, immer in der Hoffnung, daß bald, bald doch die Tante den nunmehr erwachsenen Töchtern das Haus räumen würde.

Seit heute wußte sie, daß sie darauf nicht rechnen dürfe. Die Tante ging nicht. Bleiben konnte es so nicht. Aber zugleich hatte sie erkannt, daß auch ihr der Weg verschlossen war, das Haus zu verlassen.

Äußerlich hätte sie ja nichts gehindert. Im letzten Winter war sie mündig geworden. Sie besaß von ihrem Großvater mütterlicherseits ein ausreichendes Vermögen, um selbständig leben zu können, wenn auch in bescheidener Weise. Freilich war sie verwöhnt, aber doch erst in den letzten Jahren, und sie wußte sehr wohl von früher her, wie einfach man bestehen kann. Auch hätte der Vater nie einen äußeren Zwang auf sie ausgeübt, und der Rat und die Fürsorge von ihrem Paten Solves, schlechthin Onkel Geo genannt, war ihr sicher. Sie konnte morgen abreisen.

Konnte! Ja, konnte! Das war das dumme vieldeutige Wort! Sie konnte eben nicht, weil sie nicht durfte. Ein inneres Gesetz hinderte sie, eine Pflicht.

Der Vater bat nicht nur, er brauchte sie wirklich. Seine Tätigkeit für die Hellbornwerke war aufs engste mit dem Bestande seiner Häuslichkeit verknüpft. Seine rastlose Tätigkeit war nur möglich, wenn er daheim stets die Erholung zu kurzem Aufatmen fand und zugleich ein gastliches Haus, das zu jeder Stunde unerwarteten Besuchern, wichtigen und anspruchsvollen Geschäftsfreunden offenstand. Tante Minna leistete darin allerdings Außerordentliches. Sie war in Gesellschaft in höchstem Grade liebenswürdig und anregend, sie bildete einen gesuchten Mittelpunkt des Verkehrs und der gemeinnützigen Tätigkeit. Aber niemand hatte eine Ahnung von den Schwierigkeiten, unter denen dieser Schein des Behagens aufrecht erhalten wurde. Und daß dies möglich war, daß dies so blieb, das konnte allein Harda bewirken, Hardas Aufopferung.

So sollte sie denn unlösbar gebunden sein? War es nicht des Vaters Pflicht, das zu tragen, was er verschuldet hatte, die Folgen seines Leichtsinns auf sich zu nehmen? Mochte er doch die Tante heiraten! Dann würde sie gewiß wieder ruhig, vernünftig und gesund werden. Dann fand das Haus seine natürliche Repräsentation. Dazu den Vater zu bestimmen, sollte jetzt ihre Aufgabe sein. Dann konnte auch sie getrost auf die Universität gehen – –

Aber Sigi! Sigi – nein, nein – ihr konnte sie nicht zumuten, sich in diese neuen Zustände zu fügen, die sicher zu schwierigen Konflikten führen würden. Sigi sollte nicht darunter im Genusse ihrer Jugend leiden oder sich aus dem Hause getrieben fühlen. Um ihretwillen hatte sie ja jetzt alle Sorge und Qual allein getragen. Sigi bedurfte ihrer. Sie konnte nicht fort.

Und es mußte doch einen Weg geben! Wann konnte eine Pflicht gelöst werden? Konnte sie es? Ja, gewiß, aber nur durch eine höhere Pflicht. Und wo gab es eine solche? Die Pflicht gegen sich selbst? Sich selbst zu erhalten, sich den Lebensberuf, die Tätigkeit zu wählen, die allein ihrem Wesen gemäß schien, das Studium? Genügte das nicht?

Harda war nicht sicher, ob das ausreiche. Ihr Gefühl sprach dagegen. Es handelte sich dabei doch nur um ihr eigenes Wohl und Wehe, es lag etwas Egoistisches darin. Ja, wenn noch eine weitere Rücksicht mitspielte, nicht allein auf sich, auf jemand, der nicht geringeres Recht hatte als die Schwester? Wenn sie nun heiratete? Das war doch das Natürliche in ihrem Alter. Ja, das fühlte sie, wenn sie liebte und geliebt wurde, dann würde sie nicht zögern – – Und doch, wie konnte sie dem, der sie liebte, das gestehn, was sie von ihrem Hause zu verbergen hatte? Das schien ihr unmöglich – Aber wozu auch darüber grübeln? Der Fall lag ja gar nicht vor, sie liebte nicht – – Sie wollte darüber nicht nachdenken.

Und trotz alledem, der Gedanke verließ sie nicht. Fort wollte sie. Da war doch wohl nur der eine Ausweg – heiraten. Wenn sie wollte, Anträge konnte sie genug haben. Aber – konnte sie wollen? Wen denn? Sollte sie sich das wirklich überlegen?

Eigentlich war ihr die Frage in der letzten Zeit sehr stark entgegengetreten. Den niedlichen Ingeling und auch den stattlichen Elzer hatte sie beizeiten abfallen lassen, als sie ihr Geständnisse zu machen begannen. Randsberg? Sie lächelte nur, wenn sie an ihn dachte; das hatte sie noch nie bekümmert.

Aber es gab eine ernstere Frage, die sie nicht gern in Erwägung zog – sie fürchtete sich davor. Und doch wurde sie wahrscheinlich sehr bald vor die Entscheidung gestellt. Gestern abend – es war gar nicht mißzuverstehen. Eigentlich mochte sie ihn gern, den Kommerzienrat. Er war ihr sehr sympathisch, obwohl er reichlich fünfundzwanzig Jahre älter als sie war. Aber sie hatte überhaupt eine Vorliebe für ältere Herren. Und Frickhoff war trotz seines leicht ergrauten Haares eine glänzende Erscheinung, groß und kräftig, mit vornehmer Haltung, hoher Stirn, elegantem Bart und lebhaften Augen. Und er schwärmte für sie; immer rücksichtsvoll und zartfühlend machte er doch keinen Hehl aus seiner aufrichtigen Zuneigung. Sie wußte das ganz genau, daß er nichts Sehnlicheres wünschte, als sie in seine prächtige Villa im Gebirge zu führen und in sein glänzendes Haus in der Hauptstadt.

Frickhoff war der einflußreichste unter den Aufsichtsräten der Hellbornwerke. Durch seinen Reichtum und seine Verbindungen in der Finanzwelt war er von der größten Wichtigkeit für das Unternehmen. Niemals hatte Harda mit ihrem Vater anders als in harmlosen Neckereien über Frickhoffs Liebenswürdigkeiten gesprochen; dennoch wußte sie, daß er glücklich sein würde, wenn sie durch ihre Vermählung diese Verbindung festigte. Aber immer hatte sie mit instinktivem Takte Frickhoff in der Stellung des väterlichen Freundes gehalten, so daß er bis jetzt nicht gewagt hatte, sich direkt auszusprechen. Trotzdem konnte sie jeden Tag, wenn sie wollte, eine Entscheidung herbeiführen; nur hatte sie bisher im Ernst gar nicht daran gedacht, es zu wollen. Natürlich war ihr manchmal der Gedanke aufgestiegen, es war auch gar kein so übler Gedanke, über die Frickhoff'schen Millionen zu verfügen, und sie wußte von so mancher, die ihn sehr bestrickend fand – aber ihr flößte der Altersunterschied Bedenken ein, und vor allem, sie wollte noch gar nicht heiraten, sie wollte noch jung sein und – sie hatte so ihre Ideale – – Er war ja stattlich, ritterlich, gütig, klug und wohl auch ehrlich und zuverlässig, indessen, er war doch ganz und gar Geschäftsmann. Und wenn sie ihn heiratete, gewann sie denn dann, was sie suchte? Er sprach von Freiheit, nun ja, aber das konnte doch nicht die Freiheit werden, die sie sich erträumte. Aus diesem Hause kam sie wohl heraus, aber nicht aus der Unruhe, aus dem Kreise des großindustriellen Getriebes, aus der Hast des Geschäftslebens und den Pflichten ausgedehntester Geselligkeit – denn den Pflichten ihrer Stellung wollte sie sich nicht entziehen, um irgendwo ihren Privatneigungen zu leben – an ihr Studium würde also dann auch nicht zu denken sein. Nein, sie wollte nicht das große Leben, sie wollte – wenn sie überhaupt heiratete, so sollte es jemand sein, dessen Arbeitskreis und dessen Neigungen mit dem übereinstimmten, was ihre stille Freude war –

Warum hatte sich denn eigentlich der Doktor Eynitz gar nicht mehr sehen lassen? War sie mit der Einladung etwas voreilig gewesen? Wenn sie ihn nicht zufällig getroffen hätte, wäre wohl die Aufforderung unterblieben. Immerhin, er hätte doch seinen Besuch machen müssen. Daß er bei der flüchtigen Begegnung am Maschinenhause sich nicht aufhalten konnte, war ja selbstverständlich. Vielleicht hatte er auch noch gar nichts über den Sternentau mitzuteilen.

Warum fiel ihr das überhaupt jetzt ein? Diese Unterhaltung unter der Buche am Riesengrab! Ach ja, das war einmal so etwas anderes, das war ein sich Erschließen, sich Verstehen in einem Gemeinsamen, in dem Ganzen, Großen, Göttlichen des Lebens, wo die Rätsel wunschlos sind, im Frieden der Natur und Seele. Es war fast wie das Liebste und Schönste, das sie kannte, wie ein Sprechen und Schauen, ein Wandern und Fühlen mit ihm, mit dem besten, dem teuersten Freunde.

Sie öffnete die müden Augen und suchte die Dunkelheit zu durchdringen. Ganz nahe, in der Ecke vor ihr, schimmerte der weiße Marmor. Die Züge konnte sie nicht erkennen, aber die sah sie ja vor sich, wenn sie wollte. Du Lieber, Guter! Dich habe ich ja immer – was würdest du mir sagen, wenn ich dich fragte? Warum frage ich dich nicht? Noch ist die Zeit nicht gekommen. Ich weiß, was du sagen würdest: »Wage zu denken, vertraue dir selbst!« Ja, das will ich. Aber wenn ich nicht weiter weiß, dann wirst du mir das Rechte sagen – darauf will ich warten. Ich habe ja dich!

Noch einmal suchte ihr Blick die Büste. Doch was war das?

Dort in der Ecke, unter dem Laube des dichten Efeus, wo sie wußte, daß sich die Sporenbecher des Sternentaus weiter entwickelt hatten, dort glimmten zwei mattleuchtende Flecke, einer deutlich hellblau, der andere etwas dunkler. Und wirklich, was jetzt sichtbar wurde, waren zwei der Glöckchen, bei denen Harda schon am Tage ein stärkeres Hervordringen der silbernen Fädchen beobachtet hatte. Sie befanden sich ganz nahe an Hardas Platze; wenn sie sich aufgerichtet und vorgebeugt hätte, konnten ihre Finger sie berühren.

Jetzt bemerkte sie deutlich, daß sich die silberglänzenden Fäden kranzförmig hervorwölbten; von ihnen ging das Licht aus, das die blauen Kelche farbig sichtbar machte. Die ganze Erscheinung war in unverkennbarer Bewegung; die Entwicklung schritt merklich fort. Wie eine von feinsten Fäden gesponnene Krone wölbte sich eine Kuppel über dem Kelche und wurde zusehends größer.

Harda wollte aufspringen, Licht machen, näher hinblicken, nur fürchtete sie, etwas an der merkwürdigen Erscheinung zu versäumen. Doch sie hatte ja einen Einschalter unmittelbar zur Hand, da brannte die Wandbeleuchtung – so – es wurde hell. Die blauen Kelche blickten unter dem Efeu hervor, die Blätter waren auseinandergedrängt, aber die leuchtenden Fäden und die glänzenden Perlen im Innern waren überhaupt verschwunden, es war nichts weiter zu sehen. Sie drehte das Licht ab, und die Erscheinung war wieder vorhanden. Offenbar war die Bildung so fein und durchsichtig, daß sie nur im Dunkeln durch ihr Eigenlicht sichtbar wurde.

Harda streckte die Hand aus, zog sie jedoch wieder zurück, sie fürchtete durch ihre Berührung den offenbar äußerst zarten Prozeß zu schädigen. Und jetzt klopfte ihr das Herz, als sie sah, was weiter geschah.

Aus den Kelchen stieg es wie ein leichter, kaum sichtbarer, weißlicher Nebel; wie ein schwach schimmerndes Wölkchen zog es hervor, ohne bestimmte Gestalt zunächst. Nun aber wuchs es allmählich zu länglich runder Form und gliederte sich beweglich, schleierverhüllt. Die Erscheinung zeigte sich bei beiden Blüten, nur bei der dunkelblauen etwas später, so daß Harda die aufeinander folgenden Stufen wohl vergleichen konnte. Doch waren eben nur Umrisse wahrnehmbar.

Und nun – ist es möglich – die leichten Gestalten lösen sich ab von den Kapseln und frei, in sanfter Bewegung, schweben sie durch die Luft. Und während sie so dahingleiten, streckt es sich aus ihnen hervor wie zierliche Arme, die das feine Fadengespinst der Hülle abstreifen, und es zeigen sich kleine, fast menschenartige Figuren. Sie ergreifen das abgestreifte Gespinst, ziehen es auseinander und werfen es in neuer Form um sich wie einen Schleier. So anmutig schwebend ziehen sie im Zimmer umher, langsam, hierhin und dorthin, als wollten sie sich in dem unbekannten Raum orientieren.

Ihre Gestalt war durch den phosphoreszierenden Schleier so verhüllt, daß sie nicht deutlich erkennbar war. Wie gebannt folgten Hardas Augen ihren Bewegungen – gab es wirklich einen Reigen der Blumenelfen in der Nacht? Stiegen solche ätherische Wesen aus den Sporenkapseln des Sternentaus? Was würde Eynitz dazu sagen? Aber – jetzt werden die Elfen größer – nein, die Dunkelheit täuscht nur – sie schweben gerade auf Harda zu! Sie will aufspringen, sie kann es nicht; doch ihr ist gar nicht ängstlich zumute, nein – wie ein sanfter, wohltätiger, kühler Hauch geht es von den fremden Wesen aus – sie fühlt sich so ruhig, so still – die Augen fallen ihr zu – –

Und die Elfen schweben weiter und lassen sich auf das Haupt des Mädchens nieder, dort ruhen sie in der weichen, elastischen Seide des Haares. Sie reden zu einander in einer Sprache, die von Menschen nirgends gesprochen wird, und doch, was sie sagen, bebt nach im Gehirn der Schlummernden und wirkt darin Gedanken nach Menschenart. Stimmen des Waldes glaubt sie zu vernehmen, und unbekannte Welten öffnen geheimnisvolle Pforten vor großleuchtenden Augen. Des Tages Hast und Unruhe sinkt hinab ins Reich des Überwundenen, und freundliche Hoffnungen steigen siegreich empor.


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